- Kapitel 21 - Ein schweres Foto
Nun gut, sie war mit einer potentiellen wilden und unberechenbaren Bestie unterwegs, die nicht die geringste Aufregung verspürte wenn er sie töten würde. Kein Grund zur Panik! Und obwohl sich Igni seit dem Morgen verdächtig ruhig verhalten hatte und nun alles wieder so schien wie zuvor, fühlte Nell sich unwohl, wenn er hinter ihr lief. Sie konnte seine Schritte kaum hören, aber sie wusste er war da. Als wäre eine schwache Hitze von seiner Anwesenheit ausgehen, die ihren Hinterkopf mit jedem Schritt verbrannte. Nell hatte außerdem das Gefühl er starrte sie an, fühlte seine Augen im Rücken, aber sie wollte sich nicht umdrehen um nachzusehen. Es hätte ihm gezeigt wie unsicher sie plötzlich geworden war. Und wie verletzlich sie eigentlich war im Gegensatz zu ihm. Nein, sie musste professionell bleiben und wenigtens so tun, als hätte sie noch immer alles unter Kontrolle, als würde sie seine kleine Machtdemonstration mit dem Diktiergerät überhaupt nicht stören. Wie ein Welpe, der das erste Mal von der Leine gelassen wurde und sich nun austestete. Der Besitzer musste dann streng bleiben und die Regeln einhalten, die aufgestellt wurden, und das musste Nell auch. Zur Not, wenn alles andere nicht half, würde sie hart durchgreifen müssen...
Es ging einmal mehr Berg auf. Und oben auf dem Plateau sollte das Dorf sein, das sie suchte. Ein beschwerlicher Weg, der sie schon den ganzen Vormittag gekostet hatte. Und die Luft wurde immer dünner. Nell biss sich durch, obwohl ihr Keuchen kaum zu überhören war und ihr Herz in ihrer Brust raste. Mit jedem Schritt wurde es anstrengender den zweiten zu machen. Bald schon musste sie sich von Bäumen abstoßen, um Kraft aufzuwenden. Und ihre Beine brannten. Irgendwann, sie hatten gerade die Baumgrenze erreicht, der Bach nunmehr ein kleines Rinnsal unweit westlich von ihr, blieb sie stehen und japste nach Luft. „Lass uns... eine Pause einlegen.", schaffte sie es zu sagen zwischen zwei Atemzügen und ließ sich an Ort und Stelle nieder plumpsen. Sie merkte schmerzlich wie überstürzt sie aufgebrochen war. Sie hatte zuvor kein Training besucht oder war darauf vorbereitet, dass nördlich der Stadt eine Bergkette begann, die den sanfter auslaufenden Norden mit den Inseln abtrennte. Hastig trank sie aus ihrer Flasche und wischte sich mit dem Ärmel ihres Schirts den Schweiß vom Gesicht. Igni setzte sich nicht, er wirkte auch nicht außer Atem, er stand einfach da und schwieg. Nell fröstelte als sie ihn so betrachtete.
Da richtete sich sein Blick unvermittelt auf sie und musterte sie seinerseits eingehend. Sein Blick war wie immer undurchdringlich. Noch vor einem Tag hätte Nell diesen Gesichtsausdruck als schweigsame, aber friedliche Gleichgültigkeit gedeutet, aber nun ahnte sie, dass da mehr hinter steckte als sie dachte. Was er wohl gerade dachte?
Da kam er auf sie zu. Nell zuckte instinktiv zurück und zog die Beine halb im Aufstehen an. Aber seine Hand streckte sich nicht nach ihr aus. Er griff nach etwas neben ihr und hielt es ihr dann hin. „Verloren", stieß Igni hervor. Nell konnte im ersten Augenblick nicht erkennen was es war, so im Schreck gefangen. Aber dann schäfte sich ihr Blick allmählich wieder. Ein Foto. DAS Foto. Sie musste es beim herausziehen der Flasche verloren haben.
Barsch griff sie danach und wollte es so schnell wie möglich wieder in ihren Rucksack stopfen. Obwohl sie es seit Wochen, nein, mittlerweile waren es sogar Monate, mit sich herum schleppte vermied sie es rauf zu schauten. Sie hatte es schon oft genug angeschaut, kannte jede Zahl darauf. Und obwohl Nell das Foto kaum mit den Augen gestreift hatte und es schon im nächsten Moment in der Dunkelheit ihres Rucksacks verschwunden war, sammelten sich Tränen in ihren Augen. „Ach scheiße...", grummelte sie genervt von sich selbst und versuchte sich die Tränen mit dem Handrücken wegzureiben, bevor sie fließen konnten. Nell wusste nicht mal richtig was los war. Wie konnte ein Foto sowas in ihr auslösen? Igni schien auch verwirrt. Zum ersten Mal zeigte er sowas wie eine Emotion, aber Nell sah nicht einmal hin, um es zu bemerken.
Er ging vor ihr in die Hocke und musterte ihr Gesicht. Nell verwunderte seine Verwirrung nicht, er hatte noch nie jemanden weinen sehen. Die Wissenschaftler und Betreuer die ihn sonst umgaben ging immer neutral ihrer Arbeit nach, sie weinten nicht vor den Drachen oder zeigten Wut, nicht mal starke Freunde sollte ihm ein Begriff sein. Jede stärkere Emotion war in den Sondereinrichtungen des Verteidigungsministeriums wo sie die Drachen aufbewahrten verboten.
„Es geht schon wieder.", räusperte sich Nell und rieb sich noch einmal die Augen trocken. Da spürte sie Ignis Hand, wie er die Feuchtigkeit ihrer ungeweinten Tränen auf ihrem Handrücken verstrich. Seine Hände waren groß gegen ihre, und doch war seine Berührung sanft, beinahe tröstlich. „Dein Baby?", fragte er leise und blickte von ihrem Handrücken wieder in ihre Augen. Es wusste also, was da auf dem Foto zu sehen war. Woher auch immer er Ultraschallbilder kannte. Nell begann unglücklich zu lächeln und nickte schwach, da zog es ihre Mundwinkel schon wieder herab. Darüber zu reden war das letzte was sie jetzt wollte. Es war nur ein halbes Jahr her und sie tat gut daran diese Geschichte einfach irgendwo in sich zu vergraben wo sie nicht wehtat. Igni jedoch war noch immer verwirrt und betrachtete sie mit offenen Fragen. Ohne Eile ergriff er ihre Hand und führte sie vorsichtig zu seinem Gesicht. „Nicht schwanger.", murmelte er nachdem er über ihrem Handgelenk die Luft eingesogen und sich scheinbar kurz auf ihren Geruch konzentriert hatte. Nell schüttelte seine Berührung ab und stand auf. „Ich weiß." Nells Ton war hart und ihre Worte etwas zu schnell. „Du solltest auch noch etwas trinken bevor wir weitergehen. Noch eine Pause ist eigentlich nicht vorgesehen.", fügte sie in einem etwas milderen Tonfall hinzu, trank selbst noch ein paar Schlucke und wandte sich um zum Weitergehen. Es wirkte wie eine Flucht. Und vielleicht flüchtete sie ja tatsächlich vor dem Gespräch, was Igni anscheinend bereit war zu führen. Dabei ging es ihn nichts an. Das war eine private Sache, die hier auf der Arbeit und bei einer wissenschaftlichen Expedition nichts zu suchen hatte. Natürlich wusste Nell, dass sie sich mit derlei Ausreden nur selbst eine Zuflucht suchte, nicht darüber zu reden. Sie war noch nicht bereit dazu, vor niemandem, aber vor Igni erst recht nicht. Was verstand ein Drache schon von ihren menschlichen Problemen?
Sobald sie aber diesen Gedanken in ihrem Kopf geformte hatte, schallte sie sich dafür. War nicht genau das das Problem in der Kommunikation zwischen Menschen und Drachen? Der Zweifel am gegenseitigen Verständnis? Wofür war sie auf dieser Expedition, wenn nicht genau wegen diesen Gedanken? Nell zog die Brauen zusammen und ging voran, Igni folgte ihr auf den Fuß.
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