- Kapitel 15 - Das Feuer des Drachen
Nell kletterte den zerklüfteten Vorsprung des Baches hoch, den sie und Igni nun schon seit einigen Stunden folgten. Er furchte sich immer weiter in die Landschaft und lag nunmehr im Tal begrünter Berge. Aus dem plätschernden Rinnsal war zunächst ein kiesiger Bach und hier oben ein kleiner Fluss geworden mit einer nicht zu unterschätzenden Strömung. Nell wischte sich das vor Anstrengung hochrote Gesicht ab und ließ sich auf einem Holzstamm nieder, der an das Ufer gespült worden war. „Okay, also nach GPS sind wir auf Kurs. Wenn wir weiter dem Fluss folgen, sollten wir das Dorf erreichen. Für heute sollten wir allerdings hier unser Lager aufschlagen. Wir haben das Clangebiet noch nicht betreten, deshalb sind keine Begegnungen zu erwarten. Das heißt gelbe Sicherheitsstufe.", sagte sie mehr zu sich selbst als zu ihrem stummen Begleiter, der weder von der Anstrengung noch sonst irgendwie beeinflusst schien. Gut, dass Nell ihn für die Geländemission ausgewählt hatte. Wenn sie nicht mehr konnte oder der Weg zu unwegsam wurde konnte sie sich von ihm über die schlimmsten Abschnitte tragen lassen.
Gesagt, getan. Nell stellte ein Zelt für sich und ihr Equipment auf und schickte Igni los um Feuerholz zu holen. Er würde hier draußen schlafen, unter freiem Himmel. Ins Zelt würde er ohnehin nicht passen und die Witterung schien ihm nicht viel auszumachen, deshalb hielt Nell es für das beste.
Während der Drache weg war zog sie Jacke und Stiefel aus und trat zum Wasser um sich frisches Nass ins Gesicht zu spritzen. Es tat gut. Das Wasser war kühl, um nicht zu sagen kalt es schien direkt aus den Bergen zu kommen, aus irgendeiner Quelle. Sie kostete es noch einen Moment aus, füllte ihre Wasserreserven wieder nach und ging dann zurück zum Lager. Aus der Tasche ihrer Hose zog sie das Tablet und sah, dass alles in bester Ordnung war. Igni tat der Ausflug bisher unerwartet gut. Alle seine Werte leuchteten grün und waren in einem guten bis sehr guten Bereich. Sie wollte es gerade weglegen, als sie sah, wie mit einem Mal doch einer der Werte gelb wurde. Nell hielt es sich wieder vor. Sein Puls war beschleunigt. 80 Schläge in der Minute. Eigentlich lag ihre Frequenz immer etwas unterhalb der Menschen bei 50 oder 55 Schlägen. Nell sah zum Wald und überlegte, ob sie ihn zu sich rufen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er war noch nicht weit weg, das Signal seines Chips war stark. Also bestand kein Grund zur Sorge.
Nell legte das Tablet weg und schaute in ihren Rucksack. Einige Essenrationen, Karten, Schreibmaterial, ihre Reiseapotheke und... ein abgegriffenes, speckiges Taschenbuch. Genau das zog sie heraus und betrachtete den schon oft gesehenen Einband: Balrim's Tagebücher Bd. 5-10. Den hatte Nell damals mit zehn Jahren von ihrem Vater geschenkt bekommen und trug ihn noch immer bei sich, auch wenn sie viele Jahre nicht hatte wertschätzen können, was das war. Balrim's Tagebücher waren die - in diesem Fall übersetzten - Aufzeichnungen eines jungen Forschers namens Balrim Zinn, der zur Zeit der ersten Drachenkriege lebte. Seine Methoden waren für heutige Forscher mehr als unorthodox, aber mit deinen Beobachtungen über die ersten Drachen legte er den Grundstein für die weitere Erforschung der Drachen bis zum jetzigen Tag. Nell las gerne seine Bücher, die tatsächlich eher wie Tagebücher, denn wie Forschungsberichte geschrieben waren und besah sich die Zeichnungen, die er damals gemacht hatte.
Igni kam wieder, einen Stapel Holz im Arm, den er vor der vorbereiteten Feuerstelle ablegte. „Sehr gut, das dürfte für heute Abend ausreichen. Hier!", sagte sie und reichte ihm ein Feuerzeug mit dem er das Holz entzünden konnte. Er nahm es entgegen und blieb regungslos, starrte auf das Holz zu seinen Füßen. Nell beobachtete ihn. „Stimmt irgendwas nicht? Du hast gestern doch schon gesehen wie ich es gemacht habe. Vom kleinen Holz zum großen. Und nicht zu fest, damit das Feuer atmen kann. Dann nimmst du dir einen Anzünder - diesen hier - und schiebst ihn in die Mitte der Äste.", erklärte sie ihm gestikulierend, wie einem Kind. Er sah sie ausdruckslos an. Hatte er nicht verstanden? Nell legte die Stirn in Falten und stand auf, um es ihm zu zeigen. Doch als sie das Holz berührt, merkte sie das es schwer, kalt und glatt war. Es war nass. Natürlich würde es sich so nicht entzünden. Igni hatte das bemerkt, wie intelligent von ihm. „Na gut, macht nichts. Dann eben kein Feuer.", sagte Nell und nahm das Feuerzeug wieder zurück. Dann würde sie sich die Essensration eben kalt einverleiben. Was war schon eine Feldmission ohne Probleme. Sie wollte gerade die Ration aus ihrem Rucksack holen, da geschahen mehrere Dinge gleichzeitig, die ihr jeden Wind aus den Segeln nahm. Zunächst erhellte sich etwas hinter ihr, dass sie für einen Sekundenbruchteil nur ihren eigenen Schatten auf dem Kies sah, ehe sie auch die Hitze spürte. Die starke Hitze eines Feuers, dass sie zusammenfahren ließ. Als sie sich ruckartig umdrehte, standen die Hölzer schon in Flammen, zischten und dampfte. Hatte Igni gerade...? Nell musste ihr Gesicht vor der Wärme abschirmen, um es auszuhalten. Es war so hell und heiß, dass es auf keinen Fall normales Feuer sein konnte. Es machte schließlich Sinn. Drachenfeuer konnte auch durch Wasser nicht gelöscht werden und seine große Hitze ließ das Wasser ohnehin verdampfen. Aber sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass Igni Feuer speien konnte oder überhaupt mehr als eine kleine Flamme zustande brachte. Ja, es kam ihr so abstrus vor ihren Drachen überhaupt Feuer speien zu sehen. Immerhin hatte er das noch nie getan. Einige seiner Vorgänger, aber Igni nicht. Wenn die Wissenschaftler das wüssten, würden sie ihm die Drüse mit seinem Drakaal, tief in seinem Rachen, die für das Feuerspeien verantwortlich war, entfernen oder veröden. So wie sie es auch mit den anderen zum Feuerspeien fähigen Drachen getan hatten. Sie konnten zwar noch immer Hitze mit ihrem Atem erzeugen, aber entzündete das Stoffgemisch aus Phosphor, Speichel, und weiteren chemischen Zusätzen, das Drakaal, nicht. Es entstand also kein Feuer mehr. Hatte Igni es vielleicht aus diesem Grund nie getan? Aber das würde eine vorausschauende Intelligenz voraussetzen, die in dem Maße von Drachen bisher nicht bewiesen werden konnte. Nell war sprachlos und starrte Igni an, als würde sie das erste Mal erkennen was er war. Und er sah zurück. Ausdruckslos.
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