Kapitel 6 (Jolina)
Behutsam strich ich über seinen aufgequollenen Handrücken. Ich saß hier nun schon seit zwei Stunden, während meine Mutter hysterisch mit den Ärzten diskutierte. Sie konnte nicht glauben, dass er nun hier lag und ihm niemand helfen konnte. Was mein Vater wohl träumte? Er sah glücklich aus, als hätte er längst seinen Frieden gefunden und wir waren diejenigen, die ihn nicht gehen lassen konnten. Es war schön, ihn mal nicht gestresst zu sehen. Wie oft hatte ich ihn tagelang nicht zu Gesicht bekommen? Unzählige Male. Seine Forschungen im einundzwanzigsten Areal ließen ihn einfach nicht los - vielleicht auch deswegen, weil alles, unser ganzes Leben hier, von diesen abhängig gewesen war. Er war der Grund, warum wir im ersten Areal leben durften, er ganz allein. Was würde mit uns passieren, wenn er den Kampf gegen den Krebs wie Millionen vor ihm verlieren würde? Wir wurden schon darüber informiert, dass man im Falle seines Todes keinen Platz mehr für uns hier sehe, auch wenn wir seit Anbeginn der Arealsaufteilung im ersten Areal gelebt hatten. Meine Mutter und ich waren viel zu privilegiert, viel zu intelligent, um abgeschoben zu werden. Man genoss hier Freiheiten, die sich kein anderes Areal herausnehmen konnte, und wir hatten es verdient, unser Leben hier zu verbringen. Ich würde es meinem Vater gleich tun, in die Forschung gehen, die Menschheit voranbringen, neue Mittel und Wege finden, um unsere Rasse vor dem Aussterben zu bewahren.
Im Sekundentakt hörte man die Flugzeuge über das Krankenhaus fliegen. Sie brachten tausende Soldaten, die uns beschützen sollten. Was mit den anderen Arealen geschah, wusste niemand und, um ehrlich zu sein: Es interessierte hier auch niemanden, was mit den anderen Bewohnern geschehen würde. Mittlerweile hatten sich selbst alle Arealsleiter hier versammelt, um über die Zukunft unseres Planeten zu tagen.
Ich erhob mich von dem Stuhl, auf dem ich gesessen hatte, und ging zu den verschlossenen Fenstern. Ruckartig zog ich die Vorhänge vor den Fenstern auf und lehnte mich mit den Ellenbogen voran auf die Fensterbank. Die Regentropfen tanzten wild auf dem Glas umher, bis sich mehrere von ihnen zusammenschlossen, um schlussendlich vor meinen Augen hinabzulaufen.
Meine Mutter war damals, bevor sie meinen Vater kennenlernte, Tänzerin gewesen, doch konnte ich mir die Aufnahmen ihrer größten Erfolge selten länger als ein paar Minuten ansehen, da sie sie gerne und viel zu oft zeigte. Diese Videos waren ihr so wichtig, weil sie ihr einziger Beweis dafür waren, jemals etwas in ihrem Leben erreicht zu haben, auch wenn sie sich schon längst hätte eingestehen sollen, dass mein Vater die größte Errungenschaft ihres Lebens war; sie hasste es jedoch, in seinem Schatten zu stehen, und versuchte aus diesem Grund, - leider immer kläglich - etwas Eigenes auf die Beine zu stellen.
Ein vorsichtiges Klopfen löste sich von der Tür, woraufhin meine Mutter das Krankenzimmer betrat. Das zerknüllte Taschentuch in der rechten Hand haltend, ging sie langsam auf das Bett, in dem mein Vater lag, zu. Ich würdigte ihr keines Blickes, beobachtete sie nur durch die sanfte Spiegelung des Fensters. Wir hatten nicht gerade das beste Verhältnis. Ich hätte gerne eine Mutter gehabt, zu der ich stolz aufsehen konnte, nur fiel mir genau das bei ihr nicht sehr leicht. Ich liebte sie zwar sehr, jedoch viel es mir schwer, ihr das zu zeigen, da ich sie zwar als Mutter respektierte, aber sie für mich kein Vorbild darstellte.
„Jolina?" fragte sie leise.
„Was willst Du, Mom?"
„Ich habe mit den Ärzten gesprochen. Der Krebs ist eine Spätfolge der..."
„...Gammastrahlung, ich weiß. Du musst mich nicht immer wie ein kleines Kind behandeln!"
„Aber, Liebes, so war es doch gar nicht gemeint."
„Er wird sterben, Mom, verstehst Du es nicht?" fauchte ich.
„Sag so etwas nicht", schluchzte sie.
Sie begann wieder zu weinen und auch ich war den Tränen nah. Ich hatte es ausgesprochen: Mein Vater würde sterben. Mein Magen zog sich zusammen, der Kloß in meinem Hals wuchs sekündlich. Meine Mutter wischte sich die Tränen mit dem zerknitterten Taschentuch aus dem Gesicht und verließ den Raum. Noch bevor sie allerdings die Tür hinter sich schloss, sagte sie mir, ich solle mich von ihm verabschieden, da der Fahrer in ein paar Minuten vor dem Krankenhaus auf uns warten würde.
Ein letztes Mal für diesen Abend ging ich zu meinem Vater, legte meine Hand in die seine und betete verzweifelt dafür, dass er auch am nächsten Tag noch aufwachen sollte.
Der Fahrer hielt mir die Tür auf und ließ sie sanft in das Schloss fallen, nachdem ich mich gesetzt hatte. Durch die abgedunkelten Scheiben wirkte alles noch trister als ohnehin schon; ich konnte abermals den Tanz der Tropfen beobachten, die mich zudem von dem anhaltenden Schluchzen meiner Mutter ablenkten. Sie liebte meinen Vater sehr, jedoch blieb das wohl eines der wenigen Dinge, die wir gemeinsam hatten. Wir beide hatten unsere ganz eigene Art und Weise, mit dieser Situation umzugehen - während sie fast ununterbrochen weinte, zog ich mich immer weiter zurück, sprach kaum noch ein Wort, außer man forderte mich dazu auf.
„Liebes, wir müssen uns unterhalten."
Ich blickte in ihr Gesicht. Sie hatte sanfte Falten bekommen, seitdem es um meinen Vater immer schlechter stand; trotzdem konnte man die Tage als wunderschöne Tänzerin immer noch erahnen, wenn man sie ansah.
„Erinnerst Du Dich noch an das Schreiben der Regierung?"
Ich nickte leicht und wusste, worauf sie hinauswollte.
„Ich wurde vorhin nochmal angerufen. Mir wurde erklärt, dass es sein kann..."
„Sie wollen uns abschieben? Das können sie doch nicht machen! Papa wird für sie sterben!" unterbrach ich sie.
Mit ihrer rechten Hand verdeckte meine Mutter ihr Gesicht. Sie wollte noch nie, dass ich sie weinen sehe. Langsam umschloss ich daraufhin ihre Hand, zog sie sanft von ihren leicht verschmierten Wangen weg. Ich erwischte mich dabei, wie seltsam es sich anfühlte, ihr so nah zu sein, und irgendwie schämte ich mich zugleich dafür, ihre Nähe so selten zugelassen zu haben, obwohl sie sie in dieser Zeit am meisten gebraucht hätte.
Es war schon früh abzusehen gewesen, dass mein Vater an Krebs erkranken und auch sterben würde; er hatte viel Zeit im einundzwanzigsten Areal verbracht, in der Nähe der Todeszone. Wir hatten es jedoch nicht realisieren wollen, dass es irgendwann so kommen würde, auch wenn die Anzeichen schon länger zu sehen gewesen waren. Er hatte zwar versucht, es zu verbergen, allerdings waren mir seine verbluteten Taschentücher, die er des Öfteren in den Mülleimer geschmissen hatte, aufgefallen.
Die Hand meiner Mutter war kalt und zittrig, dennoch ließ ich sie nicht los. Auch meine Augen wurden immer feuchter, was eine sehr unangenehme Situation für mich darstellte, weil mein Vater mich stets gelehrt hatte, tough zu sein. Ich traute mich nicht, meine Mutter anzusehen - ich wusste, es gefiele ihr nicht. Sie war eine stolze und gleichzeitig liebevolle Frau und Mutter, bloß zu weich für all das hier.
Wir bogen in unsere Straße hinein, eine Straße, die ein hohes Gebäude an das nächste reihen ließ. Bedrohlich stiegen sie gen dunklen Nachthimmel, die kleinen Gassen waren pechschwarz durchtränkt. Langsam kamen wir zum Stehen, sodass man das Prasseln der Regentropfen immer deutlicher hören konnte.
„Kann ich für die Damen noch etwas tun?" fragte unser Fahrer.
„Nein, James, sie können Schluss machen für heute", antwortete meine Mutter, noch immer schluchzend.
Gemeinsam gingen wir schweigend zur Tür, wie wir es fast jeden Abend taten, seitdem mein Vater im Krankenhaus lag. Jedes Mal aufs Neue fielen mir all die schönen Verzierungen im Eingangsbereich auf, alles war aufeinander abgestimmt, makellos, perfekt. Freundlich begrüßte uns der Concierge und wies uns darauf hin, dass zwei Mitarbeiter der Regierung im Empfangszimmer schon auf uns warten würden.
„Selbst jetzt können sie uns nicht einfach mal in Ruhe lassen",schnaufte meine Mutter.
Der Fahrstuhl brachte uns direkt in unser Apartment, woraufhin ich die Herrschaften in einem separaten Raum begrüßte, während sich meine Mutter einen Drink orderte. Sie trank sehr viel in letzter Zeit, aber darum konnte ich mich nicht auch noch kümmern.
„Hätten Sie einen Moment für uns, Ms. Connelly?"
„Sie wollen sicherlich mit meiner Mutter sprechen, ich hole sie eben. Sie können sich schon mal setzen."
„Sind Sie nicht Ms. Jolina Connelly, die Tochter von Adam Connelly?"
„Ja, die bin ich, wieso?"
„Dürfte ich erfahren, was die Herrschaften von meiner Tochter wollen?" mischte meine Mutter sich ein. Sie hatte sich von uns allen unbemerkt zu uns begeben; fordernd sah sie die beiden Herren an, noch immer ihre Clutch in den Händen haltend.
„Oh, wie unhöflich von uns. Setzen Sie sich doch." entgegnete ihr der kleinere, zugleich dickere von den beiden, leicht hämisch lächelnd.
Sie setzte sich eingeschüchtert auf das viel zu weiche Sofa, knickte die Beine elegant zur Seite und verschränkte ihre Hände auf dem rechten Knie.
„Wie Sie ja beide sicher wissen, steht es nicht besonders gut um Mr. Connelly..."
„...was wollen Sie? Uns auch nur wieder sagen, dass Sie uns abschieben wollen?" fuhr meine Mutter ihn an.
„Nun ja, es gäbe da noch eine andere Möglichkeit", sagte er, während sein Blick langsam in meine Richtung wanderte, was von meiner Mutter nicht unbemerkt blieb. Sie sah mich an und blickte erbost zu dem Herren zurück.
„Was wollen Sie von meiner Tochter?!"
„Ich will es möglichst kurz machen: Wir brauchen sie und es wäre für sie beide die Möglichkeit, zunächst hierzubleiben."
Meine Mutter schluckte, während auch ich immer eingeschüchterter dort saß. Ich wandte meinen Blick in Richtung des Kaminfeuers, um den Augenkontakt zu den beiden Herren zu meiden; dort vor unserem Kamin hatte ich immer meine Weihnachtsgeschenke geöffnet und viele von den wenigen Abenden mit meinem Vater verbracht. Wir haben einfach dort gelegen, manchmal las er mir was vor, aber oftmals lagen wir auch bloß, redeten und kuschelten.
„Sie wird nichts tun, was sie und ihre Gesundheit gefährden könnte!" riss mich meine Mutter aus den Gedanken.
„Da Ihr Mann ja leider nicht mehr arbeitsfähig ist, brauchen wir dringend Ersatz. Ihre Tochter hat brillante Noten, ist sehr intelligent und mit den Forschungen Ihres Mannes vertraut. Wir wissen, dass sie mit ihren bald achtzehn Jahren noch sehr jung ist, aber ihr Können ist unverkennbar."
„Wie kaltherzig sind Sie eigentlich?! Ich werde meinen Mann verlieren und..."
„...ich werde es machen", unterbrach ich sie.
Geschockt starrte meine Mutter mich an, stand hastig auf und blickte mir tief in die Augen.
„Weißt Du, was Du Dir antust? Erst soll ich Deinen Vater verlieren und jetzt auch noch Dich?"
Ich hatte meine Mutter selten so wütend gesehen - hatte ich wirklich die richtige Entscheidung getroffen? Ich wusste es nicht.
***
So, Leute!
Ich habe da mal eine kurze Frage bzw. eine Bitte: Was haltet Ihr von einer dritten Sicht? Ich habe dieses Kapitel vor langer Zeit geschrieben und es - ehrlich gesagt - veröffentlicht, um an den Wattys 2017 teilnehmen zu können. Der Grund, warum ich so lange mit diesem Charakter gezögert habe, lag vor allem darin, dass ich nicht weiß, ob es zu überladen wäre und den Fokus von Leon und Maylo ablenken würde. Ich weiß auf jeden Fall schon jetzt, dass sie eine nicht ganz unwichtige Rolle in der Geschichte spielen wird, aber, ob es wirklich eine dritte Sicht sein muss, weiß ich nicht....
Jojo1505
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