Kapitel 5 (Leon)
Ich blinzelte leicht, als ich langsam wieder erwachte; schlagartig war der Schmerz wieder da, von dem mich - so unsanft er auch gewesen war - der Schlaf bewahrt hatte. Von den Schlägen noch benommen, versuchte ich, mir einen Überblick von dem Abteil zu verschaffen, in das man mich hineingetragen haben musste. Kaum hatte ich allerdings meinen Kopf nach oben gerichtet, grinste Vince mich schelmisch von der Seite an.
„Ich dachte schon, Du würdest gar nicht mehr aufwachen", sagte er hämisch.
„Wie lange habe ich geschlafen?"
„Keine Ahnung, sehe ich aus wie die Auskunft?"
„Bekifft hast Du mir besser gefallen", entgegnete ich ihm.
„Was Du nicht sagst. Vor knapp drei Stunden bin ich in dieses Abteil gekommen, zu diesem Zeitpunkt hast Du hier schon gelegen."
„Vielleicht solltest Du doch bei der Auskunft anfangen", schmunzelte ich.
„Oder als Krankenschwester mit Gehänge, wenn ich mir Dich so ansehe", lachte er, während ich langsam versuchte, mich an seinen schrägen Humor zu gewöhnen.
Er beugte sich zu mir und begutachtete meine Wunden. Behutsam tastete er meine Schläfe ab, woraufhin ich vor Schmerzen mein Gesicht verziehen musste.
„Die haben Dich ganz schön erwischt. Ich bin zwar kein Experte, aber das sollte genäht werden", sagte er mit einer deutlich erkennbaren Besorgnis, was mich wirklich verwunderte.
„Haben die hier keine Krankenstation?"
Vince stand auf einmal auf, kramte in seiner Tasche, zog eine kleine Tüte heraus und grinste mich erwartend an.
„Haben sie bestimmt, allerdings weiß ich nicht, wo sie ist. Provisorische Medizin gefällig?" fragte er und hielt mir das kleine Tütchen hin.
Ich fragte mich, ob ich diese Person jemals verstehen würde. Immer, wenn ich dachte, eine seiner nächsten Reaktionen vorhersehen zu können, tat er etwas, mit dem ich wiederum überhaupt nicht gerechnet hätte.
„Nein, danke, ich verzichte."
„War ja nur ein Angebot."
„Du weißt, dass man für die Konsumierung von Drogen eingefroren wird?"
„Ob Du es glaubst oder nicht, das wäre mir lieber als all das hier."
Ich überlegte kurz und musste nach einer Weile gestehen, dass er wohl Recht hatte. Trotz dessen wollte ich nicht auf sein Angebot eingehen und so verließ ich unser Abteil, um irgendjemanden zu finden, der sich um meine Wunden kümmern würde. Langsam schloss ich die Schiebetür hinter mir und ging den schmalen Flur entlang, den deutlich hörbaren Stimmen folgend. Ich stoppte kurz und ließ meinen Blick über die Wand links neben mir schweifen; er blieb an einem Bilderrahmen hängen, der ein Portrait von dem wohl bekanntesten Mann dieses Planeten darstellte: Tao Shung. Er regierte das erste Areal und war somit nicht bloß der bekannteste, sondern zugleich auch mächtigste Arealsleiter. Sein markantes Gesicht wirkte schon beim bloßen Betrachten einschüchternd; seine Haare waren zur Seite gekämmt, der Blick zeigte seine nicht zu brechende Entschlossenheit. Diesem Mann würde ich dienen müssen, um für Kathleens Sicherheit garantieren zu können. Würde ich seinen Befehlen nicht Folge leisten, so schreckten seine Handlanger nicht davor zurück, ihr etwas anzutun, um seinen Willen durchzusetzen.
Ruckartig wandte ich mein Gesicht von seinem Portrait ab, der Gedanke, Kathleen könnte etwas zustoßen, erboste mich. Als ich an mir herunterblickte, konnte ich meine vor Wut geballten Fäuste sehen, die ich langsam wieder öffnete, bevor ich weiterging. Die Stimmen wurden immer lauter, je näher ich kam, doch, sobald ich den Raum betrat, verstummte jegliches Gespräch und plötzlich waren alle Augen auf mich gerichtet. Verunsichert durch die vielen Blicke stand ich wie angewurzelt auf der Stelle und wusste nicht, wie mir geschah.
Auf einmal erhob sich einer der Männer von seinem Platz, er kam mir bekannt vor, jedoch konnte ich sein Gesicht nicht einordnen. Mit finsterem Blick sah er mich an, musterte mich von Kopf bis Fuß.
„Du warst mutig, mein Junge", sagte er mit zittriger Stimme.
„Das hatte nichts mit Mut zu tun, James, das war reine Dummheit! Er hätte dabei draufgehen können!" warf ein ebenfalls älterer Mann ein.
Ich wusste nun wieder, woher ich den Mann kannte, der als erstes aufgestanden war. Sein Bild war auf den Leinwänden zu sehen gewesen, kurz nachdem ich den Brazierplatz betreten hatte.
„Er hat genau das, was uns allen fehlt. Er wagt es, sich dem Regime zu widersetzen - er tut das, was wir schon vor Jahren hätten tun sollen, doch nicht taten, weil wir zu feige waren!" erwiderte Mr. Francis.
„Wir haben den Arealsleitern so vieles zu verdanken und Leute wie er treten ihre Regeln, ihre Gesetze mit Füßen!"
„Was haben wir denen denn zu verdanken? Sie werden für Millionen Tote verantwortlich sein!" unterbrach ich die hitzige Diskussion.
„Wir werden diesen Krieg gewinnen, Bürschchen!" fauchte er zurück.
„Sie wissen doch noch nicht mal, gegen wen oder was wir überhaupt kämpfen!"
Plötzlich herrschte wieder Ruhe im Raum, alle Blicke gingen gebannt in meine Richtung, waren aber nicht direkt auf mich gerichtet. Ich ahnte schon, dass jemand hinter mir stehen würde, weshalb ich mich langsam umdrehte. Zu diesem Zeitpunkt musste ich ausgesehen haben wie ein kleiner Junge, der tadelnd von seiner Mutter dazu aufgefordert wurde, die mit gerade geklauten Bonbons prall gefüllten Hosentaschen zu leeren; in Wirklichkeit ist mir das genau ein einziges Mal in meinem Leben passiert und für die Strafe, die mich schneller traf, als ich einen Bonbon aus dem Papier hätte herausholen können, hatte ich meine Mutter damals verflucht. Nun bereute ich es, ich vermisste meine Eltern und hatte nicht mal den Hauch einer Ahnung, wohin diese Bestie sie verschleppt haben könnte. Kathleen hatte ich auch verloren, zurückgelassen in unserem Areal, sodass mich das Gefühl beschlich, ganz auf mich alleine gestellt zu sein. Da ich in einem Raum voller anderer Menschen stand, verkniff ich mir jene Träne, die im Begriff war, an meiner Wange herunterzukullern.
„Mr. Franco, antworten Sie mir gefälligst, wenn ich mit ihnen rede!" riss mich die Frau, die mich vor den Wachen gerettet hatte, aus meinem Tagtraum.
„Entschuldigung, Miss, ich war gerade..."
„...abwesend? Das habe ich schon gemerkt!"
„Könnten Sie das, was sie zu mir sagten, nochmal wiederholen?"
„Ich hatte Sie gefragt, woher Sie, ausgerechnet Sie mit Ihrer unglaublichen Lebenserfahrung wissen wollen, wem wir gegenüberstehen und wie stark dieser Gegner sein wird?" fragte sie zornig.
„Ich weiß nicht, wem oder was wir gegenüberstehen, aber..."
„...nichts, aber! Sie wissen gar nichts, absolut nichts! Ich kann und will nicht verstehen, was Mr. Shung an Ihnen findet", murmelte sie und schüttelte ungläubig den Kopf. „Wachen! Schafft mir diesen Bengel aus den Augen, sofort!"
Verachtend kreuzten sich unsere Blicke, als ich spürte, wie die Handschellen langsam meine Handgelenke umschlossen und sich unsanft in diese hineinbohrten.
*
„Ich hoffe, Du wirst als erstes draufgehen", sagte eine der beiden Wachen zu mir, bevor sie die Gitter hinter mir schlossen.
Ich reagierte nicht auf das Gesagte und starrte regungslos zu Boden. Diese Ignoranz, vielleicht sogar gewollte Unwissenheit, um der Realität entfliehen zu können, erschrak mich. Eines verwunderte mich jedoch noch viel mehr: Was meinte sie, als sie sagte, sie könne nicht verstehen, was Mr. Shung an mir fände? Warum haben mich die Wachen verschont, anstatt weiter auf mich einzuprügeln? Fragen über Fragen, auf die ich - egal, wie sehr ich mich bemühte - keine Antworten fand.
Während ich mich gerade hinlegen wollte, erspähte ich eine kleine Spinne, die scheinbar planlos umherlief und sich schließlich doch dazu entschied, unter den Gittern ins Freie zu krabbeln - wie gerne ich es ihr gleichgetan hätte. Leicht irritiert richtete ich mich auf und blickte aus der kleinen Fensterluke hinter mir in die dunklen Wolken. Das Wetter verschlechterte sich zunehmend, es wurde immer kälter und Gewitterwolken bestimmten oftmals die Sicht in den Himmel. Meine Eltern hatten noch die schöneren Zeiten miterlebt, als die Sommer warm und bloß die Winter kalt waren. An dem Tag meiner Geburt soll die Sonne geschienen haben, das weiß ich aus Erzählungen meines Großvaters. Er wusste es noch ganz genau, da es der wärmste Tag des Jahres gewesen war. Mittlerweile ist er tot, wie jeder, der in das einundzwanzigste Areal abgeschoben wurde.
Auch wenn mich die Erinnerungen an meinen Großvater traurig machten, überkam mich das Gefühl von Freiheit, wenn ich den Wolken dabei zusah, wie sie an uns vorbeizogen. Ich schüttelte diesen Gedanken jedoch aus meinem Kopf, weil ich ganz genau wusste, dass Freiheit ein Privileg war, welches ich wahrscheinlich nie mehr haben würde.
Langsam brach die Dunkelheit herein, der Mond war wegen der vielen Wolken allerdings nicht sichtbar. Ich lehnte mich an die kalte Wand hinter mir und starrte durch die Gitterstäbe hindurch in die gegenüberliegende Zelle. Nichts. Gähnende Leere. Meine Lider wurden immer schwerer, bis sie letztendlich ganz zufielen. Es war ein langer Tag gewesen und zugleich der Beginn einer noch längeren Reise.
*
„Hey, wach auf!" flüsterte jemand und klopfte mit einer Taschenlampe gegen die Eisengitter, was mich schließlich komplett aus dem Schlaf riss. „Du schaffst es auch immer wieder, Dich in beschissene Situationen zu bringen."
„Könntest Du so freundlich sein und mir vielleicht nicht unbedingt direkt in mein Gesicht leuchten?" fauchte ich.
Kaum hatte die Person die Taschenlampe auf den Boden gelegt, erkannte ich, dass es Vince war. Er saß mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor mir und sah mir dabei zu, wie ich ungläubig blinzelte.
„Hol mich hier irgendwie raus, Vince."
„Wie stellst Du Dir das denn vor? Siehst Du irgendeinen Protection-Suit an mir, der mich Gitterstäbe verbiegen lässt?"
„Verdammt", murmelte ich, da ich ihm Recht geben musste. „Dann such irgendwas, ich muss hier raus."
„Okay, ich bin gleich zurück", sagte Vince und stand auf, um in Richtung Tür zu gehen.
„Vince, irgendwo in den Gängen muss ein Schrank mit Brandschutzmitteln sein. Da müsstest Du einen Feuerlöscher oder eine Axt finden", rief ich ihm noch leise hinterher.
Doch plötzlich ließ ein ohrenbetäubender Knall mich zusammenschrecken. Der Boden zwischen den Gefängniszellen brach auf und die Druckwelle schleuderte mich gegen die Wand. Die Lampe der Sirene leuchtete auf, ein unbeschreiblicher Lärm füllte den Raum. Benommen drückte ich mich mit meinen Armen von dem Zellenboden, abermals triefte mein Mund voller Blut, das auf den Boden tropfte. Ich schleppte mich wieder zurück an die Gitterstäbe und sah, wie Vince auf dem Boden liegend zu mir kroch, wobei er seine Beine hinter sich herzog. Das Flugzeug begann zu wanken und man spürte, wie es an Höhe verlor. Mit letzter Kraft schmiss ich mich gegen das von der Druckwelle beschädigte Gitter, das unter einem lauten Krachen aus den Scharnieren riss; unsanft landete ich mit meinem Körper auf den am Boden liegenden Eisenstäben. Ich rappelte mich unter Schmerzen auf, wuchtete Vince mittlerweile ohnmächtigen Körper über meine linke Schulter und flüchtete aus dem Feuer fangenden Raum. Das Adrenalin schoss durch meine Adern, ließ meine Schmerzen für einen Moment lang verschwinden.
Als uns Wachen entgegenkamen, zuckte ich zusammen, doch sie ignorierten uns und liefen mit Feuerlöschern unter ihren Armen in den Gefängnisraum. Ich legte Vince ab, um ihn gegen die Wand zu lehnen und setzte mich erschöpft neben ihn. Die Sprinkleranlagen befeuchteten meine aufgeplatzten Lippen, das Wasser prasselte auf meine pochenden Adern, meine schmerzenden Armmuskeln entspannten sich langsam. Das Licht war mittlerweile ausgefallen, bloß die vielen Funken von herunterhängenden Kabeln und das Feuer am Ende des Ganges verhinderten, dass man seine eigene Hand vor dem Gesicht nicht mehr sehen konnte.
„Hier spricht Mrs. Scott. Finden sie sich alle umgehend im Aufenthaltsraum ein. Aufgrund eines technischen Defektes werden wir eine Notlandung durchführen müssen."
Von der Durchsage unbeeindruckt, blieb ich wie starr auf dem Boden sitzen. Ich hatte gerade meinen Kopf in meinen Schoß sinken lassen, als ich ein keuchendes Husten neben mir vernahm; Vince kam langsam wieder zu sich, was mich erleichterte - ich wollte nicht schon wieder jemanden verlieren, auch wenn ich ihn erst seit ein paar Stunden kannte.
„Was ist passiert?" fragte Vince.
„Es gab eine Explosion in dem Raum unter uns, mehr kann ich Dir leider nicht sagen."
„Maschinenraum", er ließ seinen Kopf schüttelnd nach unten sinken.
„Was?"
„Unter uns war der Maschinenraum."
„Was bedeutet das?"
„Jemand hat beabsichtigt, uns flugunfähig zu machen. Wir befinden uns nur noch im Gleitflug und das über dem zwanzigsten Areal."
„Du meinst..."
„...ja, ich meine, dass jemand absichtlich dort einen Sprengkörper hat explodieren lassen."
„Es kann doch auch einfach nur ein Fehler in der Elektronik gewesen sein."
Vince schüttelte den Kopf und lachte hämisch auf.
„Du Narr! Den letzten Flugzeugabsturz gab es vor über vierzig Jahren und Du glaubst, dass ausgerechnet heute bei einem Flugzeug, das uns in das erste Areal bringen soll, der Maschinenraum einfach so in die Luft fliegt?"
Geschockt legte ich meinen Kopf in meine verschränkten Arme, während ich nach Luft schnappte. Ich fragte mich, wer so etwas tun sollte und es vor allem auch in die Tat umsetzen könnte. Wer würde riskieren oder gar beabsichtigen, hunderte unschuldige Menschen in den Tod zu reißen?
Doch auf einmal überkam mich der Gedanke, das letzte Puzzlestück, das meinem vorigen Gedankengang gefehlt hatte. Ich wusste, was hier vor sich ging und warum all das getan worden war.
„Du sagtest, wir seien über dem zwanzigsten Areal?" stotterte ich.
„Ja, wieso?" Vince sah mich verunsichert an.
Ich sprang auf und stürmte in Richtung des Versammlungsraumes. Wir hatten nicht mehr viel Zeit, da wir die Wolkendecke schon durchbrochen hatten und unaufhaltsam dem Boden entgegen glitten. In der Hoffnung, das Schlimmste noch verhindern zu können, rannte ich so schnell ich konnte - wir waren über dem zwanzigsten Areal, das konnte kein Zufall sein.
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