1. Liv

Es war später Vormittag, als ich das Stadttor durchschritt. Ich war sechs Monate weg gewesen und ein Teil von mir war überzeugt, dass sich in dieser Zeit ein Teil der Stadt grundlegend verändert haben musste. Wenn nicht die Gebäude und Straßen, dann zumindest die Bewohner und ihre Verhaltensweisen. Und wenn auch das gleich blieb, hätte sich meiner Meinung nach meine eigene Wahrnehmung von alldem ändern müssen.

Doch es war alles wie zuvor. Das Ostviertel, durch dessen Tor ich gekommen war, war genauso heruntergekommen wie zuvor – mit dem Unterschied, dass man die Armut jetzt, wo der erste Frost gekommen war, deutlicher wahrnahm. Auf der Hauptstraße standen wie üblich Händler, Kunden und unauffällige Gestalten, die versuchten ein paar nützliche Informationen aufzuschnappen. Dazwischen vorbeieilende Vampire, Magier, Elben, Menschen und Mischwesen, unter den wachsamen Augen von ein paar Wächtern, die sich in dicke Umhänge gehüllt hatten. Ich sah jedem von ihnen ins Gesicht, doch es war kein bekanntes dabei.

Es war keine Überraschung, dass die Stadt ohne mich weitergelebt hatte, als wäre ich nie fort gewesen, nicht zuletzt wenn man bedachte, dass ich selbst nur etwas mehr als ein Jahr hier gelebt hatte. Aber es fühlte sich trotzdem falsch an.

Ich war beinahe bei der Wächterburg angelangt, als mir klar wurde, woher dieses Gefühl rührte. Es fühlte sich an, als hätte die Stadt mich vergessen, was letztlich nur daran lag, dass meine Freunde mich vergessen hatten. Niemand hatte am Tor oder in der Nähe gewartet, um mich zu empfangen, hatte einen Boten geschickt oder eine Nachricht für mich hinterlassen. Das allein war es, was die Rückkehr für mich so befremdlich machte. Früher war das nie ein Problem gewesen, aber da war ich auch nie in dieselbe Stadt zurückgekommen. Und wenn doch, hatte ich dort niemanden gehabt, den ich als Freund bezeichnet hätte.

„Mach dich nicht lächerlich, Liv", murmelte ich zu mir selbst. „Du hast niemandem eine Botschaft geschickt, dass du kommen würdest. Natürlich erwartet dich keiner."

Vielleicht war das ein Fehler, dachte ich, als ich mich der Burg näherte. Unter dem taubengrauen Himmel wirkte sie noch abweisender als im Frühling. Die Mauern schienen sich zusammengezogen zu haben und mich mit vernichtenden Blicken zu bedenken, weil ich in ihr Revier eindrang. Wenn ich Evan informiert hätte, hätte er mich bestimmt begleitet. Skadi mit Sicherheit auch, und in diesem Moment wäre mir sogar Keldan recht. Als ich das letzte Mal in dieser Burg gewesen war, hatte ich einer Gerichtsverhandlung beigewohnt. Die beiden Angeklagten waren für ihre Morde an zwei Mischwesen verurteilt worden und mich hatte man nach meiner Aussage diesbezüglich widerstandslos gehen gelassen. Dennoch traute ich dem Frieden nicht. Ich hatte mein halbes Leben lang einen großen Bogen um die Wächter gemacht und mit ihren Burgen immer nur Anklagen, Verhöre und Verließe verbunden. Jetzt freiwillig hineinzugehen ließ meinen Herzschlag trotz allem in die Höhe schießen.

Mein altes Ich, die Liv von vor einem halben Jahr, drängte mich dazu, umzudrehen. Die Burg weiterhin zu meiden, so wie ich es bei meinem ersten Besuch hier gemacht hatte. Jeder Neuankömmling musste sich bei den Wächtern anmelden, insbesondere wenn er vorhatte, länger als ein paar Tage in der Stadt zu verweilen. Man musste sich in ihre Bücher eintragen lassen, seinen Namen, Alter und den Grund, warum man hier war, preisgeben. Tat man es nicht, hielt man sich offiziell illegal in der Stadt auf und erhielt normalerweise weder eine Unterkunft noch Arbeit.

Dass man beides auch auf anderem Weg beschaffen konnte und vermutlich gut zehn Prozent der Bevölkerung sich hier ohne das Wissen der Wächter aufhielten, hatte ich gut in Erinnerung. Aber diesmal wollte ich nicht zu jenen Leuten gehören. Diesmal hatte ich nichts zu verbergen, und das war der einzige Punkt gewesen, weswegen ich mich beim letzten Mal – ebenso wie in jeder anderen Stadt – nicht angemeldet hatte.

Ich passierte zwei Wächter am Tor, die mir kurz zunickten, und folgte dann einer Gruppe Frauen und Kinder mit mehreren großen Taschen über den Innenhof. In meiner Erinnerung war das Gras hier noch grün und saftig; jetzt war es stoppelig, stellenweise schon verschwunden, und ähnlich grau wie der Himmel.

Die Anmeldung erfolgte in einer Halle, in der eine Reihe von Kaminen eine wohlige Wärme erzeugte. Ich öffnete meinen Mantel, blieb an der Wand neben der Tür stehen und sah mich unschlüssig um. Insgesamt waren vier Wächter anwesend, allesamt Frauen. Sie saßen an einer langen Tafel, mit der Wand im Rücken, und unterhielten sich leise. Insgeheim hatte ich gehofft, dass Keldan hier sein würde und meine Anmeldung übernehmen könnte. So unwahrscheinlich es auch war, dass der junge Wächter seine Berufung gewechselt hatte und jetzt an einem dieser Tische sitzen würde, anstatt Verbrechen aufzuklären.

Die Gruppe reisender Frauen und Kinder wurde ans andere Ende der Halle geführt. Eine der Wächterinnen hob den Blick, wurde auf mich aufmerksam und lächelte mir zu. Ich sah mich gezwungen, der unausgesprochenen Einladung zu folgen und trat an ihren Tisch heran.

„Willkommen", sagte sie und lächelte erneut. „Was kann ich für Euch tun?" Wenn man sich auf ihre honigfarbenen Augen konzentrierte und es dabei schaffte, die schwarzen Schwingen auf ihrem Rücken auszublenden, wirkte sie etwas weniger respekteinflößend. Aber nur ein wenig.

Ich bemühte mich, das Lächeln zu erwidern. „Ich ... wollte mich anmelden. Bin ich dafür hier richtig?"

Sie nickte, wobei ihr voluminöser Zopf auf und ab wippte. Ich starrte darauf und dachte daran, dass meine eigenen Haare inzwischen viel zu lang waren. Normalerweise trug ich sie kinnlang, aber meiner Mutter hatte es gefallen, sie wachsen zu sehen. „Das seid Ihr. Wart Ihr schon einmal hier?"

Ja, aber ohne dass Ihr davon wusstet. „Nein."

„Sehr schön", sagte sie. „Würdet Ihr mir kurz Eure Hand geben?"

Mein Herzschlag stolperte. Ich ballte meine Hände in den Manteltaschen und atmete tief ein. Es gab keinen Grund zur Beunruhigung. Sie würde nichts finden. Keinen Eintrag, der mich als Verbrecherin auswies, die in einer anderen Stadt gesucht wurde. Das hatte ich immer nur angenommen, obwohl es nicht der Realität entsprach. Und das hier würde der Beweis dafür sein.

Ich öffnete meine rechte Faust, zog sie zögernd aus der Manteltasche und hielt sie über den Tisch. Die Wächterin griff mit kühlen Fingern danach und führte meinen Zeigefinger zu einer Nadel. Ein scharfer Stich, dann quoll ein Blutstropfen hervor. Ich sah zu, wie sie ihn in eine nebenstehende Schale mit zirkulierender klarer Flüssigkeit fallen ließ und hielt den Atem an.

Der Tropfen schwamm einen Augenblick lang auf der Oberfläche. Dann löste er sich auf. Die klare Flüssigkeit färbte sich erst in einem hellen Rot und wechselte dann zu Grün, ehe die Farbe sich vollständig auflöste. Ich stieß erleichtert die Luft wieder aus; auf der Schale lag ein Zauber, der es ermöglichte, das Blut mit anderen Proben zu vergleichen. Hätte es für mich bereits einen Eintrag in den Büchern der Wächter gegeben – entweder als Bewohnerin oder als jemand, nach dem gesucht wurde –, hätte sich die Flüssigkeit in einem tiefen Rot statt Grün verfärbt.

Zumindest hatte ich das gehört. Die Wächterin behielt ihr Lächeln bei, zog ein Pergament hervor und tauchte eine schmale Feder in das nebenstehende Tintenfass. „Wie ist Euer Name?"

Ich warf einen Blick über die Schulter und senkte die Stimme. Mit dem vollständigen Namen konnte jeder durch Suchzauber aufgespürt werden. Seit es vor Jahren deshalb einen Skandal gegeben hatte, vermied es jeder im gesamten Land, seinen richtigen Namen preiszugeben. Die Wächter waren die einzigen, bei denen man nicht darum herum kam. „Liviana Gray."

„Euer Alter?"

„Zweiundzwanzig." Ich beobachtete, wie sie beide Informationen notierte. Ihre Schrift war derart ordentlich und klar, dass ich sie ohne Probleme auch auf dem Kopf lesen konnte, obwohl sie sehr klein schrieb. Die nächste Frage nahm ich vorweg. „Ich besuche hier ein paar Freunde und weiß noch nicht genau, wie lange ich bleiben werde."

Sie nickte und streute etwas Sand über die frische Tinte. Während ich darauf starrte, versanken die Buchstaben im Pergament und verblassten, bis sie schließlich nicht mehr zu sehen waren. Dafür standen sie jetzt vermutlich bereits in den Büchern, irgendwo zwischen hunderten anderen Einträgen. Ich fragte mich, wie viel der Magier erhalten hatte, der diese Verbindung zwischen dem Pergament und den Büchern erschaffen hatte. Ich war nur zur Hälfte Magierin, aber vielleicht sollte ich dennoch versuchen, mit den Wächtern zusammenzuarbeiten. Lukrativer als meine letzte Arbeit wäre es allemal.

Die Wächterin war zwischenzeitlich bei einer der anderen gewesen und hatte weitere Pergamentbögen mitgebracht. Sie erklärte mir nicht, welchem Zweck sie dienten, doch das war nicht schwer zu erraten. Auf jedem einzelnen standen in drei Spalten ordentlich untereinander geschrieben Namen. Und als sie mit dem Zeigefinger an ihnen entlang strich und dabei stumm die Lippen bewegte, wusste ich, dass sie nach meinem suchte.

Ich gab mir Mühe, meinen Blick von ihr zu lösen und stattdessen in die Flammen des nächsten Kaminfeuers zu starren. Diese Listen mussten von anderen Städten stammen. Die Wächter waren nicht dumm – sie wussten sehr wohl, dass sich auch Leute hier niederlassen wollten, die in anderen Städten als Verbrecher oder Vermisste gemeldet waren. Mein Name konnte nicht darunter sein. Sie würde die Listen anstandslos durchsehen und mich dann gehen lassen. So, wie ich es mir seit Tagen vor meinem inneren Auge ausgemalt hatte.

Nach den ersten fünf Listen war meine Geduld beinahe vollständig zerbröckelt. Mein Blick klebte an dem letzten Pergament und verfolgte den rasch herunter wandernden Finger. Mit jedem weiteren Namen beschleunigte sich mein Herzschlag, obwohl ich mir erneut mehrmals sagte, dass es keinen Grund zur Nervosität gab. Noch vier Namen, drei, zwei ... und der Finger stoppte. Ich blinzelte und lehnte mich ein Stück vor, doch diesmal war die Schrift wirklich zu klein, um zuverlässig sagen zu können, was dort stand.

„Liviana Gray?", wiederholte die Wächterin.

Ich nickte langsam. Flucht, schoss es mir durch den Kopf. Ich musste verschwinden, sofort, bevor jemand die Gelegenheit hatte, mich aufzuhalten. Wenn ich schnell genug war, würde ich es möglicherweise sogar an den Wächtern am Tor vorbei schaffen. Oder ich schaffte es, meine Verfolger abzuschütteln und mich dann zu verstecken, bis sie die Suche aufgaben.

Die Wächterin stand auf und ich ging einen Schritt rückwärts. Der Tisch würde mir einen kleinen Vorsprung verschaffen. Bevor sie ihn umrundet haben würde, wäre ich schon fast bei der Tür.

„Würdet Ihr mich bitte begleiten?", fragte sie.

Das Lächeln hatte ihre Lippen keinen Moment verlassen. Ich zögerte einen Wimpernschlag zu lang. Hinter mir ging die Tür auf, ein weiterer Wächter trat ein und stellte sich neben den ersten Kamin, um seine Hände aufzuwärmen. An ihm würde ich es nicht rechtzeitig vorbei schaffen. Meine Gedanken rasten auf der Suche nach einem Ausweg. „Warum?", erwiderte ich leise.

„Das weiß ich leider nicht", antwortete sie freundlich. „Aber es besteht kein Grund zur Sorge. Euer Name steht auf der Liste von Personen, auf die jemand hier wartet. Meistens weil es Informationen zu Angehörigen oder Ähnliches gibt."

Mein Blick huschte von ihr zu dem Wächter an dem Kamin, dann zur Tür. Mir fiel niemand ein, der bei den Wächtern angeben könnte, auf mich zu warten – und erst kein Grund, warum die Wächter es selbst tun sollten, von einer Anhörung einmal abgesehen. Hatten sie herausgefunden, dass ich mich eine Zeit lang auf dem Schwarzmarkt als Hellseherin ausgegeben hatte? Grundsätzlich war das zwar verwerflich, aber nichts, für das man von einem Gericht belangt werden konnte.

Dennoch – im Augenblick sah ich keine andere Möglichkeit. Jetzt abzuhauen, würde mir Probleme einhandeln, die ich durch Kooperation hoffentlich vermeiden konnte. Zumal ich mir vorgenommen hatte, nicht mehr so oft wegzulaufen.

***

Die Wächterin führte mich schweigend durch die Burg, stoppte vor einer dunklen Holztür und ließ mich mit dem Hinweis davor zurück, dass bald jemand kommen würde, um sich um mich zu kümmern. Ich wertete es als gutes Zeichen, tatsächlich allein gelassen zu werden. Vielleicht steckten wirklich keine schlechten Nachrichten dahinter.

Es war kein Vernehmungsraum, wie ich ihn kennengelernt hatte. Keiner im klassischem Sinne mit einem Tisch, zwei Stühlen und einem verzauberten Spiegel an der Wand jedenfalls. Stattdessen handelte es sich um einen hell gestrichenen Raum mit drei Fenstern, einer langen Schiefertafel an der Wand und einem einzigen runden Tisch, der unbesetzt war. Außer mir war eine weitere Person anwesend. Der Mann stand am mittleren der Fenster und irgendetwas an der Art, wie er die Hände auf dem Rücken verschränkt hatte, kam mir bekannt vor. Dennoch hatte ich das Gefühl, mich in der Tür geirrt zu haben und wollte bereits leise wieder verschwinden, als er sich umdrehte.

Ich erstarrte in der Bewegung, eine Hand schon auf der Türklinke. Verblüffung huschte über sein Gesicht und blieb in seinen unterschiedlich farbigen Augen hängen, während sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.

„Liv", sagte Evan. „Was machst du denn hier?"

Ich zuckte mit den Schultern. Meine eigene Überraschung hatte ich hoffentlich besser verbergen können. Ich konnte meine Gefühle wesentlich schlechter verstecken als Evan, aber im Gegensatz zu ihm hatte ich in den vergangenen Tagen genug Zeit damit verbracht, mich auf diese Begegnung vorzubereiten. „Das konnte mir bisher niemand sagen", antwortete ich.

Wir sahen uns schweigend an, meine Abwesenheit von sechs Monaten wie ein Abgrund zwischen uns, dessen Brücke erst zur Hälfte fertiggestellt war. Ich hatte mir auf der Reise ein paar Worte der Begrüßung zurechtgelegt und überlegt, was ich tun würde – aber in diesen Überlegungen hatte ich vor Evans Tür gestanden. Nicht mitten in der Wächterburg, ohne zu wissen, warum wir hier waren.

Schließlich gab ich mir einen Ruck und im selben Moment als ich einen Schritt nach vorn trat, tat Evan es mir gleich. Wir landeten in einer verwirrenden Mischung aus Hände schütteln und Umarmung, verharrten einen Atemzug lang so und lösten uns dann wieder voneinander. Ich dachte daran, wie Evan bei einem unserer letzten Aufenthalte hier mein Blut getrunken hatte – nachdem ich es bis dahin strikt vermieden hatte, einem Vampir auf diese Art nahe zu kommen und es auch dann nur vorgeschlagen hatte, weil es für ihn keine andere Möglichkeit gab, an Blut zu kommen. Kurz meinte ich, dieses Gefühl erneut zu spüren; Evans Gedanken und Gefühle unmittelbar wahrzunehmen und zu wissen, dass er meine ebenso sah. Ohne die daraus entstandene Intimität wäre die Begrüßung vermutlich wesentlich angenehmer geworden. Dann hätten wir uns einfach als Bekannte sehen können, anstatt unsicher zu sein, wie tief unser Grad der Freundschaft eigentlich ging.

Evan räusperte sich. „Seit wann bist du wieder in der Stadt?"

„Eben erst angekommen", erwiderte ich. „Diesmal wollte ich mich ordnungsgemäß anmelden und mich nicht illegal in die Stadt schleichen. Aber offensichtlich hat irgendjemand hier auf mich gewartet."

Ich schob die Hände in meine Manteltaschen und ging zum Fenster. Evan würde gleich fragen, wie der Besuch bei meinen Eltern gewesen war, und der Bodenfrost draußen auf dem Hof war ein zu gezwungner Themenwechsel, um länger als zwei Sätze anzuhalten.

„Weswegen bist du hier?", fragte ich. „Es wäre ein komischer Zufall, dass sie uns beide in denselben Raum bringen, ohne einen Grund dafür zu haben."

Evan zuckte mit den Schultern. „Für mich ist es eher ein komischer Zufall, dass du genau jetzt wieder in der Stadt bist. Ich habe eine freundliche, aber sehr deutliche Aufforderung erhalten, mich hier einzufinden – und keine halbe Stunde nach meiner Ankunft tauchst du auf."

„Allmählich glaube ich nicht mehr an Zufälle", antwortete ich. „Was ist mit Keldan und Skadi? Hast du mit ihnen gesprochen? Sie müssten uns doch sagen können, was hier los ist."

Bevor ich die Stadt verlassen hatte, hatten Evan und ich versucht, die Morde auf eigene Faust aufzuklären. Nachdem wir damals Keldan und Skadi - Mitglieder des eigentlichen Ermittlungsteams – in die Quere gekommen waren, hatten wir letztlich zusammengearbeitet. Ich hatte Evan damals geraten, ebenso wie Skadi als Berater für die Wächter zu arbeiten, um eine sinnvolle Beschäftigung in seinem Leben zu haben. Als jetzt ein reumütiger Ausdruck über sein Gesicht huschte, wusste ich, dass er diesen Rat nicht befolgt hatte.

„Nein", sagte er. „Ich -"

Das Öffnen der Tür unterbrach ihn. Nach Evans Antwort ahnte ich bereits, wer uns nun Gesellschaft leisten würde. Eine junge Frau in schlichter Kleidung, gefolgt von einem Wächter, der die Tür mit Nachdruck hinter sich zu zog. Sie hielten einen Augenblick inne, als sie mich sahen.

Skadi lächelte zaghaft. „Hallo, Liv. Schön, dich wiederzusehen."

Ich nickte, ebenso wie Keldan. Falls einer von beiden ernsthaft überrascht war, mich zu sehen, verbargen sie es gut. Also musste es wirklich Keldan gewesen sein, der meinen Namen auf die Liste gesetzt hatte. Aus welchem Grund auch immer.

Evan hüstelte. „Ihr habt mich fast eine Stunde warten lassen, ohne mir auch nur ansatzweise zu sagen, was überhaupt los ist. Würde mir jetzt endlich jemand sagen, warum ich hier bin?"

„Der Frage schließe ich mich an", fügte ich hinzu.

Keldans Miene verfinsterte sich. Dass er sich keine Mühe gab, das mit einem Lächeln zu kaschieren, beunruhigte mich. Als wir ihn kennengelernt hatten, war er darauf bedacht gewesen, nicht zu zeigen, was er von unserem eigenmächtigen Handeln hielt, jedenfalls bei den ersten Malen. Irgendwann hatte er es aufgegeben, und das waren die Situationen gewesen, in denen seine Verärgerung mehr als berechtigt war. Ich konnte in den letzten sechs Monaten schlecht etwas verbrochen haben – Evan dafür schon. Und von unserem ersten Treffen an hatte er mich zuverlässig in seine Schwierigkeiten mit hineingezogen.

„Setzt euch", sagte Keldan. Er selbst blieb stehen, während Evan und ich uns in stummem Einvernehmen in der Nähe der Tür niederließen und Skadi sich einen Platz gegenüber von uns suchte.

Ich überlegte, ob das schon der Zeitpunkt war, mich von allem Folgenden ausdrücklich zu distanzieren.

Skadi fing meinen Blick auf. „Du bist nur hier, um uns zu sagen, ob Evan ehrlich antwortet oder nicht", sagte sie. „Es passt perfekt, dass du gerade heute zurückgekommen bist."

Das steckte also dahinter. Ich seufzte und konnte mich nicht entscheiden, ob ich es vor Erleichterung oder Frustration tat. Als Evan mich bei sich aufgenommen und um meine Hilfe gebeten hatte, war es auch nur gewesen, weil ich Lüge von Wahrheit unterscheiden konnte. Aber etwas hatte sich geändert. Ich hatte mich verändert. Ich war nicht mehr bereit, wahllos für jeden das Orakel zu spielen.

„Wenn das hier ein Verhör werden soll, sage ich gar nichts", kam mir Evan zuvor. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und setzte jene Miene auf, die er sich genau für solche Situationen zurechtgelegt zu haben schien: eine Augenbraue erhoben und der Anflug eines spöttischen Lächelns auf den Lippen. Der Ausdruck eines Mannes, der genau wusste, dass seine Ankläger mit ihrem Verdacht richtig lagen, aber nichts beweisen konnten.

„Kein Verhör", sagte Keldan. „Wir haben nur ein paar Fragen, das ist alles." Er stellte sich neben Skadi und musterte Evan aufmerksam. „Du erinnerst dich sicher an die Tunnel unter der Stadt, durch die wir gemeinsam vor einem halben Jahr geflohen sind. Irgendjemand treibt sich dort unten herum."

„Und da bin euch als erstes ich in den Sinn gekommen", entgegnete Evan. „Das sagt eine Menge über eure Meinung über mich aus."

„Bei dir wissen wir, dass du schon einmal in den Tunneln warst und bereit bist, ohne das Wissen der Wächter allein loszuziehen. Es war naheliegend", sagte Skadi. Im Gegensatz zu Keldan lag etwas Entschuldigendes in ihrem Tonfall.

Nicht, dass das bei Evan etwas nutzen würde. Er behielt seine ablehnende Haltung bei und schwieg.

„Was ist so schlimm daran, dass jemand in den Tunneln ist?", schaltete ich mich ein.

„Es ist gefährlich", antwortete Keldan ruhig. Sein Blick lag weiterhin auf Evan, als könnte er ihn allein dadurch zum Sprechen bringen. „Wir haben noch lange nicht alles dort unten erforscht. Viele der Tunnel sind einsturzgefährdet. Im schlimmsten Fall sorgt jemand dafür, dass sie einbrechen und einen Teil der Stadt mit sich reißen, wenn er dort herumläuft. Deshalb muss ich es wissen, Evan: Treibst du dich dort unten herum?"

„Nein."

Schweigen erfüllte den Raum. Ich starrte fest auf die Tischplatte, weil ich wusste, dass alle Blicke auf mir lagen. Evan musste die Wahrheit sagen oder fest darauf vertrauen, dass ich ihn nicht verraten würde, wenn das Gegenteil der Fall war. Das war einer der Gründe, warum ich es inzwischen vermied, meine Gabe zu nutzen. Wenn ich es jetzt getan hätte, müsste ich mich zwischen meiner Freundschaft mit Evan und dem Pflichtgefühl gegenüber Keldan als Wächter entscheiden. Das war eine Entscheidung, die ich nicht treffen wollte.

„Liv?", fragte Keldan.

Ich atmete tief durch und sah auf. „Ihr müsst selbst entscheiden, ob er lügt oder nicht. Ich werde es nicht tun."

Evans Lächeln vertiefte sich.

„Dass du es uns nicht sagen willst, spricht dafür, dass Evan gelogen hat", wandte Skadi ein. „Genau genommen macht es also keinen Unterschied, ob du es uns sagst oder nicht."

Ich schüttelte den Kopf. „Doch, weil ich es selbst nicht weiß. Ich habe gelernt, bewusst entscheiden zu können, wann ich spüre ob jemand die Wahrheit sagt oder nicht. In den meisten Fällen ist es angenehmer, das nicht sofort zu wissen."

Stille breitete sich aus. Keldan und Skadi tauschten einen Blick, in dem so viel wortlose Kommunikation lag, dass ich mich ausgeschlossen fühlte. Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und unterdrückte den Drang, meiner Antwort etwas hinzuzufügen. Es war allein meine Entscheidung, ob ich meine Gabe einsetzte oder nicht – auch wenn ich immer wieder das Gefühl hatte, das nicht allein entscheiden zu dürfen.

„Ich kann verstehen, dass du das nicht immer tun willst", begann Keldan, „aber es wäre uns wirklich eine große Hilfe. Wir hatten gehofft, an unsere letzte Zusammenarbeit anzuknüpfen."

Evan gab ein abfälliges Schnauben von sich. Er setzte zu einer Erwiderung an, doch ich trat ihn unter dem Tisch. Als sein Blick zu mir zuckte, schüttelte ich den Kopf. Diese Diskussion ging allein mich etwas an; er hatte sich offensichtlich schon längst dafür entschieden, jene Zusammenarbeit nicht fortzusetzen.

„Dann muss ich euch enttäuschen", antwortete ich. „Ich bin kein Lügendetektor, den man bei Bedarf aus dem Schrank holen und benutzen kann. Auch nicht für euch. Ihr seid bisher ohne Leute wie mich zurechtgekommen und werdet es auch weiterhin tun."

Ihnen war anzusehen, dass sie mir widersprechen wollten, aber nicht wussten, wie. Mir wurde klar, dass genau das der einzige Grund war, weshalb mein Name auf der Liste gesuchter Personen gestanden hatte. Nicht etwa, weil einer von ihnen mich schlichtweg gerne wiedersehen oder unsere kurze Freundschaft vertiefen wollte. Es ging allein darum, mit meiner Hilfe auf schnellstem Weg zu klären, ob jemand die Wahrheit sagte oder nicht.

„Können wir jetzt gehen oder wollt ihr noch ein Angebot machen, das wir ablehnen können?" Evan richtete sich auf und schob den Stuhl zurück. Er wartete nicht auf eine Antwort.

Als er den ersten Schritt vom Tisch weggemacht hatte, trat Keldan vor. „Nein", erwiderte er. „Ich akzeptiere, dass Liv uns nicht sagen will, ob du lügst. Aber dann müssen wir es eben auf die althergebrachte Art lösen. Es gibt noch ein paar Fragen, die du beantworten solltest."

Ich verzichtete darauf zu fragen, ob dann zumindest ich gehen konnte. Das Ganze betraf mich zwar nicht direkt, aber ich hatte ohnehin niemanden, zu dem ich gehen konnte. Nach der Anmeldung bei den Wächtern hätte mich mein Weg zu Evan geführt. Obwohl ich nicht gewusst hätte, was ich dort eigentlich wollte.

Evans Augenbraue zuckte nach oben. „Ich dachte, das ist kein Verhör?"

„Noch nicht. Ich kann es zu einem machen, wenn du darauf bestehst."

Sie starrten sich an, als wären sie fest entschlossen, diese Frage allein dadurch zu beantworten, wer den Blickkontakt zuerst brach. Ich sah zu Skadi, die uns schweigend beobachtet hatte. In ihrem knappen Lächeln las ich den gleichen Gedanken, der mir durch den Kopf ging: Das hatte sich also auch nicht geändert. Evan und Keldan trugen weiterhin ihre winzigen Machtkämpfe aus, weil keiner von beiden nachgeben wollte. Egal, um was es ging.

Ich seufzte. Dann streckte ich die Hand aus, ergriff den Ärmel seines Mantels und zog daran. „Komm schon, Evan, beantworte einfach ihre Fragen. Je eher du es tust, desto schneller können wir verschwinden."

Er löste endlich den Blick von Keldan. „Schön", sagte er gedehnt. „Dann will ich aber auch den wahren Grund erfahren, warum euch das interessiert. Diese Tunnel gehören weder euch noch irgendjemandem sonst – jeder einzelne in dieser Stadt hat das Recht, sich dort umzusehen."

„Es gibt keinen anderen Grund als den, den wir schon genannt haben", entgegnete Keldan. „Du bestehst also darauf, nicht noch einmal in den Tunneln gewesen zu sein?"

„Ja."

„Wann warst du zum ersten Mal dort?"

Evan runzelte die Stirn. „Als wir gemeinsam vor diesem Trupp Schläger geflohen sind, wann denn sonst?"

„Hast du jemandem davon erzählt?"

„Nein."

„Bist du sicher?", warf Skadi ein. „Auch nicht beiläufig in einem Gespräch mit Freunden oder Bekannten?"

Evans Blick wanderte zu mir. „Ich habe keine Freunde, von Liv einmal abgesehen."

Es war vorherzusehen, dass Keldan sich nicht mit dieser Antwort zufriedengeben würde. Er kam einen Schritt näher. „Das beantwortet ihre Frage nicht."

„Ich habe niemandem von den alten Tunneln unter der Stadt erzählt", sagte Evan mit Nachdruck. „Aber wenn ich so drüber nachdenke, werde ich es jetzt tun. Dann sind eure Anschuldigungen wenigstens berechtigt und nicht mehr aus der Luft gegriffen."

Er drehte sich auf dem Absatz um und schritt auf die Tür zu. Ich sah unschlüssig zwischen ihm, Skadi und Keldan hin und her. Beim letzten Mal hatte ich mich bemüht, eine vermittelnde Rolle einzunehmen und Evan davon abzuhalten, uns beiden noch mehr Ärger zu bereiten. Aber dafür war es hier schon lange zu spät.

Ich stand auf und folgte ihm. Unmittelbar vor der Schwelle holte ich ihn ein, sah zu, wie er die Hand auf die Klinke legte und -

„Wartet", sagte Keldan.

Evan zögerte. In seiner Miene rangen Neugier und ein Gefühl miteinander, das ich nicht auf Anhieb identifizieren konnte. Keldan erreichte uns und der Augenblick war vorbei. Der undurchdringliche Ausdruck kehrte auf Evans Gesicht zurück. „Es gibt hunderte andere Männer und Frauen in dieser Stadt, die die Tunnel schon seit Jahrzehnten kennen. Wendet euch doch zur Abwechslung mal an die."

„Das werden wir", antwortete Keldan. „Aber ich muss dich trotzdem darum bitten, das Ganze für dich zu behalten. Das gilt auch für dich, Liv."

„Warum?", fragte ich, bevor Evan es tun konnte.

Keldan fuhr sich mit einer Hand in den Nacken. Er schien ernsthaft in Erwägung zu ziehen, uns die Wahrheit zu sagen, und in diesem Augenblick war ich kurz davor, meine Gabe einzusetzen – nur um sicherzugehen, dass es tatsächlich die Wahrheit war. Doch er schüttelte den Kopf. „Das kann ich euch nicht sagen. Nur so viel: Irgendetwas geht da unten vor-"

„Und ihr habt keinen Schimmer, was", vollendete Evan. „Das ist ja was ganz Neues."

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