20. Treffen mit dem Kaiser


Zurück in meinem Zimmer, musste ich erst einmal wieder zu Atem kommen. Ich setzte mich auf die Bettkante und atmete einige Male tief durch. Ich nahm die A4-Seite, die ich sorgfältig in meiner Rocktasche verstaut hatte, hervor. Mein Puls beschleunigte sich erneut, als ich damit begann die Seite auseinanderzufalten. Sie war etwas zerknittert, aber immer noch gut leserlich. Ernüchternd musste jedoch feststellen, dass ich beim Betrachten der Buchstaben und Ziffern nur Bahnhof verstand. Es gab absolut keinen Sinn. Meine Enttäuschung war gross.
Ich suchte auf meinem Briggs ein Kamera-App, das ich mittels der Suchfunktion rasch aufgespürt hatte. Von aussen hatte ich zuvor keine Kamera bemerkt, aber es schien eine zu haben, was gut war und mich nicht länger beschäftigte. Als ich den Auslöser betätigte, öffnete sich eine kleine Klappe an der Rückseite und ein Klickgeräusch ertönte. Aha, so funktionierte das also.
Das Foto der A4-Seite sendete ich sofort Franz-Joseph.
Die Antwort kam prompt.

«Hey Süsse, nicht den Kopf hängen lassen. Ich kann deine Enttäuschung absolut verstehen. Ich schau mir die Berechnungen nachher in Ruhe an und wenn ich auch nicht weiterkomme, können wir ja nochmals Hauslehrer van Wittenberg fragen.»

Er hat mich «Süsse» genannt. Was sollte das? Ich dachte, dass zwischen uns mehr als nur Freundschaft entstand, ginge laut ihm nicht. Ein No-Go. Trotzdem, ich fand Franz-Joseph mehr als nur sympathisch und in Anbetracht, dass mein Körper bei jeder noch so kleinen Berührung seinerseits völlig überreagierte, könnte es nicht sein, dass mein Körper bereits für mich entschieden hatte? Dass wir füreinander bestimmt waren, noch bevor es beide überhaupt wussten? Bei unserer ersten Begegnung im Pferdestall, da reagierte mein Körper nämlich auch.
Ich malte mir noch das ein oder andere mögliche Szenario aus und kam zum Schluss, dass es für uns beide keine Zukunft gab. Egal wie ich die ganze Sache drehte und wendete, Franz-Joseph gehörte an Sophia's Seite und ich meinerseits hatte die Aufgabe, seinen Bruder Maximilian von mir zu überzeugen.

Ich war gerade daran über mein Briggs in Erfahrung zu bringen wer die Bernoulli Brüder denn überhaupt waren – Jakob und Johann Bernoulli waren zwei berühmte Schweizer Mathematiker – als es an meiner Tür klopfte. Wer konnte das sein? Ich erwartete eigentlich niemanden um diese Zeit.
Kaum hatte ich meinen Gedanken zu Ende gedacht, öffnete sich auch schon die Tür und der Kaiser höchst persönlich trat in mein Zimmer. Ich erhob mich rasch von der Bettkante und vollführte einen ehrerbietenden Knicks, den Blick leicht gesenkt. Dabei versuchte ich mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös mich seine Anwesenheit machte.

«Prinzessin Lorraine, ich möchte Sie einen Moment sprechen.» Der Kaiser machte eine kurze Handbewegung. Dies war das Zeichen, dass ich mich erheben durfte.
«Wie Sie wünschen, Eure Majestät.» 

Der Kaiser räusperte sich. «Ich habe nicht viel Zeit, also kommen wir zur Sache. Sie sollten wissen junge Lady, dass Sie sich auf sehr dünnes Eis vorgewagt haben.» Ich versuchte aus den eben gesagten Worten irgendeinen Sinn zu bilden, aber ich blickte mein Gegenüber nur verständnislos an. Er erhoffte sich bestimmt eine Entschuldigung. Doch wie konnte ich mich für etwas entschuldigen, wovon ich nicht genau wusste was es war. Wenn er darauf hinauswollte, dass er mich zusammen mit Franz-Joseph in der Bibliothek gesehen hatte, war mein ganzer Plan von vorher für nichts.
Ich versuchte, die Unwissende zu spielen, da ich nicht genau wusste auf welche Situation er anspielte. Er konnte ebenso gut eine andere Situation im Kopf haben und ich wollte unsere Aktion von eben in der Bibliothek nicht früher, wie nötig erwähnen. «Ich weiss nicht, wovon Sie sprechen.» Dabei gab ich mir die grösste Mühe, höflich und möglichst unschuldig dreinzublicken.
«Erinnern Sie sich an das Gespräch von gestern Abend, welches Sie mit meinem Sohn Prinz Maximilian geführt haben? Da haben Sie ein paar sehr interessante, aber auch sehr gefährliche Gedanken geäussert. Sie haben das nicht mitbekommen, aber das gesamte Gespräch wurde aufgezeichnet und die Wiener Bevölkerung konnte an einem Public Viewing live mit dabei sein. Zum Glück reagierten meine Techniker rasch, blockierten den Sendekanal und es trat somit eine vorübergehende technische Störung ein. Jedoch erst als sie bereits die Vermutung in den Raum gestellt hatten, dass nicht unbedingt die Deutschen, sondern jemand aus unserer Bevölkerung dahinterstecken könnte. Dies wird sicher nicht zur Beruhigung der bestehenden Unruhen beitragen, wenn Sie wissen was ich damit meine. Ihre Aussage erhöht das Risiko, dass tatsächlich jemand aus dem Volk einen Anschlag auf ein Mitglied der kaiserlichen Familie verüben könnte um einiges.»

Das wollte ich damit überhaupt nicht bezwecken. Ich war einfach jemand, der alle Optionen gerne überdachte. Er liess mich nicht zu Wort kommen und fuhr mit seiner Rede fort.
«Ausserdem haben Sie Prinz Maximilian vor den wichtigsten Höflingen blossgestellt, da er aufgrund ihrer Frage offenbarte, dass er nicht auf den Thron verzichten und deswegen keine konstitutionelle Monarchie will. Falls dieses Gerücht nicht unter den Höflingen bleibt und ans Volk gerät, dann wäre die Hölle los.» Der Kaiser gönnte sich eine kurze Atempause, bevor er im genau gleich strengen Ton, der keinen Widerspruch duldete, weitersprach.
«Trotzdem, er hat Sie geküsst. Das hat mich überrascht.» Er schien nicht zu bemerken, dass mir meine Gesichtszüge für einen kurzen Moment entglitten, als er den Kuss erwähnte. «Es scheint ihm etwas an Ihnen zu liegen, also spielen Sie nicht mit ihm, wenn es Ihnen ernst ist. Dies ist eine Verwarnung. Ich werde Sie genaustens im Auge behalten, vergessen Sie das nicht.» Damit drehte er sich um und verliess mein Zimmer.


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