19. Das unlösbare Rätsel
Ich fand es wahnsinnig, wie sich Franz-Joseph darum bemühte, mich bei der Suche nach den Berechnungen zu unterstützen. Er war grundsätzlich zu nichts von alldem verpflichtet. Bestimmt hätte er 100 andere weitaus wichtigere Verpflichtungen, da war ich mir sicher. Und trotzdem war er da, bei mir.
Gerade war er damit beschäftigt, irgendwelche Befehle in sein Briggs einzutippen. Ich betrachtete ihn verstohlen, wie er da auf seinem Stuhl sass, hochkonzentriert, vertieft in unsere Mission. Seine blonden Haare hingen ihm wirr in die Stirn. So viel hatte er sich in den letzten fünf Minuten immer wieder die Haare gerauft. Ich schaute ihm über die Schulter und versuchte, etwas auf dem Bildschirm seines Briggs zu erkennen. Dabei berührte ich ihn versehentlich am Arm. Ein kurzer, heftiger stromschlagähnlicher Reiz durchfuhr mich und ich zuckte zurück. Er liess sich davon nicht aus dem Konzept bringen und schien nichts Aussergewöhnliches bemerkt zu haben, denn er blickte immer noch voll konzentriert auf den Bildschirm seines Briggs.
«Kann ich dir irgendwie helfen?», fragte ich ihn nach einer Weile, weil er alles machte und ich nichts zu tun hatte. «Einen Moment...». Sein Gesicht nahm einen noch konzentrierteren Ausdruck wie vorher an. Für gefühlte fünf Minuten starrte ich ihm beinahe regungslos über die Schulter, fokussiert auf den Bildschirm des Briggs.
«Ich hab's!», rief er triumphierend. «Die Bernoulli Brüder, wer sagt's denn!» Wir fielen uns gegenseitig in die Arme, vor Erleichterung einen Schritt weiter zu sein. Seine Umarmung war stürmisch, beinahe wild, ich aber zögerte einen Moment, bevor ich mich der Umarmung hingab. Mir gingen gerade so viele Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, dazu ein Gefühlschaos, das in mir tobte und war daher selber überrascht, als ich folgende Frage vor mich hinmurmelte: «Kann Liebe Raum und Zeit überstehen?»
«Vielleicht?» Er streichelte mir ganz sanft mit seiner Handfläche über meine Wange. Ein erneuter Schauer durchjagte meinen Körper. Plötzlich hielt Franz-Joseph in seiner Bewegung inne. «Was ist?», fragte ich ihn. «Sophia.» Es war bloss ein Hauch, aber dennoch verstand ich. Beinahe schämte ich mich, dass ich die vorangehende Frage überhaut laut ausgesprochen hatte. Sie war sowas von unrealistisch. Selbst wenn Liebe Raum und Zeit überstehen könnte, Franz-Joseph war längst vergeben. Das schien uns beiden in dem Moment klar zu werden. Wir lösten uns aus unserer Umarmung und schauten einander etwas angespannt und unbehaglich an.
Franz-Joseph fasste sich als erster von uns beiden wieder. «Lass uns doch auf unsere gemeinsame Mission fokussieren.» Ich gab ihm ein zustimmendes Nicken. Zu mehr war ich im Moment nicht imstande.
Als nächstes liess mich Franz-Joseph davon überzeugen, dass die Büchersuchmaschine tatsächlich einen Nutzen für uns hatte. Die Bibliothek war wie gesagt riesig und wir hätten Tage gebraucht, bis wir das richtige Buch gefunden hätten.
Erst gab Franz-Joseph den Namen Jakob Bernoulli in die Suchmaschine ein und startete eine Suchanfrage. Die Maschine begann lautstark zu rattern und zu summen und innert Sekunden erschienen auf dem Display Standortangaben von Büchern, die Jakob Bernoulli geschrieben hatte und hier aufbewahrt wurden. Dasselbe Spiel wiederholten wir mit seinem Bruder Johann. Auch da mehrere Standortangaben. Ich notierte mir alles feinsäuberlich auf meinem Notizblock. Es war eben schon praktisch, so einen Notitzblock bei sich zu tragen.
Wir machten uns auf den Weg, die erhaltenen Standorte aufzusuchen. Sichtlich angesteckt von meiner Euphorie schreitete Franz-Joseph, mit meinem Notizblock in der Hand und mir im Schlepptau, ziemlich zügig in eine Nische der Bibliothek, gleich um die Ecke beim Bibliothekseingang. Wir wussten bereits von Hauslehrer van Wittenberg, dass es sich bei den Büchern um Biographien handelte, deshalb war ich nicht erstaunt das Regal, auf das Franz-Joseph zusteuerte, mit «Biographien nennenswerter Persönlichkeiten» beschriftet zu sehen. Zum Glück waren die Biographien alphabetisch nach Autor geordnet und wir konnten somit unsere Suche gleich beim Anfangsbuchstaben «B» vertiefen.
Ich begann sofort die Buchrücken, einen nach dem andern zu begutachten. Mit dieser Strategie begutachtete ich gut ein Dutzend Bücher. Und tatsächlich, da waren sie. Das mussten sie sein. Ich stiess vor Überraschung einen kurzen Schrei aus. Franz-Joseph, der eine Reihe oberhalb von mir nach den Biographien gesucht hatte, beugte sich zu mir hinunter. «Was ist denn los? Hast du die Bücher etwa schon gefunden?» Er schaute mich ziemlich ungläubig an. «Ich glaube ja.» Meine Worte waren nur ein Hauch, weil ich es selbst noch nicht glauben konnte.
«Komm, schauen wir gemeinsam nach.» Ich bemerkte kaum, wie Franz-Joseph seinen Arm um mich legte, mein Herz war vor Aufregung bereits wie wild am schlagen und beanspruchte meine ganze Aufmerksamkeit. Fast gleichzeitig nahmen wir je ein Buch der Bernoulli Brüder heraus und eine lose A4-Seite flatterte uns entgegen. Franz-Joseph fing sie elegant in ihrem Sinkflug auf. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Hoffentlich stand die besagte Information drin, die wir beide erwarteten.
In dem Moment wurde ein Stuhl über den Boden geschoben. Franz-Joseph und ich zuckten gleichzeitig zusammen und starrten in die vor Schreck geweiteten Augen des anderen. Was nun? Bloss nicht entdeckt werden! Wer konnte das sein? Ich wollte auf einmal nur weg von hier. Ich war schon in Wegrennstellung, als mich Franz-Joseph am Handgelenk zurückhielt. «Warte noch kurz!», flüsterte er mir mit einem bestimmenden Ton ins Ohr. Er nahm sein Briggs hervor und öffnete die virtuelle Karte. Der Kartenausschnitt zeigte den Grundriss der Bibliothek und ich erkannte ziemlich schnell einen blau blinkenden Punkt, daneben ein Schwarzer. Das mussten Franz-Joseph und ich sein. Was mir weitaus mehr Sorgen bereitete, war ein goldener Punkt, der nur etwa zwei Regale von uns entfernt war. «Wer ist das?», wisperte ich in Franz-Joseph's Ohr. «Da er golden ist, bedeutet es, dass es irgendjemand der Kaiserfamilie sein muss. Mein Bruder hat gerade das Date mit Charlotte, mein Vater sollte zu dieser Zeit in einer Besprechung mit seinen Ratsmitgliedern sein und meine Mutter gewährt der Bevölkerung nachmittags Audienzen. Das heisst, irgendjemand von ihnen ist nicht da, wo ich sie vermute. Lass mich kurz nachschauen.» Er drückte mir die A4-Seite in die Hand und weg in Richtung Ende unseres Bücherregals war er.
***
Ich versuchte einen Blick zwischen den Bücherregalen hindurch zu erhalten, aber ich konnte nichts erkennen. Ich wagte mich bis ans Ende unseres Bücherregals vor und schaute um die Ecke. Am kleinen runden Tisch in der Mitte der Bibliothek sass mein Vater über ein dickes Buch gebeugt. Er schien in seine Lektüre vertieft und hatte mich zum Glück nicht bemerkt. Also waren wir im Moment sicher, wenn wir uns ruhig verhielten.
Ich spürte ein Vibrieren in meiner Hosentasche. Stimmt, ich hatte um 15.30 Uhr einen Termin. War es schon so spät? Mir blieben noch 10 Minuten. Wir mussten auf die Schnelle eine passable Lösung finden, wie wir die Bibliothek schnellstmöglich und ohne dass mein Vater uns bemerkt verlassen können. Unser Weg führte uns gezwungenermassen durch die Mitte der Bibliothek, denn unsere Nische war durch eine Trennwand vom Eingang abgetrennt. Ungesehen kamen wir momentan nicht an meinem Vater vorbei. Doof, doof, doof.
Ich begab mich zurück zu Elizabeth. «Wer ist es?», flüsterte mir Elizabeth ungeduldig zu. «Mein Vater.» Elizabeth wurde etwas weiss um die Nase. «Keine Angst, wir schaffen das schon.» Ich gab mir Mühe dabei so selbstsicher, wie möglich zu klingen. Überzogen, dass wir es schaffen würden, aus der Bibliothek zu gelangen, ohne dass mein Vater etwas davon mitbekäme, erachtete ich zu diesem Zeitpunkt als ziemlich unwahrscheinlich.
Einen Moment lang waren Elizabeth und ich beide in Gedanken versunken. Da zupfte mich Elizabeth auf einmal am Ärmel und flüsterte mir etwas ins Ohr. Sie hatte einen Plan. Mit etwas Glück könnte er sogar funktionieren. Riskant war's, aber einen Versuch wert.
Ich bewegte mich in einem mittelmässigen Tempo ein paar Regale weiter weg vom Eingang zur Abteilung der Bücher, die sich mit der Innenpolitik Österreich-Ungarns befassten. Ich überflog die Buchrücken, las aber weder Titel noch Autor. Ich suchte nach einem möglichst dicken Buch. Sobald ich eins gefunden hatte, zog ich es aus dem Regal heraus und liess es auf den Boden fallen, in der Hoffnung, mein Vater würde das störende Geräusch bemerken und nachschauen kommen. Ich wartete einen Moment, aber nichts passierte. Gehört haben musste er es. Also wusste er, dass sich jemand anders in der Bibliothek befinden musste. Mir blieb nichts anderes übrig, als aus meiner Deckung hervor zu kommen und die Aufmerksamkeit meines Vaters anders zu erlangen. Ich nahm eine Position ein, dass mein Vater sich mit dem Rücken zum Bibliothekseingang drehen musste, um mit mir reden zu können.
«Papa? Ich wollte mein Wissen zum Thema Wiener Kongress von 1817 vertiefen und festigen.» Ich hatte seine Aufmerksamkeit erlangt. Mit Geschichte kannte er sich bestens aus und er belehrte Maximilian und mich ständig mit korrekten Daten von wichtigen geschichtlichen Ereignissen. «Aber Franz-Joseph mein Sohn, der Wiener Kongress war doch 1815. Komm mal her und wir schauen das gemeinsam an.» Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Elizabeth auf Zehenspitzen Richtung Ausgang huschte. Innerlich atmete ich durch. Ich konzentrierte mich auf die Erläuterungen meines Vaters und war auf eine anschliessende Standpauke gefasst, wie ich bloss eins unserer wertvollen Bücher auf den Boden fallen lassen konnte.
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