«Aufwachen, du Schlafmütze!» Von fern drang eine Stimme zu mir. Ich wollte noch nicht aufstehen. Es war zu schön und zu weich im Bett. Abgesehen davon war das bestimmt ein Traum, denn normalerweise, würde mich das nervtötende Klingeln meines Weckers aus dem Schlaf reissen.
«Hey Emily, lass das!», nuschelte ich. Meine jüngere Schwester hatte mir soeben meine Decke weggezogen. Das machte sie immer am Wochenende, wenn sie mich ärgern will.
«Das ist nicht lustig, ma chérie. Wir haben heute viel vor.» Ich schlug die Augen auf. Das war definitiv nicht Emily. Wo war ich? Panisch schaute ich umher und mein Blick blieb an etwas hängen, das wie ein ausladender Baldachin aussah. Und da machte es Klick. Ich war immer noch in der Parallelwelt. Wäre auch zu schön gewesen, im eigenen Bett aufzuwachen.
Ich setzte mich an den Bettrand und streckte gähnend alle Viere von mir. Durch meine noch halbverklebten Augen nahm ich ein Blinken wahr, das aus der Richtung meines Nachttisches kam. Ich griff nach dem Briggs und kontrollierte meine Nachrichtenbox: 4 neue Nachrichten.
Die erste Nachricht war eine Erinnerung, dass heute Morgen um 9 Uhr alle zum gemeinsamen Frühstück im Speisesaal zu erscheinen hatten. Madame Schönberg informierte mich in einer weiteren Nachricht, dass ich heute Nachmittag nochmals zur Anprobe erscheinen soll, weil scheinbar einige Kleider umgeändert werden mussten. Die letzten zwei Nachrichten stammten von Franz-Joseph. Er würde sich im Verlauf des Morgens heute sicher einmal ein Zeitfenster freihalten können, um mir über die anderen Anwärterinnen zu erzählen. Wegen unserer Suche, würde er mich noch wissen lassen, wann, wie und wo. In der zweiten Nachricht bezog er sich auf Madame Schönberg. Ich solle mich nicht wundern, dass vor jedem grösseren Anlass solche Proben stattfänden. Ausserdem sei sie besonders pingelig, weil sie alles perfekt haben wollte. Darum nahm sie immer sehr kurzfristig noch Änderungen vor. Ich lächelte. Ich war gerührt von seiner Führsorglichkeit. Was heute Abend wohl los war, wenn ich schon wieder zur Anprobe musste? Ich legte mein Briggs zurück auf den Nachttisch, stand auf und trottete Zoë müde ins Badezimmer hinterher.
Nachdem ich mir etwas kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, ging es mir um einiges besser. Zoë hatte mir bereits ein Kleid für das gemeinsame Frühstück mit den anderen bereitgelegt. Ich liess den seidenen Stoff durch meine Hände fliessen. Währendem ich den edlen weissen Stoff mit den schwarzen Schnörkeln darauf betrachtete, dachte ich an meine Mutter. Ihr kämen bestimmt die Tränen, wenn sie mich in diesen atemberaubenden Kleidern sehen würde. Als leidenschaftliche Damenschneiderin konnte sie natürlich überhaupt nicht verstehen, warum ihre Tochter lieber in Jeans und Sweatshirt herumlief, anstatt sich in hübschen Kleidern zu zeigen. Irgendeinmal hatte sie es aufgegeben, mich damit zu belästigen und sich stattdessen meiner Schwester Emily zugewendet, die sehr gern solche Kleider trug und die Bemühungen meiner Mutter wenigstens zu schätzen wusste.
Ich gab mir einen Ruck. Ich konnte nicht ewig in Erinnerungen an zu Hause schwelgen. Pünktlichkeit hatte hier am Hof einen sehr hohen Stellenwert.
Ich streifte mir das Kleid über, trug wenig Lidschatten und Wimperntusche auf und schnappte ein paar silberne Sandaletten aus meinem Schrank. Mein Haar band ich mir zu einem praktischen hohen Pferdeschwanz. Keine fünf Minuten später machten Zoë und ich uns auf den Weg zum Frühstück. «Du warst aber richtig schnell, ma chérie. Besitzt du etwa übernatürliche Fähigkeiten?» Zoë zwinkerte mir schelmisch zu. «Und wenn ich welche besässe?» Ich schaute sie einen Moment herausfordernd an. Wir mussten beide sofort losprusten. «Was gibt's denn da so lustiges zu lachen?» Maximilian war wie aus dem Nichts aufgetaucht. «Eure Hoheit.» Zoë verfiel kurz in einen eleganten Knicks und senkte zwischenzeitlich den Blick, was ich ihr schnell nachmachte. «Ich war überrascht, wie rasch Prinzessin Lorraine sich heute Morgen zurechtgemacht hatte. Weil ich dafür immer ein Weilchen brauche, fragte ich sie spasseshalber, ob sie womöglich übernatürliche Fähigkeiten besässe. In diesem Moment sind Sie zu uns gestossen, kaiserliche Hoheit.» Maximilian hörte geduldig Zoë's Schilderungen zu. Er sah blendend aus. Sein hellbeiger Anzug und die hellblau-gestreifte Krawatte liessen ihn frisch und erholt wirken. Dass gestern eine lange Nacht gewesen war, merkte man ihm überhaupt nicht an. «Darf ich die Damen zum Frühstücksbuffet begleiten?» Nickend kamen wir seiner Aufforderung nach und hakten uns eine links, die andere rechts bei ihm unter.
Als wir den Speisesaal betraten, waren alle Blicke auf uns gerichtet. Ich liess mich nicht beeindrucken, lächelte in die Runde und liess mich von Maximilian zu einem freien Platz führen.
«Meine Damen, ich freue mich, Sie alle heute in dieser Runde beisammen zu haben. Ich werde gleich das Tagesprogramm erläutern und Ihnen ein paar allgemeine Infos mitteilen.» Ich schaute immer wieder verstohlen zum Frühstücksbuffet rüber. Es gab alles, von frisch duftendem Brot, über diverse Früchte bis hin zu luftig leichten Omeletten. «Der heutige Tag steht Ihnen zur freien Verfügung, da die meisten von Ihnen eine lange Reise hinter sich haben. Ich freue mich, Sie alle heute Abend zu einem Tanzabend einzuladen und mit Ihnen Zeit zu verbringen. Drei von Ihnen, werden bereits vorher die Gelegenheit erhalten, mich besser kennenzulernen. Nach dem Frühstück würde ich gerne etwas Zeit mit Prinzessin Frederike verbringen.» Ein Mädchen, das gerade an einer kastanienbraunen Strähne herumspielte, fing an zu lächeln. Ihr luftig blaues Sommerkleid betonte ihre wasserblauen Augen. «Prinzessin Zoë lade ich heute zum Mittagessen ein.» Ich warf meiner Zimmergenossin einen anerkennenden Blick zu. «Am Nachmittag würde ich mich über die Gesellschaft von Prinzessin Charlotte erfreuen.» Auf dem Gesicht der Kandidatin, welche mir gestern durch ihr rotes Abendkleid aufgefallen war, breitete sich ein zurückhaltendes Lächeln aus.
«Ab morgen sind Sie frei, ob sie auf Ihrem Zimmer oder hier im Speisesaal sich verpflegen möchten. Sie sollen sich jeweils im Voraus auf Ihrem Briggs für die gewählte Variante eintragen.
So, das wäre alles, was ich zurzeit mitzuteilen habe. Ich erkläre das Buffet somit eröffnet.»
Zoë nahm mich nach dem Frühstück zur Seite. Sie wollte so früh wie möglich mit einem weiteren Tanztraining fortfahren. Heute standen nebst der Wiederholung des Walzers noch ein paar weitere Standardtänze auf dem Programm. Zoë erklärte, dass an einem Tanzabend meist unterschiedliche Tänze getanzt wurden und ein Repertoire der häufigsten Tänze für mich von Vorteil wäre. Ich konnte das gut nachvollziehen und ich wollte ja so gut wie möglich vorbereitet sein. Dass ich keine begnadete Tänzerin war, verkomplizierte das Ganze natürlich um einiges.
Erschienen mir die Schrittabfolgen für den Walzer noch einigermassen plausibel, wollte der Wechselschritt bei der Polka einfach nicht in meinen Kopf rein. Tam-ta-dam, tam-ta-dam, tam-ta-dam. Ich versuchte innerlich mitzudenken. So schwierig konnte das doch nicht sein! An die Drehung, die eigentlich noch dazugehörte, wollte ich gar nicht erst denken. Ich sah Zoë hilfesuchend an. «Ich schaff das nicht! Ich werde mich heute Abend total blamieren!» Ich blieb auf der Stelle stehen, kauerte auf den Boden und schlang meine Arme um mich.
So kannte ich mich überhaupt nicht. Was war bloss los mit mir? Die Kontrolle der Situation schien mir zu entgleiten und ich konnte nichts dagegen tun. Ich war machtlos.
«Nicht weinen, ma chérie.» Zoë legte eine Hand auf meine Schulter. «Aller Anfang ist schwer, hörst du. Du darfst jetzt nicht aufgeben! Du tanzt ganz ordentlich, ausserdem hätte dich Maximilian sonst gestern schon nach dem blind-dance rausgeschmissen.» Wenn sie wüsste. Ich glaubte nicht, dass er mich aufgrund meiner hervorragend miserablen Tanzkünste weitergelassen hatte. Der wahre Grund des Kusses, war mir vorenthalten, aber wer eins und eins zusammenzählen konnte, kam zur Schlussfolgerung, dass ihn etwas an mir anzog. Wenn ich herausfand, was dieses etwas war, konnte ich es vielleicht zu meinem Vorteil nutzen. Das klang nach einem Plan.
«Ich habe Franz-Joseph soeben eine Briggsnachricht gesendet, ob er nochmals Zeit und Lust hat, dir als Tanzpartner zur Verfügung zu stehen. Vielleicht hat er dir noch einen Tipp.» Kaum hatte Zoë geendet, blinkte ihr Briggs. «Er hat Zeit und kommt so schnell wie möglich. Lass uns in der Zwischenzeit die Schrittabfolge des Walzers wiederholen, ma chérie. Den hast du ja schon etwas automatisiert.» Das Üben des Walzers liess mich wirklich für einen Augenblick meine Frustration über den Wechselschritt vergessen. Ich stellte mir wieder vor, wie ich auf Florentinos Rücken sass und durch die Manege tänzelte während das Publikum toste.
«Nicht schlecht.» Ich zuckte kurz zusammen. Ich war dermassen abgelenkt, dass ich mein Umfeld komplett ausblendete und mich Franz-Joseph's Kompliment völlig überrumpelte.
«Miss, darf ich Sie um den nächsten Tanz bitten?» Er deutete eine Verbeugung an und streckte mir seine Hand entgegen. Lachend ergriff ich sie. «Wenn du dich mit einem hoffnungslosen Fall wie mir abgeben willst gerne.»
«Das werden wir ja sehen. Zeig mal, was du kannst.» Kaum hatten wir begonnen, stoppte Franz-Joseph abrupt. «Nein, nein, nein, so geht das nicht. Das ist der falsche Rhythmus. Zoë, könntest du ein paar Takte auf dem Klavier spielen? Mit Musik geht es immer etwas leichter.
Wir nahmen nochmals die Anfangsposition ein. Zoë begann und wir bewegten uns im Rhythmus ihrer Klänge. Plötzlich drehte sich die Umgebung um mich herum. Was war denn jetzt los?
Unbewusst hatte ich mich von Franz-Joseph führen lassen und hatte gar nicht mitbekommen, wie wir uns im Kreis gedreht haben. «Geht doch.» Er grinste mich breit an.
Die Drehung war ein Schlüsselmoment. Obwohl mir das Tanzen mit Franz-Joseph immer noch Unbehagen bereitete, war ich doch zur Erkenntnis gekommen, dass ich mich, was das Tanzen anging, ihm anvertrauen musste. Ich überliess ihm den Lead, liess mich von ihm führen, denn er war absolut ein guter wenn nicht sogar hervorragender Tänzer.
Nachdem ich den Polkaschritt verstanden hatte, war es für Zoë aber noch nicht genug. Da heute Abend verschiedene Tänze getanzt wurden, wollte sie, dass ich ebenfalls wusste, was eine Mazurka und eine Quadrille war. Die Mazurka bestand aus einem Dreierschritt, der in einem kleinen Hopser am Schluss der Schrittabfolge endete. Den Mazurkaschritt meisterte ich erstaunlich gut zusammen mit Franz-Joseph. Mein Selbstvertrauen war sich gerade wieder am Erholen.
Bei der Quadrille stellte man sich in Linien auf und musste gut mitzählen und beobachten, da bei dieser Tanzart der Platz und auch der Partner immer wieder gewechselt wurde.
Zoë sagte am Ende, als ich sie nur ungläubig ansah, dass ich bei der Quadrille auf jeden Fall erst mal zuschauen sollte, da sie doch sehr anspruchsvoll war und schwierig zu üben ohne Gruppe.
«So, ich werde euch beide nun allein lassen und mich für das Mittagessen mit Maximilian bereitmachen.» Mit diesen Worten verliess sie in ihrer gewohnten Eleganz das Musikzimmer.
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