10. Politikcrashkurs

Nachdem Zoë die Tanzstunde definitiv für beendet erklärt hatte, zog mich Franz-Joseph etwas zur Seite.

«Ich bin gleich mit der Schwester von Zoë verabredet. Sie will mir unbedingt noch vor dem Ball ihre Abendgarderobe demonstrieren. Möchtest du mich etwas begleiten, Prinzessin Lorraine? Auf dem Weg dorthin könnte ich dir bei einem Spaziergang durch den kleinen Garten im Innenhof einen Crashkurs politisch aktueller Themen geben. Ansonsten solltest du für heute Abend nicht schlecht vorbereitet sein, denke ich. Du schlägst dich bis jetzt ganz gut.» Er wartete auf eine Antwort von mir auf sein Angebot und sah mich irgendwie nachdenklich an.

«Ja, kein Problem. Ich könnte dringend etwas frische Luft gebrauchen.» Franz-Joseph bot mir gentlemanlike den Arm an, damit ich mich unterhaken konnte. Das hatte ich heute nämlich in den Tutorials gelernt. Prinzessinnen in männlicher Begleitung hakten sich immer unter.

«Beeilt euch aber bitte etwas. Prinzessin Lorraine muss noch zur Kleideranprobe und ins Styling», erinnerte Zoë uns an den strikten Zeitplan. «Wobei, warte, wolltest du nicht sowieso noch bei meiner Schwester vorbeigehen Franz-Joseph? Dann kannst du sie ja gleich dorthin begleiten.»
«Klar kann ich das machen. Wann muss sie denn da sein?» - «In einer Dreiviertelstunde.» - «Perfekt.» - «Ich lasse Madame Schönberg eine Nachricht zukommen, dass du Lorraine bringst. Aber nun geht und nutzt die Zeit, die noch bleibt.»

Es war spürbar, wie gut die beiden einander verstanden und dass dahinter sicher eine tiefe Freundschaft steckte, so locker und selbstverständlich, wie die beiden miteinander umgingen.
Ich dachte an Elsy und dass wir beide eigentlich mal wieder zusammen ausreiten gehen könnten. Als Bereiterin hatte ich leider wenig Freizeit, da ich mich die meiste Zeit mit den Pferden und der Ausbildung beschäftigte. So blieb kaum Zeit, um sich mal mit Freunden zu treffen. Doch die Freundschaft mit Elsy war mir geblieben. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten. Später besuchten wir gemeinsam Reitstunden, bis sich unsere Wege unterschiedlich entwickelten. Für sie blieb das Reiten immer ein Hobby, während für mich mit der Ausbildung zur Bereiterin ein Traum in Erfüllung ging.
Doch um diesen Traum weiterleben zu können, musste ich zuerst dieses Abenteuer bestehen und so schnell wie möglich einen Weg zurück nach Hause finden.

Wir verliessen das Musikzimmer. Franz-Joseph führte mich um einige Ecken und Biegungen. Ziemlich rasch befanden wir uns dann im Innenhof der Hofburg. In der Mitte thronte eine kleine Fontäne. Das Wasser plätscherte friedlich vor sich hin und wurde in einem ausladenden Brunnenbecken aufgefangen. Rundherum waren klein Wege peinlich genau angeordnet, durchsetzt von farbenfrohen Blumenbeeten. Da und dort stand eine Bank, die zum Verweilen einlud.
Auf dem ganzen Weg in den Garten hatten wir kaum ein Wort miteinander gewechselt. Jetzt begann Franz-Joseph zu reden. «Entschuldige, Prinzessin Lorraine, wenn ich vorher etwas zurückhaltend war. Aber ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Man weiss nie, wer um die Ecke kommt. Hier im Garten hat man eine gute Übersicht und kann mögliche «Lauscher» früh erkennen.»
«Das macht nichts. Ich habe so viele Eindrücke zu verarbeiten, da war mir diese Schweigepause gerade recht.» Ich zwinkerte ihm verschwörerisch zu, was ihm sofort ein Lachen entlockte. «Gut, dann bin ich ja beruhigt. Nur kurz, bevor wir uns auf die Politik konzentrieren, aber mich würde interessieren, was du von Prinzessin Zoë hältst und wie es mit den Tutorials soweit funktioniert hat.» Er schaute mich erwartungsvoll an. «Ganz gut denke ich. Ich fühle mich zwar noch fast genauso unsicher wie heute Morgen, aber das eine oder andere ist bestimmt hängengeblieben.» Ich bemühte mich um eine selbstbewusste Haltung. «Du hast dich mir untergehakt, das war sehr vorbildlich.» Ich errötete ein wenig ab diesem Kompliment, hoffte aber, dass er mir das nicht zu stark ansah. «Und Zoë? Ist sie nicht zu streng mit dir?» Auf seinem Gesicht zeichnete sich ein schelmisches Grinsen ab. Ich konnte nicht anders als mitzugrinsen. «Klar ist sie streng. Stell dir vor, sie hat einfach meine Brille entzweigebrochen. Aber sie meint es ja nur gut und will mir helfen. Darum ist es schon gut so. Ich mag sie.» Ich musste ihm ja nicht auf die Nase binden, dass ich heute Morgen völlig schockiert war, als sie mir meine Brille weggenommen und zerstört hatte.
Es entstand eine kurze Pause, in der mich Franz-Joseph von oben bis unten zu mustern schien. «Das hat sie gemacht? Jetzt wo du es sagst. Vorhin ist es mir gar nicht aufgefallen, dass du deine Brille nicht mehr trägst. Aber ich finde, so kommen deine Augen eindeutig viel mehr zur Geltung. Bei uns trägt eben kaum jemand eine Brille. Mit der modernen Lasertechnik können viele Augenerkrankungen geheilt werden. Aber nun genug darüber geredet. Eigentlich wollte ich dir im Schnelldurchlauf die aktuellen politischen Geschehnisse näherbringen. Sie sind leider zahlreicher, als wir es gerne hätten. Lass uns doch kurz auf dieser Bank Platz nehmen.» Wir waren inzwischen in der Mitte des Gartens in der Nähe der Fontäne, wo es einige Bänke darum herum gruppiert hatte. Wir setzten uns auf die Nächstgelegene. Franz-Joseph begann zu erzählen.

***

Es war eine Herausforderung, die aktuelle politische Lage von Österreich-Ungarn auf den Punkt zu bringen. Ich versuchte alles Wichtige zu berücksichtigen und bat Elizabeth, Fragen zu stellen, wenn sie die Zusammenhänge nicht verstand. Für mich war ja alles irgendwie logisch, mehr oder weniger. Für sie als Aussenstehende musste alles extrem verwirrend sein, wenn nicht einmal ich den gesamten Durchblick hatte.
«Wie gesagt, herrscht in unserem Kaiserreich seit Längerem Unruhe. Das Volk macht immer wieder Aufstände, sie fordern eine konstitutionelle Monarchie, weil sie so, wie es jetzt ist, nicht zufrieden sind, und sie denken, dass dies am Kaiser, also meinem Vater liegt. Deshalb wurde vor zirka einer Woche einen Anschlag auf ihn ausgeübt, als er seine traditionelle Mittwochskutschfahrt durch die Wiener Altstadt machte. Von da an wurden die Sicherheitsvorschriften verschärft, was soviel heisst, dass wir, also die Kaiserfamilie, uns nicht ausserhalb der Mauern der Hofburg aufhalten dürfen, da es zu gefährlich wäre. Ein Glück, dass dir da draussen nichts angetan wurde. Was hast du dir überhaupt dabei gedacht?» Ich schaute Elizabeth vorwurfsvoll an.
«Ich habe mich schon gewundert, wo all die Leute waren. Aber in meiner Welt muss man eben nicht darauf achten. Wir haben kein Kaiserreich mehr und es herrscht schon seit über 40 Jahren Frieden.» -
«Ich verstehe. Du warst dir der Gefahr draussen nicht bewusst, weil es bei euch keine Gefahr gab. Das erklärt einiges.» Ich sagte das mehr zu mir selbst. «Nun gut. Des Weiteren solltest du darüber Bescheid wissen, dass wir zum Königreich Frankreich ein sehr gutes Verhältnis pflegen und auch regen Handel betreiben. Ausserdem, das musst du dir wirklich eintrichtern, halte dich fern von der deutschen Kandidatin. Sie ist nur eingeladen, um unseren guten Ruf zu wahren und niemanden auszuschliessen. Aber sie wird bald abreisen. Darum wichtig für dich, halte dich fern von ihr. Jede Interaktion könnte verdächtig wirken. Am besten unterhalte dich gar nicht erst mit ihr, wenn es irgendwie geht. Vor allem nie allein. Wir sind mit dem deutschen Kaiserreich verfeindet.»

***

Ich hörte Franz-Joseph interessiert zu und versuchte mir möglichst alles in meinem Kurzzeitgedächtnis abzuspeichern, dass ich mich heute Abend mit Prinz Maximilian auch anständig unterhalten konnte. Nachdem er mir das Wichtigste der politischen Lage erklärt hatte, informierte er mich über den Ablauf des bevorstehenden Abends. Zuerst fand ein Apéro statt, der den Kandidatinnen die Gelegenheit bot, sich besser kennenzulernen, währendem eine nach der anderen erst für einen sogenannten «blind dance» mit dem Prinzen aufgerufen wurde. Überzeugte man beim «blind dance», welcher zu 99% ein Walzer sein würde, wurde man gebeten, mit dem Prinzen ein Gespräch zu politisch aktuellen Themen zu führen. Im Anschluss daran, war ein riesiges Bankett angesagt. Je näher beim Prinzen man platziert wurde, desto besser hatte man in den beiden vorherigen Runden abgeschlossen. Sass man also entweder zu seiner Rechten oder Linken, zählte man zu seinen zwei Favoritinnen und hatte erneut die Möglichkeit, sich mit ihm zu unterhalten.
Nebst den Kandidatinnen war an diesem Abend der ganze engere Hofstaat eingeladen. Würde ich mich diesen Abend blamieren, dann wäre das eine ziemliche Katastrophe.

Wir befanden uns mittlerweile wieder im Innern der Hofburg und waren vor einer Milchglastür angelangt. Franz-Joseph stoppte davor.
«Madame Schönberg erwartet dich.» Er zeigte auf die Tür, vor der wir standen. «Ich geh dann jetzt zu Sophia.» - «Sophia ist...» - «...meine Verlobte.» - «Ah», sagte ich nur. - «Wir sehen uns bestimmt heute Abend auf dem Ball.» Franz-Joseph zwinkerte mir zu. «Und falls etwas ist, kannst du mich jederzeit über mein Briggs erreichen.» Franz-Joseph drehte sich um und steuerte auf die Tür auf der gegenüberliegenden Gangseite zu, wo ihn Sophia erwartete. Ich begab mich in die Obhut von Madame Schönberg. 

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