1. Der Sprung
Es war ein gewöhnlicher Montagmorgen. Ich befand mich auf dem Weg in die Wiener Innenstadt. Genauer gesagt zur Spanischen Hofreitschule. Dort war ich vor drei Jahren für die Ausbildung zur Bereiterin der Lipizzanerpferde aufgenommen worden.
Ich war schon etwas stolz, dass ich es geschafft hatte, denn ich war das erste Mädchen, dem diese Ausbildung gestattet wurde und das die Tradition männlicher Bereiter durchbrach. Es war ein Verdienst jahrelanger harter Arbeit, die noch mindestens sechs weitere Jahre andauern würde. Es wurde viel von mir erwartet und ich hatte hohe Ansprüche an mich selbst. Nicht zu missachten, dass die Ausbildung sehr kräftezehrend war und ich mich als einziges Mädchen immer wieder aufs Neue beweisen musste. Doch das war es mir Wert. Ich liebte die Pferde über alles und die Ausbildung zur Bereiterin machte mir sehr viel Spass.
Ich war hundemüde und das monotone Rattern der S-Bahn wirkte zusätzlich einschläfernd. Wenn ich doch nur für einen kurzen Moment einnicken könnte. Aber das ging nicht! Ich durfte die Haltestelle auf keinen Fall verpassen, wenn ich den Oberbereiter nicht verärgern wollte.
Eine widerspenstige rote Haarsträhne fiel mir ins Gesicht, die ich sogleich wieder hinters Ohr strich. Ich hing meinen Gedanken nach. Ein dezentes Lächeln breitete sich über mein Gesicht, als ich an die Anfänge meiner Reitkarriere zurückdachte.
Mein Vater war Tierarzt. Seit er mich als kleines Mädchen zu einer fohlenden Stute mitgenommen hatte, faszinierten mich diese Tiere. Ich wollte, wenn immer möglich, mit Vater bei seinen tierärztlichen Besuchen dabei sein.
Einmal wurde er von Toni, einem seiner Stammkunden, gerufen, um bei der Geburt zweier Kälbchen zu assistieren, weil Komplikationen vermutet wurden. Um die Wartezeit etwas zu verkürzen, setzte er mich auf den Rücken eines Shetlandponys. Das gefiel mir so gut, dass ich meinen Vater anbettelte, es das nächste Mal wieder tun zu dürfen. Ich war damals vier.
Mein Vater hatte schnell erkannt, dass mir der Umgang mit dem Pony sichtbar Spass zu machen schien und willigte ein. Er meinte zwar, es sei noch zu früh, das Reiten zu erlernen. Jeder richtige Reiter müsste zuerst lernen, sich um ein Pferd zu kümmern.
So kam es, dass ich mich um Maxi, ein hellbraunes Shetlandpony mit einer strohblonden Mähne, kümmern durfte, wenn mein Vater von Toni gerufen wurde. Zur Ponypflege gehörten Arbeiten und Verrichtungen wie striegeln, Wasser geben oder ausmisten. Am meisten Spass bereitete mir die Auffüllrunde der Wassertränke auf der Weide. Ich musste immer mehrere Male laufen, weil meine kleinen Arme und Beine nicht kräftig genug waren, um grössere Mengen an Wasser zu tragen. Zufälligerweise befand sich nicht weit vom Wasserschlauch die Leckerlibox. Jedes Mal, währendem ich wartete, bis der Eimer erneut mit Wasser vollgelaufen war, verstaute ich in meiner Hosentasche ein Leckerli, welches ich dann auf der Weide meinem sehnsüchtig wartenden Vierbeiner verfüttern konnte.
Weiterhin gegen die Müdigkeit ankämpfend, dachte ich noch über dies und das nach. Und dann nickte ich doch ein.
Es schienen nur Minuten vergangen zu sein, wenn mich mein Gefühl nicht täuschte, als ich von einem lauten Geräusch hochschreckte. Ich drehte mich in die Richtung, aus welcher ich das Geräusch vermutete. Die S-Bahn schien völlig leer zu sein. Ich rückte meine Brille auf der Nase zurecht.
Wo war ich?
Panik kam in mir hoch.
Und, wo waren die anderen Fahrgäste?
Ich sah aus dem Fenster. Draussen konnte ich schummriges Licht ausmachen, aber es schien kein unterirdischer Bahnhof zu sein, denn ich sah nirgends ein Schild mit dem Namen der Haltestelle darauf.
Wenn es kein Bahnhof war, was war es dann? Ich versuchte mir irgendeinen Reim aus dem gerade Erlebten zu machen.
Und da! Das Geräusch! Ich hatte es wieder gehört.
Ich schaute nochmals in die Richtung, aus der es gekommen war, sah geradewegs aus dem Fenster. Bei genauerem Hinschauen erkannte ich einen Bahnarbeiter, der daran war, die Fenster des Zuges in dem ich sass, zu reinigen und mit einem Schaber über ein Fenster kratzte, um das Wasser zu entfernen.
Himmel, ich war auf dem Abstellgleis gelandet! Wie konnte das bloss passieren?
Wie spät war es überhaupt? Mist! Als ich mein Smartphone zücken wollte, um nach der Uhrzeit zu schauen, musste ich enttäuscht feststellen, dass ich es wohl heute Morgen in aller Eile auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte. Aber das spielte jetzt keine Rolle. Ich musste unbedingt zur Spanischen Hofreitschule. Der Oberbereiter würde mich sonst für mein Zuspätkommen tadeln und das konnte ich mir auf keinen Fall leisten.
Ich atmete drei Mal tief durch, straffte meine Schultern, drückte meinen Rücken durch und ging selbstbewusst auf den Bahnarbeiter zu. Als ich ihn nach dem Ausgang fragte, konnte er sich ein Schmunzeln – entweder, weil ich eingeschlafen war oder weil ich in ganzer Reitmontur daher kam – natürlich nicht verkneifen, aber er erklärte mir bereitwillig, welchen Weg ich einschlagen musste.
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