Kapitel 4

Yasmine hielt mich in einer Umarmung und ich genoss die entstandene Wärme, da sie mir Entspannung schenkte. Charlie und Kyle redeten miteinander in der Nähe des Überganges und ich verzichtete darauf, in ihre Richtung zu blicken. Schließlich kamen sie jedoch zurück zu uns und setzten sich, mit dem Rücken an die gegenüberliegende Wand gelehnt, auf den Boden. Sie starrten mich beide an, ohne mich laut zum Sprechen anzufordern.
“Ich habe... eine Art Phobie.“, fing ich bedrückt an. “Oder besser gesagt eine Störung. Normalerweise ist sie nicht so schlimm, aber es gab durchaus schon einen einen ziemlichen Tiefpunkt, der dem heutigen ähnlich war. Sorry, dass ich euch so erschreckt habe.“
“Warum hast du es uns nicht früher erzählt?“, fragte Kyle.
Ich sah ihn unbegeistert an. “Ist es dein Ernst? Ihr hättet mich für verrückt gehalten. Jetzt mal ehrlich: Sieh dir Giraffe an - er hätte mich ausgelacht.“
Der Rothaarige nickte. “Ja, hätte ich wirklich.“
Yasmine ließ mich los und ich sah ihn böse an. Dann lehnte ich mich zurück, legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Es machte mir nichts aus, dass er es so offen zugab, denn ich hatte mich auf diese Antwort verlasen.
“Gehen wir jetzt also nach Hause?“, fragte meine Freundin mit Hoffnung in der Stimme.
“Ja, wir müssen hier ja nicht weitermachen.“, stimmte ihr Kyle zu.
“Wir können ja bei Yasmine einfach mit Horrorfilmen fortfahren.“, nickte Charlie.
Ich senkte den Blick auf die Jungs herunter und begegnete ihren besorgten Augen mit einem festen und bestimmten Gesichtsausdruck. “Nein. Ich lass es nicht zu, dass sie mir die Nacht verdirbt. Es recht, wenn wir spiegelähnliche Oberflächen meiden.“
Eine Weile schwiegen wir nur. Ich fragte mich, ob die Drei mich nun ausgrenzen würden. Ich wäre jedenfalls an ihrer Stelle nicht gut mit all dem klargekommen. Ich würde es ihnen auf jeden Fall nicht verübeln; ich hielt mich ja selbst für undicht.
“Wen meinst du mit 'sie'?“, bemerkte Kyle nachdenklich.
Ich stockte. Habe ich mich wirklich so ausgedrückt?! Sch...lecht.
Ich senke den Blick und schüttle leicht den Kopf. “Nicht heute, nicht hier.“ Ich mache eine Pause. “Lasst uns weitergehen. Ich möchte immer noch den Folterraum sehen und erfahren, woher der ganze Krach kam.“
Ich stand auf, wartete geduldig ihre unsicheren Blicke ab, mit denen sie mich während des Aufstehens zerfraßen, und ging auf einer Höhe mit Yasmine los. Mein Handy hatte ich trotz des Schocks in meiner Hand behalten und beleuchtete mir mit der Taschenlampe nun den Weg. Was würden meine Freunde von mir halten, wenn ich ihnen erzählte, ich hätte vor meinem eigenen Spiegelbild Angst? Ich brachte es nicht über mich, diese Tatsache auszusprechen, nachdem ich sie eine so lange Zeit in meinem Inneren verstecken musste. Außerdem fühlte ich mich stärker, solange es unausgesprochen blieb. Ich spürte eine gewisse Sicherheit, einen Abstand zwischen mir und diesem Wesen im Spiegel, das mir gänzlich glich. Der einzige Unterschied war immer der Gesichtsausdruck gewesen. Die andere ich starrte mir immer selbstbewusst entgegen. Sie musste sich nicht so wie ich mich verstecken. Da war ich mir völlig sicher.
“Ich glaube“, fing Charlie an. “dass es unten eine Tür geben MUSS. Wenn wir sie finden, müssen wir nicht wieder durch den Übergang laufen. Wie gefällt dir das, Iwa?“
Er grinste mich über die Schulter an und ich war ihm dankbar für den sorgenlosen Umgang.
Ich versuchte es mit ein wenig Spaß. “Eine wundervolle Idee. Ich hätte nie erwartet, einen schlauen Gedanken von dir zu hören.“
“Tja, in mir stecken noch so einige Überraschungen.“, behauptete er selbstsicher. “Wenn du zumindest bei einem Spiel von mir dabei gewesen wärst -“
“Dann hätte sie immer einen Grund im Gedächtnis, um dich auszulachen.“, unterbrach ihn Kyle.
Yasmine lachte leise und ich entspannte mich endlich.
Charlie gab Kyle einen spielerischen Schlag in den Bauch. “So schlecht bin ich nicht!“
Ich entschied mich, sie vom Thema abzulenken. Sonst würde es am Ende noch zu der ständigen Diskussion kommen, was denn besser sei: Football oder Basketball.
“Naa, Charlie, hat unser Kyle denn einen Sixpack?“
Der Rothaarige winkte ab. “Der doch nicht.“
“Klar hab ich einen.“, widersprach der andere hochnäsig.
“Du kannst es uns auch gern beweisen. Wir glauben nicht jedem Beliebigen, oder, Yasmine?“, erwiderte ich.
Diese sah mich mit ahnenden Augen an, jedoch würde es nicht mit mir durchgehen. Mehr als ein guter Freund würde Kyle nicht werden, soviel Yasmine und Charlie auch das Gegenteil zu behaupten vermochten.
“Eröffne doch gleich einen Stripclub, Iwa.“, entgegnete meine Freundin.
Wir gingen ab vielen Räumen vorbei, bei denen die alten Türen entweder teilweise aus den Angeln gewissen wurden, Löcher hatten wie Wunden oder gar keine Türen mehr besaßen. Die düsteren Zimmer würdigten wir keines Blickes, denn wir hatten eine ungefähre Vorstellung von ihrem Aussehen. Es gäbe nichts Interessantes zu sehen. Schade eigentlich.
Am Ende des Flures angekommen, stiegen wir, nun wieder stumm, die Treppe hinab, die nicht mal annähernd so prächtig gehalten war wie die im Hauptgebäude. Doch die Atmosphäre war nicht weniger unheimlich.
Nach einer Viertelstunde im Erdgeschoss fanden wir schließlich doch noch einen Ausgang in den Hof und dann auch einen gut versteckten, verwachsenen Eingang ins Hauptgebäude. Dort suchten wir uns einen Raum mit einigermaßen unversehrten Betten und legten und hin. Diese Idee betrachtete ich jedoch sehr skeptisch. Wer wusste, welche Ungeziefer in den Matratzen hausten?
Charlie fiel ein, gruselige Musik anzuschalten, und seit diesem Moment an erzählten wir uns gegenseitig Gruselgeschichten. Wir vermieden einige, wo Spiegel vorkamen, doch uns fielen umso mehr andere ein. Immer wieder verzog Yasmine vor Ekel das Gesicht oder zog verängstigt den Kopf ein. Ich meinerseits versuchte, das Kichern zu ignorieren, das immer ertönte, wenn in der Geschichte ein Tod passierte, als würde es die Grausamkeiten bewahrheiten. Ich sorgte mich ernsthaft um meine geistliche Gesundheit. Ich wollte weder zum Psychiater, noch in die Irrenanstalt.
Obwohl ich ein Nachtwesen war, schlief ich trotzdem schon ein, sobald mir mein Handy die Zeit kurz nach drei anzeigte. Ich war einfach am Ende meiner Kräfte für diesen Tag.

Aus dem unruhigen Schlaf riss mich ein schriller Schrei. Ich war jedoch noch viel zu müde, als dass ich sofort aufsprang und mich nach seinem Verursacher umsah. Langsam öffnete ich meine tonnenschweren Lider. Ich musste blinzeln, um das meinen Augen Angebotene zu verstehen. Mein Gehirn arbeitete im Schneckentempo und weigerte sich, die Informationen zu verarbeiten. Doch als es dann doch geschah, schrie ich selbst auf und konnte nicht mehr aufhören. Zu gern hätte ich behauptet, es sei alles ein Scherz, doch mein Herz fuhr Achterbahn, ich atmete schnell und flach und Tränen flossen aus meinen Augen, wie der Regen am Tag davor auf die Erde geprasselt war.
Ich sah Blut. Viel, zu viel frisches Blut. Trug ein Mensch wirklich so viel in sich? Ich sah Charlie. Charlie, der doch nicht Charlie sein konnte. Ein panischer Ausdruck verzog sein farbloses Gesicht und sein Mund schien immer noch zu schreien. Die roten Haare klebten ihm an der Stirn. Aus seinem aufgerissenen Bauch quollen die Eingeweide heraus wie ein mieses Geschenk aus einem Verpackungskarton.
Ich wusste nicht, warum ich mich noch nicht übergab, doch Yasmine, deren Schrei es gewesen war und die heulend vor dem Bett kniete, das sie sich gestern ausgesucht hatte, war eindeutig an diesem Punkt angelangt. Auch Kyle, der neben ihr saß und sie zu beruhigen versuchte, obwohl er selbst dem Zusammenbruch Nähe stand, war mehr als nur grün im Gesicht.
Das Kichern erklang. Ich verlor meine letzte Beherrschung und alles, was ich am Tag zuvor zu mir genommen hatte, stieg wieder hoch.
Schließlich weinten wir alle drei zusammen in einer Ecke. Laut, verbittert und in einer festen, verzweifelten Umarmung.

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