Kapitel 3
So gut ich es auch verhindern wollte, entriss sich Yasmine meinem Griff, sobald wir uns dem Eingang des Klinikums näherten. Ihr Verhalten konnte ich jedoch nachvollziehen. Auch mir wurden plötzlich die Beine schwer, wie von einer unsichtbaren Last ergriffen, auch mein Herz fuhr eine wahnsinnige Achterbahn, auch meine Lunge verkrampfte sich, sodass es mir schwer fiel zu atmen. Ich verstand nicht, woher die abgrundtiefe Angst stammt. Mein Körper und mein Verstand kämpften der Widersprüche wegen gegeneinander. Einige Augenblicke lang ließ ich den Gedanken im Kopf schweben, ob es nicht eine Warnung sein könnte, verwarf ihn aber.
Das hohe Kichern ertönte. Ich hob schnell den Kopf und sah mich eilig um.
"Was hast du?", fragte Kyle verständnislos.
"Habt ihr das gehört?", wollte ich wissen und meine Stimme zitterte, ohne dass ich es unterdrücken konnte.
"Ich glaube, Iwa ist doch nicht so mutig, wie sie vorgibt.", bemerkte Charlie und grinste breit.
"Halt doch endlich deine Klappe, du Giraffe, ich habe keine Angst!", blaffte ich ihn beleidigt an.
Ich trat näher an das überwältigende Tor und beleuchtete das Innere mit meiner Taschenlampe. Meinem Blick bot sich eine große Eingangshalle, wo allerlei kaputte Möbel da lag oder stand und nach Erlösung keuchte. Ich sah ein durch Staub ergrautes und durch Eindringlinge ausgeweidetes Sofa, eine verbrannte Theke mit einem schwarzen Loch genau in ihrer Mitte, einen türlosen und vollständig besprayten Schrank.
"Warst du schon drinne?", fragte ich Kyle mit einem kurzen Blick nach hinten.
Er lachte. "Sehe ich denn so aus? So hobbylos wie du bin ich auch wieder nicht."
"Iwa, bitte sei vernünftig.", flehte Yasmine, die mittlerweile ihr Handy herausgeholt und die Taschenlampe angeschaltet hatte. "Du willst da jetzt doch nicht reingehen? Iwa! Wir wissen nicht, welche Krankheiten wir dort auffangen oder wer sich die Klinik zum Heim gemacht hat! Ich bitte dich!"
"Geh mal kurz zur Seite, Iwa.", meinte Charlie hinter mir.
Ich trat schnell zwei Schritte nach rechts und sah, wie die Jungs sich an beiden Seiten bei Yasmine untergehackt haben und sich jetzt unter wildem Gezappel und lauten Protestrufen zum Eingang trugen und sie durch eins der großen Löcher in der Halle absetzten. Dann stellten sie sich rechts und links von dem Loch auf und spielten Wachen vor, die eine Königin - also mich - begrüßen. Mit Augenverdrehen machte ich einen Knicks, wobei ich die Seiten meines imaginären Kleides festhielt, und schlüpfte durch ein Loch hindurch. Mir folgten Charlie, nun ebenfalls mit einer Taschenlampe ausgestattet, und Kyle.
Die Klinik war so sehr in Dunkelheit gehüllt, dass ich meine Hand nicht einmal genau vor der Nase gesehen hätte, wäre der leichte Schein unserer Taschenlampen nicht gewesen. Ich achtete sehr genau darauf, was vor meinen Füßen lag, um nicht im Gerümpel zu landen. Jedoch war ich mit dieser Einstellung die Einzige. Und so hörte ich die anderen stolpern und fluchen, während sie sich im Flur umsahen.
Irgendwo krachte es. Wir zuckten zusammen und Yasmine schrie sogar auf. Dann herrschte Stille.
"Leute, lasst uns gehen.", flüsterte die Blondine ängstlich. "Hier muss jemand sein."
"Ja, Yasmine, wir wissen, dass du ein Schisser bist.", erwiderte Charlie ruhig.
"Und ich weiß, dass du ein Arschloch bist.", warf sie ein.
Der Rothaarige zuckte nur die Schultern. Ich verdrehte die Augen. Ihre Konflikte waren mir langsam leid. Dabei konnten sie durchaus ohne sie auskommen, nur wollte Charlie sich nicht anstrengen. Die arme Yasmine hatte ja nichts für ihre Angst.
Nach einem Seufzer nahm ich die Führung an mich. "So, hört mir mal zu. Ich habe mir diese Mutprobe nicht ausgedacht und es macht mir auch nichts aus, hier bei euch zu sein. Ich schlage vor, wir gehen jetzt zusammen durch das Gebäude und vergewissern uns, dass es hier wirklich niemanden gibt. Monster gibt es nicht und Penner werden uns nichts anhaben können. Alles klar?"
Das mit den Monstern versuchte ich mir in diesem Moment selbst auszureden, denn wenn ich mich von dem seltsamen Kichern nicht abzulenken schaffen würde, würde ich hier verrückt werden. Vor drei Jahren war es schon soweit gekommen, dass mich meine Eltern zwangen, Beruhigungsmittel zu mir zu nehmen. Ich war eindeutig nicht gewillt, das alles noch einmal durchzumachen. Monster gab es nicht, genauso wenig wie das eklige Kichern aus dem Nichts und Kreaturen hinter den Spiegeln.
Kyle ließ kurz die Schultern kreisen und trat vor. Grinsend richtete er den Lichtstrahl in die Dunkelheit vor uns. "Alles klar. Dann mal los."
Eine gewaltige Treppe breitete sich vor und aus. Sie hätte zum Ballsaal führen können, so prächtig sie mal ausgesehen hatte, doch stattdessen war es nur der Weg zu den OP-Räumen und Zimmern der Kranken. Der Teppich war gerissen, zertreten und hatte bestimmt schon vor Jahrzehnten seine Farbe verloren. Teilweise fehlte das Geländer wie herausgerissene Zähne im Mund. Bei diesem Vergleich lief mit ein Schauder über der Rücken und er war nicht im mindesten unangenehm.
Wir beschlossen, trotzdem erstmal das Erdgeschoss zu durchsuchen, obwohl mich die gewaltige Treppe so sehr anzog. Yasmine ließ die Versuche nicht nach, uns die ganze Sache auszureden, und ich erfuhr, dass sie der Mutprobe schon zuvor nicht zugestimmt hatte. Weshalb sie in diesem Moment doch bei uns war, war mir ein Rätsel.
Unsere Füße scharrten laut über den alten Laminat, während wir in den linken Korridor einbogen. Einige Stühle lagen auf dem Boden wie gefallene Soldaten, denen Beine herausgerissen wurden. Und obwohl es bei Möbelstücken eigentlich nicht um Blut gehen sollte, waren trotzdem einige dunkle Flecken sichtbar, die ich als dieses deutete. Wahrscheinlich stammte es von den ungewollten Gästen. Die Sitzflächen der Stühle fehlten in meisten Fällen ebenso wie die Rücklehnen. Und wenn nicht, dann sah man große Löcher, aus denen das Polster hervorquellte wie Innereien bei einer Leiche. Ich könnte noch so viele dunkle Vergleiche machen...
Die offen stehenden Türen luden uns förmlich dazu ein, einen Blick in die Räume zu werden, und das nutzten wir auch aus. Leider boten sich uns nur die gewöhnlichen Gesprächzimmer an, also kehrten wir erstmal in die Eingangshalle zurück und folgten dann dem Flur weiter in den rechten Flügel. Die ganze Zeit lang vermieden wir so gut es ging die Gespräche und lauschten der unheimlichen Stille. Ich fand sie jedenfalls unheimlich. Doch ich langweilte mich, weil nichts geschah und weil ich Folterräume zu sehen erwartet hatte. Offensichtlich ganz gleich wie die Jungs, denn sie schienen ebenfalls an Interesse zu verlieren. Ja sogar Yasmine ängstigte sich mittlerweile nicht mehr. So kehrten wir zurück in das Foyer.
"Seht ihr, hier gibt es nichts zu gucken, lasst uns doch nach Hause gehen. Meine Eltern und Schwester sind heute nicht da, wir können Gruselfilme schauen.", redete die Blondine auf uns ein.
Dass es hier nichts zu gucken gab, bezweifelte ich. Wir müssten nur in den Keller gehen oder verschlossene Zimmer finden...
Ich sah, wie Charlie seine grünen Augen verdrehte, und seufzte selbst, genervt von Yasmines ständigen Plapperei. Kyle setzte inzwischen schon den Fuß auf die erste Stufe der Treppe.
Da krachte und polterte es wieder. Wir zuckten allesamt zusammen.
"Es kommt definitiv von oben.", überlegte ich.
"Eindeutig.", pflichtete mir Kyle bei. Zögernd tat er den zweiten Schritt.
"Jetzt bekomm ich aber wirklich Interesse.", meinte ich und folgte ihm vorsichtig die Treppe hoch.
"Leute, ich geh da nicht hoch.", rief Yasmine uns nach.
Als ich stehen blieb und zurück blickte, erkannte ich, dass sie nun als Einzige vor der Treppe stand, die i h gern mit einem Mund verglich. Vor allem, weil der ausgeblichene Teppich so sehr einer Zunge glich.
Charlie schnaubte verächtlich. "Dann bleibst du halt allein. Findest du das etwa besser?"
Hilflos stöhnte Yasmine auf. Sie hatte keine Wahl.
"Sagt bitte nicht, dass wir hier nach Folterräumen suchen.", meinte sie leise und setzte die Füße einen nach dem anderen auf die Stufen, bis sie mich erreichte und wir anderen ebenfalls losgingen.
Das hatte insgesamt drei Stockwerke. In einem davon müsste es links und rechts einen Übergang in die zwei Nebengebäuden geben. Und da eines davon zweistöckig war und wir im Erdgeschoss weder einen weiteren Ausgang noch die Übergänge gefunden hatten, ging ich davon aus, dass wir im ersten Obergeschoss auf sie stoßen würden.
Ich bemerkte die lastende Stille, während wir die Treppe hochsteigen. Zum Teil machten wir uns Sorgen, wer den Krach verursacht haben mochte und zum anderen... Dieser Teil war mein eigenes Kummer, da ich nun feststellte, dass ich unsere Bewegungen nicht hörte. Ich bin mir nicht sicher, ob meine Freunde es bemerkt hatten, doch mich störte es. Die Stille war falsch und sie bedrängte mich. Mist, was passierte mit mir?! Irgendwie lief heute alles schief.
Im ersten Obergeschoss war es nicht heller. Durch die eingeschlagenen Fenster hätte theoretisch Licht einfallen sollen... Wenn der Mond überhaupt zu sehen wäre! Doch das war immer noch nicht der Fall. Und die wieder steigende Schwüle mit dem Geruch des abgestandenen Holzes erschwerten mir das Atmen.
"Wenn wir hier draufgehen, seid IHR schuld.", meckerte Yasmine leise.
Wir ignorierten sie und bogen in den linken Flügel ab. Kurz schauten wir in die Behandlungs- und Krankenzimmer hinein, fanden jedoch nichts Seltsames. Die alte Möbel ächzte nach Erlösung und mehr gab es nicht zu sehen.
"Ey, Leute...", rief Charlie gedämpft.
Ich schloss die Tür, die ich vor kurzem geöffnet hatte, und sah Kyle aus dem Zimmer weiter hinten hervortreten. Yasmine trat von der Wand gegenüber zu mir. Charlie stand einige Meter weiter mitten im Durchgang und leuchtete mit seiner Handytaschenlampe in die Ferne.
"Dort reflektiert etwas das Licht.", beendete er.
Der Rothaarige sah zu uns zurück und ich konnte seine stumme Frage hören, ob wir ihm folgen würden. Wir taten es. Vor uns erstreckte sich ein langer Übergang, auf den wir dann alle überrascht starrten. Seine Wände bestanden aus Glas, von oben bis unten, genauso wie der Boden und die etwas niedrige Decke. Gäbe es unsere Taschenlampen nicht, wir wären wie in einem schwarzen Loch gefangen. Doch dadurch, dass sich die Lichtquellen nicht außerhalb des Ganges befanden, kam es mir so vor, als würde er nicht aus Glas bestehen, sondern aus... Spiegeln.
"Unheimlich...", raunte Yasmine.
Ich starrte weiterhin geradeaus. War das ein Zufall?
Mich überfiel ein Zittern, sobald ich bemerkte, dass ich kein einziges Loch erkannte. Die Glasflächen sahen wie neu aus. Kein Staub, kein Dreck, kein Graffiti, kein kleinster Riss. Der Übergang passte hier nicht rein. So überhaupt nicht.
Ich trat einen Schritt zurück. “Ich... gehe hier nicht lang. Lasst uns einen anderen Weg suchen.“
“Du hast Angst? Ausgerechnet jetzt?“, wunderte sich Charlie und lachte.
Kyle blickte mich an. Ernst und Besorgnis vermischten sich in seinem Gesicht. “Iwa?“
Gern hätte ich ihnen erzählt, was mich so kümmerte, doch ich wollte nicht, dass sie mich für irre hielten. Von diesen Gedanken hatte ich schon genug.
Also schüttelte ich den Kopf. “Nein. Ich mag paranoid vorkommen, aber nein.“
Ich wollte hinzufügen, dass sie mich gern allein lassen konnten, damit ich mir selbst einen Weg suchte, doch auch diese Idee gefiel mir nicht.
Yasmine fasste mich sanft an Oberarm an und ich sah fragend auf sie herunter.
“Geht es dir nicht gut?“, wollte sie wissen.
Ich sammelte Mut, straffte die Schultern und schüttelte lächelnd den Kopf. Los, Iwa Raven, du bist stark. “Nein, nein, alles gut.“
Die Blicke meiner Freunde waren zwar immer noch misstrauisch, doch sie bohrten nicht weiter nach.
“Ich gehe vor.“, bestimmte Kyle. “Dann die Mädels und dann du, Charlie.“
“Ist gut.“, stimmte ihm dieser zu. “Ich bin mir auch nicht ganz sicher, ob das Glas noch stabil ist.“ Er sah über seine Schulter zurück und schien dort nach etwas zu suchen. “Und ob hier vielleicht nicht doch jemand ist.“
Das Letzte bezweifelte ich immer stärker. Die Angst fraß sich durch mein Selbstbewusstsein und meine Mut hindurch und breitete sich zufrieden in meinem Herzen aus wie eine Königin, die alle ihre Gegner beiseite fegt. Das gefiel mir ganz und gar nicht.
Unsicher trat Kyle auf den Übergang zu, machte einige vorsichtige Sprünge und bedeutete und dann mit einem Wink, ihm zu folgen. Er war sichtbar erleichtert. Ich konnte das von mir nicht behaupten.
Widerwillig schritt ich auf das viele Glas zu. Je mehr ich mich ihm näherte, desto mehr ähnelte es den Spiegeln. Dass Yasmine neben mir ging, veränderte dabei rein gar nichts an dem unangenehmen Gefühl.
Rechts von mir erklang ein Kichern. Wie in Zeitlupe drehte ich den Kopf herum und schaute meinem Spiegelbild entgegen. Die schwarzen Haare und T-Shirt verschmolzen mit der dunklen Umgebung, doch umso deutlicher warm das Gesicht und der Hals zu erkennen. Der erschrockene Ausdruck wurde durch das sich ausbreitende Grinsen wie vom Wasser weggewischt. Die Augen verfinsterten sich um einiges, obwohl ich nie angenommen hätte, dass das bei ihrer Farbe noch geht.
Ich blieb stehen und trat näher, doch mein Spiegelbild zu berühren, traute ich mich nicht. Ich hatte den Eindruck, es wäre lebendig. Als wäre es mein Zwilling, der nie geboren wurde.
“Hast du mich vermisst?“, hörte ich es sagen.
Ich weitete entsetzt die Augen und es fing an zu lachen, lauter und lauter. Obwohl meine Füße vor kurzem noch so schwer wie Blei waren, fand ich genug Kraft, um den ersten Schritt zu machen. Bestürzt stolperte ich durch den Gang, doch worauf auch immer mein Blick fiel, es war mein Spiegelbild, das mich aus irren Augen anstarrte und auslachte.
Und irgendwann endete das Labyrinth und mich überfüllte Freude, einfach nur eine raue, weiße Wand vor mir zu haben. Gierig schnappte ich nach Luft und versuchte, mein rasendes Herz zu beruhigen. Ich rutschte an der Wand entlang zu Boden und umfasste die Knie mit den Armen, während ich schnell ein- und ausatmete.
“Iwa?“, fragte jemand und legte mir eine Hand auf die Schulter.
Ich kreischte auf und schreckte zurück wie ein kleiner, ängstlicher Hase. Genau genommen war ich das sogar auch.
Zwei starke Hände fassten um meine Oberarme. Ich drückte mich stärker gegen die eiskalte Wand hinter meinem Rücken. Mein Herz noch schneller gegen meine Brust und drohte, sich daraus zu befreien.
“Iwa! Iwa, ich bin es! Ich bin Kyle, kannst du mich hören?! Iwa?“
Doch ich sah niemanden. Die Dunkelheit umhüllte mich wie eine Decke, aber Wärme schenkte sie mir nicht.
“Iwy, du bist stärker.“, sagte eine andere Stimme und eine Dritte wiederholte diesen Satz einem Echo ähnlich.
Ich bin stärker... Ja, reiß dich zusammen, Iwa Raven, du bist stärker!
Langsam hellte sich meine Sicht auf und ich blickte in zwei blaue Augen, die so klar waren wie der Sommerhimmel, in dem gelbe Sternchen tanzten. Kyle war besorgt und entsetzt. Hinter ihm standen Yasmine und Charlie, dessen Gesichter die gleichen Gefühle widerspiegelten.
“Iwa?“, fragte Kyle knapp.
“Ja.“, antwortete ich.
Er lehnte sich zurück und atmete erleichtert aus. “Gott sei dank.“
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Es ist nach zwei Uhr nachts. Samstagabend. Das Kapi hat über 2400 Wörter. Und ich habe drei ganze Abende gebraucht, um es abzutippen, wenn nicht vier! Endlich bin ich erlöst.
Hoffe, es war endlich spannend und hat euch gefallen.
Eure müde Once
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