Durch die Kraft der Flammen

Fliehen solle er, hatte man ihm gesagt, weit weg, um dem tödlichen Strom zu entkommen, der sich über den Rand ergießen und alles Leben auf seinem Weg auslöschen würde. Fliehen. Wegrennen wie ein furchtsames Tier. Weg von seiner Heimat, von allem, was ihm bekannt war, was er liebte, mit dessen Anblick er aufgewachsen war. Nur, um nicht zu sterben. Weshalb sorgten sich nur alle um ihn? War ihm schon jemals etwas geschehen? Er war oft hinaufgekommen, hatte den Berg bestaunt, in den Krater geblickt. Es hatte schon seit langem immer wieder kleine Ausbrüche gegeben, kleine Aschewolken, die aufgestiegen waren. Aber er hatte noch nie das Feuer gesehen, das aus diesem Berg aufsteigen konnte. Hier, von etwas weiter weg, sah es so aus, als würde der Berg ein Spektakel für sie veranstalten, mit roten, orangen, gelben und weißen Lichtern die finstere Nacht erfüllen. Leuchtende Flüsse schlängelten sich an seinem Hang hinunter, kleine Tropfen erweckten den Eindruck einer Stadt, deren Lichter man von einem Hügel aus beobachtete. Ein Stück Vertrautheit beinahe. Er konnte die Hitze nahezu spüren, die von dem Feuerstrom ausging. Seit Stunden schleuderte der Berg nun sein Feuer in die Luft, mal höher, mal weniger hoch, ergoss Flammen über seinen Kraterrand. Er hatte schweigend zugesehen, wie sich das Feuer seinen Weg den Hang hinab gesucht und eine Schneise der Zerstörung hinterlassen hatte. Dann hatte es das Dorf erreicht, die kleinen, windschiefen Hütten, in denen ärmliche Menschen gelebt hatten, hatte es in Schatten und Flammen vernichtet. Das Holz hatte in der Hitze angefangen zu brennen, bevor die Hütten verschluckt worden waren, sie hatten wie kleine Fackeln von unschuldigen Kindern ausgesehen, die abends spielten. Er hatte ein wenig Mitleid mit denen, die ihr Heim verloren hatten. Aber es würde sie von hier fernhalten. Von hier. Und von ihm.

Er schlug träge mit den Flügeln, sodass sie ihn näher an den Vulkan heranbrachten. Feuer regnete auf seine Haut und wärmte ihn in dieser kalten Nacht. Es hinterließ keine Spuren auf seinen Fingern und Armen, keine Blasen, keine verbrannte Haut. Das Feuer war schon immer sein Element gewesen, etwas, vor dem er sich nie gefürchtet hatte. Warum auch? Er war das Feuer, wenn er wollte. Seine flammenden Flügel ließen ihn strahlen, ihn erscheinen wie aus einer anderen Welt. Und war er das nicht auch? Als man ihm gesagt hatte, dass der Vulkan ausbrechen würde, hatte er das gewusst. Längst gewusst. Er hatte das Feuer, das sich seinen Weg an die Oberfläche suchte, schon lange gespürt. In jenen Tagen war er noch öfter als sonst auf die Bergspitze gestiegen. Erst heute Nacht, als ihn die ersten Funken getroffen hatten, hatten sich seine Flügel entfaltet und ihn tragen können. Und so schwebte er über dem Vulkan, blickte aus flackernden Augen in seinen brennenden Schlund und spürte, dass seine Kräfte wuchsen, dass er stärker wurde mit jedem Funken, der seinen Körper traf. Gestern hatte er nicht einmal die Macht gehabt, eine Kerze anzuzünden, bald würde er in der Lage sein, den Feuerstrom unter ihm zu lenken oder dem Feuer zu befehlen, in des Berges Schlot zu bleiben. Er würde Menschenleben zerstören können, wenn er wollte. Unter der Erde schlummerte viel Feuer, das er wecken konnte. Aber er würde auch Menschenleben beschützen können. Er war kein schlechtes Wesen, er war einem Menschen nicht unähnlich. Ohne seine Flügel ging er glatt als Menschenjunge durch, und er hatte lange geglaubt, einer von ihnen zu sein. Zwar elternlos, aber einer von ihnen. Doch er hatte sich nie verändert, hatte über Jahre hinweg ausgesehen wie ein sechzehnjähriger Junge, mit rotem Haar und braunen Augen. Sie hatten ihn gut behandelt, auch wenn sie ihn immer ein wenig unheimlich gefunden hatten. Irgendwann hatte er es herausgefunden. Er hatte sich nie verbrannt, nicht einmal, als er einmal ins Feuer gestolpert war.

Er wollte nichts Böses. Er war ein Geschöpf dieser Welt. Er wusste nicht, woher er kam, und er wusste nicht, wohin er sollte, wenn die Welt zerstört würde. Doch für den Moment brauchte er Zeit, Zeit, die ungewohnte Stärke, die ihn durchströmte, kontrollieren zu lernen. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn er im Zorn plötzlich ein Haus in Flammen setzen würde oder sich in überschwänglicher Freude seine Flügel entfalten würden.

Er flog ein wenig tiefer, so tief, bis er sich auf den Kraterrand stellen konnte. Um seine Füße strömten Feuer und Stein, auf sein Haupt regneten Feuer und Asche herab. Seine Flügel brannten, wurden immer heißer. Seine Kleidung wurde ihm von der Haut gebrannt, zerfiel zu Ascheflocken. Langsam wurde sein bloßer Körper von Flammen umhüllt. Er brannte, alles an ihm brannte. Die Kraft, die er aus dem Feuer zog, ließ ihn zu Boden stürzen. Seine Hände gruben sich in den flüssigen Stein, er rang nach Atem. Die heiße Luft einzusaugen war für ihn trotz allem ungewohnt, und er musste sich anstrengen, um sie zu atmen. Doch es gelang ihm. Seine Lungen füllten sich mit purer Hitze, und langsam richtete er sich wieder auf. Er war gewachsen, stellte er fest, seine Haut schimmerte golden, seine Flügel waren zu mächtigen Schwingen geworden. Das Feuer um ihn herum toste noch immer, doch er beschloss, dass es jetzt genug war. Langsam verstummte der Vulkan, der flüssige Stein wurde hart, der tödliche Strom erstarrte, das Feuer fiel zurück in den Schlund, aus dem es gekommen war. Er lächelte.

Ihm war eine große Macht geschenkt worden, und mit ihr eine große Verantwortung. Er wusste um viele Geister, die ihre Kraft dazu benutzten, den Menschen zu schaden. So ein Wesen wollte er nicht werden. Feuer war schrecklich, tödlich, doch es hatte gute Seiten. Es schuf Wärme und Licht. Und Geborgenheit, die Menschen in solchen Zeiten gut gebrauchen konnten. Er wollte sie ihnen geben, und sie gleichzeitig vor den zerstörerischen Mächten dessen bewahren. Er hatte einen langen Weg vor sich, doch er war bereit, ihn anzutreten, um etwas Gutes in dieser Welt zu bewirken.

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