Kapitel 9

Eigentlich sollte ich seinen Arm loslassen. Eigentlich sollte ich meine Wange nicht an seinen Oberarm schmiegen und ihn meinen leicht flehenden Blick schenken. Ich sollte eigentlich Distanz bewahren, aber es fühlt sich gerade so unbeschreiblich schön an, eine kleine Verbindung zu haben und mich zu entspannen, mich einmal nicht von der ernsten und stoischen Seite zu zeigen. Ich umschlinge sogar seinen Arm mit beiden Armen, sorge damit für eine noch stärkere Überraschung auf seinem Gesicht. Sogar seine Lippen spalten sich. Ich hoffe so sehr, dass er meinen Herzschlag nicht durch seinen Mantel spürt. Ich bin so aufgeregt, dass ich sogar das Zittern in meinen Fingern spüre. Er weiß nicht, dass es meine erste Erfahrung ist und ich eigentlich keine Ahnung habe, wie ich mit meinen Emotionen umgehen soll, weil ich sie immer unterdrückt habe. Er weiß gar nicht, dass ich eigentlich verdammt viel Liebe und Aufmerksamkeit brauche, auch wenn ich mir jedes Mal wieder sage, dass ich sie nicht brauche und dass ich auch keinen Mann an meiner Seite haben will. Er weiß nicht, dass ich gerade einen inneren Konflikt habe, dass mir vor Unruhe heiß wird. Er weiß gar nichts. Keine Tränen, Avin. Keine Tränen! Ich erlaube es mir, tief durch die Nase zu atmen und beim Ausatmen auf den Weg zu schauen. Wir stehen hier mitten in der Stadt. Für diesen einen Moment ist die Welt für mich stehengeblieben. Für diesen einen Moment habe ich gefühlt und genossen.

"Komm. Ich bringe dich in mein Lieblingsrestaurant." Ich genieße die Sanftheit seiner Stimme. Wie gut es tut. Genau das brauche ich. Ich darf seinen Arm weiter umklammert haben, während wir weiterlaufen. Meine linke Hand verharrt auf seinem Bizeps, meine rechte sucht wieder in meiner Jackentasche nach meinem Messer. Meine Mutter kann es mir nicht abgenommen haben. Hat Avdar wieder in meinen Sachen geschnüffelt? Egal, ich frage sie später. Gerade will ich mich auf diesen Moment konzentrieren. Wie schön es sich anfühlt, umschlungen an meinem ... an einem Mann durch die Stadt zu laufen. Er in seinem Anzug und Mantel und ich in meinen befleckten Schuhen und Hose. Ich schmunzele. Wenigstens kauft er mir keine neuen Schuhe und Hose. Ich öffne den Reißverschluss meiner schwarzen Winterjacke. Heute Morgen herrschten noch -3 Grad, da konnte ich nicht in Lederjacke raus und jetzt, wo es 13 Grad sind und ich überraschend viel Zuneigung zeige, ist mir sehr warm. "Was ist dein Lieblingsessen?", fragt er mich. Ich höre seine unterdrückte Vorfreude raus. Es ist ein kleines Beben in der Stimme, das ich von mir kenne. "Ich liebe Frühlingsrollen und alles, was in Blätterteig frittiert ist." Ich habe jetzt schon wieder riesige Lust darauf. "Und deins?" "Ich habe kein richtiges Lieblingsessen. Ich esse alles, außer Auberginen." Ich esse selten Auberginen. Nur, wenn meine Mutter sie in ihr Iprax macht oder als größere Würfel in ihrem Nudelauflauf. Mit einer guten Marinade wird es sicherlich schmecken.

Vom Weiten kann ich schon seinen Maserati sehen und gerade bin ich echt unschlüssig, wann ich seinen Arm loslassen soll. Mir wird wieder warm, dabei gibt es keinen richtigen Grund dafür. Ich weiß nicht, wieso mich das gerade so stresst. Ich will eigentlich nicht loslassen, aber ich will auch nicht permanent an ihm klammern. Am besten lasse ich jetzt schon los, bereue es aber, weil ich den Weg zu kurz eingeschätzt habe und jetzt betreten mit meiner Douglas-Tüte neben seiner großen Statur zum Auto laufe. Weil es mir gerade so - grundlos - unangenehm ist, laufe ich schneller zum Auto und kann auch direkt einsteigen, als ich an der Beifahrertür ankomme. Im Auto ist es warm. Die Sonne scheint noch, aber so langsam geht sie unter. Auf der Autobahn habe ich ein herrliches Bild des dunkleren Blaus des Himmels und der pinken und orangen, schmalen Wolken. Wenn es wärmer wird, könnten wir ja mal am See bei ihm essen ... oder so. Ich weiß nicht. Ach, ich verwerfe diesen Gedanken. Wer sagt denn, dass es dazu kommen wird? Wer sagt denn nicht, dass es bald schon vorbei ist? Was ist, wenn er doch nicht mehr will? Will ich denn überhaupt? Keine Ahnung. Ich schiele zu ihm und dann auf meine Nägel, erinnere mich an den Moment, an dem er meine Hand gehalten hat. Es war schön. Ich fahre mir zärtlich über meinen linken Handrücken, imitiere die Wärme seiner Hand, als ich sie dann mit meiner rechten bedecke. Nur so lange, bis ich angerufen werde. Es ist Perwin.

"Ja?"

"Avin, wo bist du?" Sie hört sich unruhig an. Meine Hand schnellt instinktiv zu seinem Oberarm. Ist was mit Mama passiert?

"Was ist los?"

"Baba geht es wieder schlecht." Durchatmen, Avin. Es wird wieder gut.

"Kann er sich bewegen? Hat er schmerzen?"

"Ja, aber er wirkt total müde und er atmet zittrig. Gerade war Reber hier. Er meinte, er will nur seine Sachen holen und dann hat er wieder nach Geld gefragt. Dann ist Baba wütend geworden und hat ihn rausgeschmissen." Ich seufze. Wieso machen sie ihm die Tür auf? Wissen sie nach all diesen Jahren nicht, dass es immer gelogen ist, wenn er seine Sachen holen will? Ich würde sie am liebsten dafür anschreien, aber ich weiß, dass sie zu nah am Wasser gebaut ist und mein Vater ihr jetzt besondere Sorgen macht.

"Ich komme. Sag Pelin oder Avdar, dass sie ein Glas Wasser für ihn bringen sollen, füllt auch ein Glas mit Zitronenwasser auf und bleib du so lange bei ihm. Das regelt sich schon wieder. Drängt ihn nicht, es zu trinken. Er wird sich erst darauf konzentrieren, wieder normal zu atmen." Meine Hand zittert am Hörer.

"Okay. Brauchst du lange?" Ich schaue einmal hoch und sehe, dass wir schon in die Plattenbausiedlung einfahren.

"Bin gleich da. Ciao.

"Tschüss."

Ich atme tief durch. Dieser gottlose Wichser hält es wirklich für nötig, aufzutauchen. Aufzutauchen und wieder nach Geld zu fragen! Hat er überhaupt keine Scham? Kein Funken an Achtung, Stolz und Ehre? Wie kann er jedes Mal wie eine gottverlassene Ratte bei uns auftauchen und jedes Mal den Nerv haben, nach Geld zu fragen? Und dann noch meinen Vater? Der, der ihn nie in die Wohnung lässt und ihn sogar Stunden vor der Tür zu jeder Jahreszeit gammeln lässt, der ihn doch letztens in der Werkstatt verprügelt hat, wie er es verdient? Wirklich ihn wagt er es zu fragen, statt sich wie ein 31-Jähriger endlich aufzuraffen und sich einen verfickten Job zu suchen? Ich bebe. Ich rase. Ich habe wieder diese unbeschreibliche Wut in mir, die alles andere in Vergessenheit drängt. Ich spüre wieder die Gewaltbereitschaft. Ich will ihn wieder mit einem Messer bedrohen, damit er sich endlich verpisst. Ich hasse ihn. Gott! Wie sehr ich ihn hasse! Ich spüre die Anspannung am ganzen Körper. Mein Gesicht ist streng verzogen, meine Atmung steigt. Es kratzt schon in meinen Bronchien. Ich darf mich nicht zu sehr belasten. Er ist es nicht wert. Ich muss mich beruhigen. "Avin." Ich schaue hoch. Wir stehen vor meiner Haustür. Wir sind da. Ich muss gehen. Meine Hand liegt immer noch auf seinem Oberarm und seine Augen bedenkend auf mir. "Kann ich helfen? Soll ich hier auf einen eventuellen Krankenwagen warten?" Ich verneine es kopfschüttelnd. Hierbei wird uns niemand helfen können und ich hasse diesen Rechtsstaat so sehr dafür. "Nein", flüstere ich, verbiete mir jede Träne hier vor ihm. "Danke für die Fahrt. Wir sehen uns." Ich muss raus. Ich kriege keine Luft. Meine Brust schnürt sich zu. Ich hasse dieses Leben. Ich hasse es!

Mein Blick gleitet kein einziges Mal durch die Glastür zu ihm. Ich weiß, dass er dort steht. Ich höre den Motor noch, selbst als ich schon im Aufzug bin. Er fährt erst jetzt davon. Der Aufzug braucht heute extrem lange, sodass ich vor Frust schon gegen die 11 boxe und die Kabine zum Rütteln bringe. Wie lange denn noch?! Der Aufzug kommt zum Stillstand, aber noch kommt kein schriller Signalton, weshalb ich schon wieder ungeduldig gegen die Zahl schlage. Endlich höre ich die schrille Klingel und endlich öffnet sich die beschissene Aufzugtür. Die Schuhe und die Fußmatte im Flur sind wild zur Seite gestoßen. Er hat den Junkie bis hier rausschleppen müssen, weil irgendeiner meiner Schwestern ja so schlau sein musste und ihm geglaubt hat. Er schwört auf Gott und all unsere Köpfe ohne jeglichen Respekt, sogar auf die Jungfräulichkeit seiner Schwestern ohne Scham und Ernsthaftigkeit. Denken sie wirklich, dass er die Wahrheit sagt? Ich schließe seufzend die Tür auf, schlüpfe schnell aus meinen befleckten Schuhen, die ich auf dem Weg ins Schlafzimmer in das Bad schmeiße. Mein Vater atmet immer noch stärker. Perwin, Pelin und Avdar sitzen alle ahnungslos und überfordert auf dem Bett. Es scheint nicht so, als hätte er schon getrunken. Er braucht ein wenig.

Ich nicke wortlos raus, lasse mir von Perwin die Getränke geben und taste Puls und Temperatur meines Vaters ab. Er seufzt leise bei jedem Ausatmen. Er ist belastet. Er braucht Ruhe. Ich weiß, dass er sich eine Auszeit nehmen möchte, ein anderes Land irgendwo über Monate besichtigen will, aber gerade kann er das nicht. Wenn er weg ist, wird es nur schlimmer. Seine Temperatur ist normal und sein Puls beschleunigter als sonst, aber nicht allzu schnell. Er hat sich schon ein Stück weit beruhigt. Gleich ist sein Puls wieder im niedrigen 70er-Bereich. Mein Vater leckt sich über seine Lippen. Er hat Durst. "Hier, Wasser." Ich lege das Glas in seine geöffnete Hand, stütze ihn dann mit meiner freien Hand auf, sodass er in Ruhe trinken kann. Ich spüre wieder die Leere in mir. Immer, wenn etwas passiert, schalte ich so gut wie ganz ab. Auch, wenn der Junkie da ist. Die Wut verpufft. Es ist, als würde mein Körper nicht wollen, Energie für ihn und diese Situationen zu verschwenden. Mein Vater trinkt das große Glas komplett aus und legt sich dann wieder hin. "Ez dê ava numê deynim ser mêza te." Das gemeinte Zitronenwasser hebe ich deutend an, auch wenn er seine Augen die ganze Zeit zu hat und stelle es, wie angekündigt, auf seinen Nachttisch. Er braucht Ruhe. Er wird versuchen zu schlafen und entweder schafft er es oder er wird wieder nicht durchschlafen können.

Ich verlasse das Schlafzimmer, lasse die Tür aber für den Notfall offen sowie meine eigene. Mir ist der Hunger vergangen. Ich möchte Ablenkung. Ich brauche Ablenkung und am liebsten würde ich ihn anrufen. Ich starre auf meine Wandregale, während sich das Bedürfnis immer weiter um meine Kehle schnürt. Meine Brust hebt. Mir steigen die Tränen auf, die ich die letzten Wochen wieder unterdrückt habe. Es sind nicht viele, vielleicht vier, fünf Stück, aber ich spüre sofortige Entlastung im Brustkorb. Ich will nicht mehr. Ich habe keine Lust mehr. Wenn diesem verfickten Junkie nicht einmal der Herzinfarkt der eigenen Mutter aufhält, was dann? Allah, ich flehe dich an, bitte lass nur das endlich ein Ende haben! Nur das! Ich wische mir meine Tränen weg. Meine Zimmertür ist offen und ich will nicht, dass meine Schwestern mich so sehen. Sie haben mich noch nie weinen sehen und das soll so bleiben. Ich muss noch beten. Meine Routine beginnt: Nagellack entfernen, beten, meine Bittgebete verrichten und dann lesen. Endlich. Ich bestelle und kaufe mehr Bücher als ich sie lese. Aktuell muss ich noch 45 Bücher lesen, aber stattdessen füllen sich meine Merklisten immer weiter. Meistens lese ich immer wieder dieselben Bücher der einzigen Autorin, die mich nie mit ihren Geschichten enttäuscht.

Manchmal schlage ich wahllos ein Kapitel aus Der Mann im Schatten, Akzeptanz, Herzensdieb oder all den anderen Büchern von Helan auf, wenn ich sie nicht am Handy lese, um so in den Schlaf zu fallen und auch heute tue ich es. Dabei könnte ich eins der vielen Psychologiebücher lesen oder die zur Kritik der Pharmazie, aber dafür müsste ich mich komplett konzentrieren können, um mir zusammenfassende Notizen zu machen und mir eventuell einige Fakten zu merken. Jetzt will ich mich einfach nur ablenken. Wenn ich mir das Verhalten des männlichen Protagonisten hier im Buch angucke, muss ich an ihn denken. Im Buch kauft Arian Ayla ihre Lieblingschips in Massen und heute hat er in Massen meinen Lieblingsduft gekauft, damit es um ihn herum ist. Der Fakt lässt mich lächeln. Ich wollte schon immer die Kerze aus der Rituals-Reihe haben, wollte aber nie so viel Geld dafür ausgeben, egal wie sehr ich Duftkerzen liebe. Ich schweife immer wieder mit den Gedanken ab. Immer, wenn ich auf eine gewisse Zeile im Kapitel stoße, muss ich an ihn denken. An seine eisblauen Augen. Daran, dass ich ihn kaum mit dem Namen anspreche, selbst in Gedanken nicht. "Azad", murmele ich. Ein schöner Name. Freiheit bedeutet er. Dastan ist ein episches Gedicht auf wahrer Begebenheit. Gedichte, die dem Dastan entsprechen kenne ich nur vom Krieg. Sind seine Eltern auch geflüchtet? Wenn nicht, dann seine Großeltern. Es kann ja sein, dass sie sich hier alles aufgebaut haben oder seine Familie war schon damals in Kurdistan wohlhabend, sodass sie sich vom gottlosen, bipolaren Diktator Saddam freikaufen konnten. Ich weiß es nicht.

Wie steht er zur Politik? Liest er auch Bücher? Was für Bücher liest er? Wie kam es zur Entstehung der Firma? Waren die Begründer auch Medizintechniker? Gab es das schon damals? Mag er Instant-Nudeln? Ich klappe die dritte Schublade meines Nachttisches auf, nehme mir eine Packung raus, die ich mir jetzt mache. Ich habe wieder Hunger. Ich habe immer Phasen in meinem Leben, wo mich etwas extrem fasziniert. Sei es chinesische Kampfkunst, Autos, Hautpflege und ihre Inhaltsstoffe oder Ramen. Es ist schade, dass die Interessen nicht allzu lange anhalten, aber die Grundkenntnisse und ein leichtes, mir hilfreiches Wissen bleiben mir. Ich setze in der Küche einen Topf mit Wasser auf. Meine Schwägerin war laut der laufenden Spülmaschine hier. Ob der Junkie schon hier war, als sie noch bei uns war? Es ist nichts, was sie nicht kennt. Immerhin war sie ja bei meinem Bruder, als er ihn am Telefon beleidigt und angeschrien hat. Gegessen wurde demnach schon. Ich füge Gemüsebrühe und Pfeffer hinzu, hole die Geflügelwürstchen aus der Tiefkühltruhe, die ich in der Mikrowelle vorwärme, dann in Scheiben schneide und in die Heißluftfritteuse gebe. Solange suche ich nach Dosenmais und schneide meine Lauchzwiebel klein, lasse mich dann auf dem grauen, gepolsterten Küchenstuhl nieder. Ich genieße die Ruhe, die hier in der Wohnung herrscht. Man hört nur das leise Kichern der Mädels aus ihrem Zimmer und die Musik, dann wie Avdar Pelin anmeckert.

Sie teilen sich zu dritt eins, während ich nach dem Auszug meines verheirateten Bruders endlich ein eigenes Zimmer haben konnte. Der Junkie hat dann, wenn er nach Hause kam, im Wohnzimmer auf dem Sofa gepennt. Ich brauchte mit der Zeit immer mehr Ruhe. Mit drei pubertierenden Mädchen in einem Zimmer zu sein, aus jeder Ecke ein YouTube-Video oder eine Serie zu hören als Person, die nur in Ruhe lesen oder nachdenken will, ist das die Hölle, vor allem, wenn man dann noch diejenige ist, die von jedem einzelnen das Handy sperren muss, weil sie davor einschlafen. Hier habe ich meine Ruhe. Meine Familie hat schon einen Insider, weil ich so selten aus meinem Zimmer komme. Sie nennen mich auf kurdisch immer Nachbarin. Mein Zimmer ist meine Wohnung und bei dem Vorrat an medizinischen Sachen, Kosmetik und Lebensmitteln ist es gar nicht so abwegig, mich so zu betiteln. Ich kann die Tür abschließen und meine Ruhe und Privatsphäre haben. Sollte der Junkie nach Hause kommen und die Diskussion wieder beginnen, habe ich mir meine Kopfhörer genommen und während des Lesens Musik gehört. Stand er nach Mitternacht mal wieder vor der Tür und ich konnte wegen seines Klopfens nicht mehr schlafen, habe ich mir diese Taktik auch angewöhnt und online Bücher gelesen.

Das Problem ist, dass ich das Klopfen selbst durch die Musik quasi gespürt habe. Da ich Musik nie auf voller Lautstärke höre wie Dijan, musste ich das so hinnehmen. Ich hoffe, es hat irgendwann endlich ein Ende, aber so wie es den Anschein hat, wird er selbst jetzt keine Ruhe geben. Egal, was mit ihm passiert. Egal, wie lange er in der Kälte oder hier im Hausflur oder Keller pennen muss, weil entweder ich oder mein Vater ihn nicht reinlässt. Egal, wie oft er geschlagen wird. Nichts hält ihn auf und ich hasse es. Die Nudeln sind durch. Ich bin am Überlegen, mir auch Frühlingsrollen zu machen, lasse es aber. Ich schaue kurz nach meinem Vater, der das Zitronenwasser getrunken hat und dessen Brustkorb sich jetzt regelmäßig senkt. Er schläft. Ich fülle sein Glas neu auf und gehe dann mit der Flasche Mayonnaise in die Küche. Jetzt kann ich einen Teil der Chilisoße zu den Nudeln geben. Ich kann nicht dieses komplette Tütchen scharfer Soße in diesen Nudeln genießen. Ich verstehe überhaupt nicht, wie man sich freiwillig eine zu hohe Dosis Schärfe antut und das noch ernsthaft als Genuss empfindet. Ich habe es einmal ausprobiert und dann nie wieder. Mäßig geht es, aber mehr auch nicht. In meine Suppenschüssel kommt ein guter Klecks Mayo, woraufhin ich die Nudeln zugebe, beides mische, dann die Brühe und alles miteinander vermische. Die rote Brühe wird jetzt rosa. Noch die Lauchzwiebel, Mais und die Würstchenscheiben schön auf den Nudeln drapieren und ich kann mit dem Essen beginnen.

Wenn meine Mutter nicht zu Hause ist, koche ich selten wirkliche Speisen. Ich greife immer wieder auf Fastfood zurück, weil dann meistens keiner im Haus ist. Sie gehen mit ihr und meinem Vater zu Verwandten oder Hochzeiten - ich habe keine Kraft und Lust dafür. Daher lohnt es sich auch nicht, richtig zu kochen, wenn ich die Einzige bin. Das habe ich aber gemacht, als sie und meine Schwestern über die Sommerferien in Zaxo waren. Mein Vater musste zwar beim Ofenhähnchen am Ende eine dringende Änderung vornehmen, aber was kann ich bitte dafür, wenn es nicht richtig durch ist, selbst nach einer Stunde? Ich wollte es nicht frittieren, weil mein Vater nicht zu fettig essen darf, aber am Ende mussten wir das Hähnchen im Öl frittieren, weil es sonst nur oberflächlich durch war. Keine Ahnung, wieso die Physik und Biochemie des Ofens nur bei meiner Mutter gut funktioniert. Ich frage mich, ob er diese Form von Nudeln auch essen würde. Wie würde er darauf reagieren, wenn ich sage, dass ich sie mit Mayonnaise esse? Was isst er eigentlich? Ich kann mir vorstellen, wie er mit einem kleinen Salat an seinem Laptop sitzt und dann in einem Restaurant ein Steak isst. Keine Ahnung, aber ich stelle mir vor, wie er hier mit einer von mir gefüllten Schüssel sitzt und es isst. Für dich probiere ich alles, Schneeflocke. Ich lächele bei dem Gedanken. Obwohl er doch so offen zu mir ist, habe ich ihn noch nie richtig lächeln sehen. Na ja, ich war ja auch selten wirklich freundlich oder lustig.

Was macht er gerade? Ist er mit seiner Familie? Wie sind seine Geschwister? Morden sie auch? Wie sind seine Schwestern? Irgendwie habe ich ein ungutes Gefühl bei ihnen. Ich will sie gar nicht kennenlernen. Davor habe ich mich immer gefürchtet. Ich habe mir morbider Weise immer vorgestellt oder gar gewünscht, dass mein Mann eine Waise ist, damit ich seine Familie nicht kennenlernen muss, aber bei meinem Glück muss ich zehn Geschwister kennenlernen. Soll ich ihm schreiben? Ich ... ich würde, aber ich ziere mich extrem. Nein. Das wäre zu viel. Das wäre zu früh. Ich esse einfach weiter, muss aber wieder an ihn denken. An sein Gesicht. An den kleinen silbernen Ohrring an seinem rechten Ohrläppchen, an seinen Oberarm, den ich heute umklammert habe und seine Hand, die meine gehalten hat. Es ist verrückt, dass ich auf diese Art und Weise meine erste Erfahrung mit einem Mann mache, absolut skurril! Und dennoch fühle ich mich erst seitdem wieder so wirklich lebendig. Ich ziehe mich wieder besser an als nur in Jogginghose oder Leggings im Labor zu hocken, weil mein Kittel sowieso alles verdeckt.

Ich darf aber nicht vergessen, dass ich vorsichtig sein muss. Manchmal vergesse ich es doch mehr als mir lieb ist. Wenn ich ihn nicht will, werde ich wahrscheinlich niemals jemanden finden. Ich kenne mich zu gut. Ich bin zu wählerisch. Oft wurde ich wegen meiner Ansprüche kritisiert, woraufhin ich sie schlichtweg darauf aufmerksam gemacht habe, dass sie einfach zu anspruchslos sind. Ich lasse mich von niemanden kritisieren, der schon das bare Minimum als zu anspruchsvoll ansieht. Das kam dann auch noch immer von denen, die mit den größten Versagern für drei Monate zusammen waren. Klar hatte er immer Geld, um sich Zigaretten zu kaufen, aber nie um ihr eine simple Rose zu schenken. Ich werde mich niemals für meine Ansprüche entschuldigen und diese regulieren. Wahrscheinlich war das der Grund, wieso ich auch immer sofort abgeneigt von Typen war - neben des Aufwachsens mit einem versifften Junkie und einem halb-verwöhnten Muttersöhnchens. Und wahrscheinlich ist meine Mutter der Grund, wieso ich keine Kinder will oder ein großer Teilgrund. Dass ich einen ebenso verkorksten Jungen kriege, kann sein, kann aber auch nicht sein. Ich will es aber gar nicht erst wagen, zumal diese Blagen absolut nervig sind und mir ihr nerviges Gekicher Kopfschmerzen macht. Werden wir das Essen verschieben? Ich will irgendwie mit ihm reden. Vermutlich, weil ich mich wirklich absichern und ihm noch mehr Fragen stellen will. Ich muss. Ich muss jeden Schritt bedenken, bevor ich mich quasi verkaufe. Für seine Versprechen ist es mir aber wert und am liebsten würde ich sofort zusagen, auch wenn mein Herz mich selbst immer noch blockiert. Selbst, wenn ich mich seitdem wieder lebhafter fühle. Selbst, wenn ich seitdem neue Erfahrungen mache und einen neuen Schritt in meinem Leben antrete.

Sobald man sein Herz dem Himmel verschließt, fürchtet man Enttäuschung in jedem Stern.

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Habt ihr schon Shipnamen?
Haut raus.

- Helo

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