Kapitel 65
Azad
Es gab schon so einige Momente in meinem Leben, in denen ich mich zwingen musste, nicht die Fassung zu verlieren. In denen ich es mir untersagte zu weinen. Der jetzige zählt ebenso dazu, so oft ich mir auch über meine Augen wischen muss. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich als erfahrener Mann verloren und überfordert fühle. In Avins braunen Augen sehe ich ihren Schock und es fühlt sich an, als würde man mir eine heiße Eisenstange gegen den Rücken drücken. Es sind Sekunden, die wie Stunden vergehen. Es fühlt sich an, als würde ich selbst das Bewusstsein verlieren, als Avins Blick träger wird und ihre Beine nachgeben. Wäre es nicht die Liebe meines Lebens, würde ich zu der verdreckten Leiche gehen und diesen Hurensohn an den Schusswunden aufreißen. Ich zittere, als ich sie anhebe. Es kostet mich alle Mühe, nicht durchzudrehen, als ich nicht eine, sondern zwei Schusswunden sehe. Ich renne über den Hof, schreie den Männern vor der Haustür zu, dass sie die Tür öffnen und Dimitrij anrufen sollen. Avin benötigt sofortige Hilfe und ich bin zu schwach, um zu rational zu denken. Höchstens Schmerzmittel kann ich ihr aktuell verabreichen, aber für mehr bin ich nach jahrelanger Erfahrung zum ersten Mal zu ängstlich. Sie ist blass, obwohl sie sonst immer eine wunderschöne Bräune auf ihrer sensiblen Haut trägt. Aus der linken Seite und ihrem Bauch läuft Blut.
Ich bekomme selbst kaum noch etwas von meiner eigenen Arbeit mit, ermahne mich deswegen konzentriert zu bleiben, aber ich schaffe es nicht, wenn ich Avin leblos auf dem Sofa liegen sehe. Ich werde alle töten. Keine Gnade, keine Nachsicht mehr. Ich werde den fetten Hurensohn vor seiner Tochter ermorden, ehe ich sie erbarmungslos sterben lasse. Es ist alles ihretwegen. Weil sie eine kleine, verwöhnte Schlampe ist, die mit Ablehnung nicht zurechtkommt und deswegen Blut vergießen will. Nur für Avin habe ich ihr kein Haar gekrümmt, doch dieser kleine Funken Vernunft verschwimmt beim Erblicken des Bluts. Mich beruhigt es kein Stück, dass ich die Wunden komprimieren konnte, weil ihr Puls schwächer geworden ist. Wo bleibt Dimitrij?! Ich halte das kaum noch aus! Das Ultraschallgerät steht schon bereit sowie diverse Medikamente und sterile Instrumente. Ich lasse mich vor Avin auf die Knie fallen, nehme ihre kleine Hand, um sie mehrfach zu küssen. Warum hast du mich zur Seite geschoben? Ich hätte ihr überhaupt nicht erlauben dürfen, das Haus zu verlassen, aber ich bin zu schwach, wenn es um sie geht. Ich hatte Angst, dass sie mich für immer verlässt. Ich wollte ihr die Sicherheit geben, die sie aktuell nicht hatte und das ist die Konsequenz. Es hätte mich treffen sollen. Ihr Körper ist nicht für Gewalt geschaffen, meiner ist es schon seit einem Jahrzehnt gewohnt.
"Dimitrij fährt gerade durch das Tor." Mein Herz rast vor Aufregung. Mir ist vor Sorge schwindelig. "Macht sofort die Tür auf und holt Avin Wasser." Ihre Atmung ist ganz flach. Ich hoffe, sie spürt kaum etwas durch ihr benommenes Bewusstsein, denn ich konnte ihr kein starkes Schmerzmittel aufgrund ihres Asthmas geben, aber Dimitrij übernimmt jetzt. "Yebat, immer noch wegen diesem Hurensohn?" Ich bin zu angespannt, um zu antworten, daher nicke ich verdeutlichend zu Avin. "Bitte. Mach schnell." Dimitrij ist unser Familienarzt für jede Sache. Aras bezeichnet ihn deswegen als Genius universalis. "Sie hat Asthma und viele Allergien." "Gegen Medikamente?" Ich verneine es, sehe zu, wie er sein Ampullarium öffnet und dann zu mir schaut. "Sie muss oben freigemacht werden." "Raus mit allen." Ich habe keinen Kopf mehr, bekomme wieder kaum etwas mit, als ich ihr vorsichtig die Jacke ausziehe und ihr Oberteil aufschneide. Es haben sich schon Blutergüsse um die Schusswunden gebildet. Meine Mordlust steigt. Ich stelle mir vor, wie ich jeden Zahn einzeln herausziehe und ihn zwinge, sie herunterzuschlucken vor den Augen seiner Tochter. Beide werden im selben Loch verrecken, bis sie wahnsinnig werden und sich gegenseitig töten. "Azad", setzt Dimitrij an und ich komme wieder zu mir. Beide Patronen liegen blutig in der Nierenschale. Allein dieser Anblick reicht mir, um das gesamte Wohnzimmer zerstören zu wollen.
Dimitrij fährt sich über seine grauen Stoppel und dann über seine blauen Augen. In seiner rechten Hand hält er den Ultraschallkopf. "Was wurde verletzt? Muss sie notoperiert werden?" "Euer Kind ist tot." Unser ... unser Kind. Wir haben ... wir hatten ein Kind. Wir ... mein Kind. Avins Kind. Ich brauche Luft. Ich habe das Gefühl umzukippen. "Ich besorge Tabletten, damit der Fötus die nächsten Tage abgestoßen wird. Sie muss ins Krankenhaus." Ich bekomme keine Luft. Erst meine Frau und dann mein Kind ... ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Würde Avin wissen, dass sie ein Kind in sich trägt, würde sie in Depressionen verfallen und ich würde daran zugrunde gehen, aber es ist mein Kind ... mein totes Kind. Ich nicke atemlos, fahre mir zitternd über mein Gesicht, damit ich seinen bemitleidenden Anblick nicht ertragen muss. "Ich schließe sie an eine Infusion und dann gebe ich Bescheid. Sie wird dann notoperiert." "Hat sie innere Blutungen?" "Eine kleine aktuell. Mach dich schon mal fertig." Ich werde nicht von Avins Seite weichen. Ich schwitze vor Sorge und Kummer, als ich ihren leblosen, betäubten Körper anhebe und gegen mich drücke, als wäre sie meine Luft zum Atmen ... sie ist meine Luft zum Atmen. Sie ist mein Lebenssinn. Sie ist der Grund, weshalb ich noch bei Vernunft und Verstand bin und schafft es jedes Mal, dass ich in Tränen ausbreche, wie jetzt auf dem Rücksitz der G-Klasse. Sie schafft das, aber ich kann nicht anders, als mir Sorgen zu machen.
Ich sauge ihre kleinen, schwachen Ausatmer auf, als wären sie das, was mich am Leben hält. Meine Hand fährt immer wieder über ihren Rücken, in der Hoffnung, so ihren Kreislauf zu stabilisieren. Sie trägt ein Kind in sich. Ich weiß nicht, ob ich es ihr beichten soll. Es würde sie verängstigen. Avin würde sich fürchten, intim zu werden und sich weiter distanzieren. Mich überkommt langsam die Ungeduld. Ich will am liebsten aus dem Auto steigen und allesamt abschlachten, doch ich kann meine Frau nicht allein lassen, die jetzt viel kräftiger atmet. Avin reißt ihre glasigen Augen auf und mir wird eiskalt. "Avin", flüstere ich, doch sie kann sich kaum konzentrieren. Ihr Blick gleitet überall hin, ihre Atmung wird immer schneller. "Wir sind gleich im Krankenhaus, hier." Ich öffne die Wasserflasche für sie, halte schon zitternd ihr Asthmaspray für sie bereit, während sie atemlos trinkt. Ihr Gesicht verzieht sich. Sie hat Schmerzen, aber ich weiß, dass sie es tapfer durchhält. Meine resistente Schneeflocke. "Bekommst du Luft?" Sie nickt gequält, schafft es aber nicht, einen Satz zu formulieren, weswegen mein Herz sich zusammenzieht. Ich spüre den Druck auf meinen Augäpfeln, weil sie sich schwach in mein Hemd krallt. Wehrlos, müde, verletzt. Wir erreichen endlich das Krankenhaus. Ich weigere mich, Avin auch nur ein einziges Mal loszulassen, auch wenn sie auf einer Liege transportiert werden muss.
Ich verlasse die Tür zum OP-Bereich nicht. Keine Sekunde. Mein Magazin ist voll und bereit, jeder Person zwischen die Augen zu schießen, die es jetzt wagt, mich zu provozieren. Ich habe mich ihretwegen zurückgehalten. Ich habe mich nur für Avin zusammengerissen und habe versucht, so wenig Blut wie möglich vergießen zu lassen. Ich wollte kalkuliert an die Sache herangehen, doch jetzt lasse ich all das Unterdrückte aus mir kriechen. Ich spüre, wie mein Bewusstsein wieder verschwindet bei der Erinnerung an Avins geweiteten Augen. An ihr Blut, an ihre schwitzige Stirn ... an unser Kind. Ich muss wieder zu mir kommen. Erst, wenn Avin stabil und vollständig geschützt ist, darf ich meine Fassung verlieren. Ich kann mich nicht einmal hinsetzen, kontrolliere alle Magazine der Männer, ob sie auch wirklich voll beladen sind. "Es wird alles wieder gut", versucht Jamal mich zu beruhigen, doch ich kann nur humorlos schnaufen. "Der Krieg beginnt erst jetzt", murmele ich. Mein Blick gleitet sofort zum Aufzug und ich greife schon nach meiner Waffe. "Ich bin es." Mich beruhigt Aras' Anwesenheit nicht wirklich. Ich bin nicht in Stimmung für Begrüßungen, nehme es daher hin, als ich von meinen Brüdern und meinem Vater umarmt werde.
"Was ist passiert?" Ich bekomme kaum Luft, als ich meinem Vater erklären muss, wie es zu Avins Verletzung kam. Ich muss jede Person einzeln aufspüren. Ich muss es in einem Massaker enden lassen, ansonsten werde ich keine Ruhe finden. Ich bin ein Bastard, wenn ich auch nur eine Person lebend davon kommen lasse, die dafür gesorgt haben, dass meine Frau, mein Lebenssinn mir misstraute und vor mir flüchten wollte. Sie werden bitterlich vor mir weinen und betteln dafür, dass ich mit der Scheidung konfrontiert wurde. Aber ich muss diese Gedanken in den Hintergrund schieben, denn Avin wird gerade herausgefahren. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich weiß nicht, wie viele Stunden schon vergangen sind, aber mich überkommt erst jetzt Müdigkeit. Meine Avin. Meine Schneeflocke. Ihre Augen sind geschlossen, ihre Haut wenigstens wieder ein wenig lebendiger. Sie wird sofort ins bewachte Privatzimmer gebracht. Alles andere ignoriere ich, würde sie am liebsten wecken, weil ich noch wahnsinnig werde, wenn ihre Lider noch länger geschlossen bleiben. Ein selbstsüchtiger Teil meiner Seele möchte sie wecken, nur damit ich Erleichterung verspüre, aber ein größerer Teil bringt es nicht übers Herz und will, dass sie so wenig wie möglich mitbekommt.
Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand in meine, um sie wieder zu küssen. "Ich schwöre dir, dass ich sie allesamt töten werde, Avin. Für jeden Tropfen Blut, der deinen Körper verlassen musste, wird ein Leben geopfert." Meine Hände zittern immer noch, weswegen ich ihre Hand fester umschließe. "Das war das letzte Mal, dass ich dein Leben gefährdet habe." Deines und das unseres Kindes. Ich bin mir nach wie vor unsicher, ob und wie ich unser verlorenes Kind ansprechen soll. Hätte sie eine Abtreibung gewollt? Ich wäre traurig, aber umso mehr hätte es mich zerstört, wenn meine Frau daran zugrunde gehen würde. Wäre es ein Mädchen oder ein Junge geworden? Mein Herz sehnt sich vor allem seit Avin nach einer Tochter. Ich kann mir trotz ihrer Abneigung vorstellen, dass sie eine gute Mutter wird. Eine verständnisvolle, die durch ihre Erfahrungen nicht die Fehler begehen wird, die sie selbst durchstehen musste. Ich seufze. Sie ist noch jung. Sie konnte noch nicht ganz heilen. Wir sind nicht einmal ein Jahr zusammen und doch fühlt es sich für mich wie eine Ewigkeit mit ihr an meiner Seite an.
In der Zwischenzeit hat Dilnia Avins Sachen vorbeigebracht, die ich für sie im Bad und im Schrank abgestellt habe. Ich gieße ihr gerade Mineralwasser ins Glas, als ich im Augenwinkel eine Bewegung wahrnehme. Fast lasse ich das Glas fallen, sie wacht auf! "Avin", flüstere ich. Sie wirkt noch ganz benebelt, als sie sich aufsetzt und zuckt aufgrund ihrer Schmerzen zusammen. "Langsam." Ich halte ihre Seite und lege meine rechte Hand auf ihre. "Ganz langsam, Schneeflocke." "Ist es vorbei?" Mein Herz zieht sich bei ihrer müden, heiseren Stimme zusammen. Ich muss tief durchatmen. Deinetwegen verliere ich jegliche Kontrolle und dennoch liebe ich es. "Bald ist alles komplett bereinigt", erwidere ich genauso leise wie sie. Ich spüre in den Innenwinkeln meiner Augen eine kleine Feuchtigkeit, kann mich dennoch beherrschen. "Hast du starke Schmerzen?" "Nur, wenn ich mich bewege." Sie zieht ihre Augenbrauen zusammen. "Okay, etwas Schmerzmittel wäre doch nicht schlecht." Ich gebe sofort Bescheid. "Trink etwas. Hast du ansonsten Beschwerden? Übelkeit?" Sie verneint es kopfschüttelnd, als sie das Glas nimmt. Ich übernehme für sie. Avin soll sich nicht überlasten. "Wird das auf ewig so weiterlaufen?" Sie lässt sich nichts anmerken, doch ich kenne meine Frau zu gut. Tief im Inneren wünscht sie sich nichts mehr als Bestärkung und Beruhigung, so stark sie auch ist.
"Nein. Bald wird alles vorbei sein und du kannst in Ruhe weiterstudieren. Es kann sein, dass du dieses Jahr ein Urlaubssemester nehmen musst, aber als Entschädigung suche ich dir die besten Themen für deine Doktorarbeit heraus, was sagst du?" Sie lächelt schwach. Mir bleibt die Luft weg, als ich kleine Tränen in ihren Augen glitzern sehe. Sie hat mir heute zum ersten Mal ihre Liebe gestanden. Ihre Stimme spielte sich wie ein Mantra immer und immer wieder in meinen Gedanken ab, während ich Männer erschießen musste. Ich war glücklich, nahezu unbeschwert. Ich habe mich wie ein verfickter, verliebter Schuljunge gefühlt, weil sein Schwarm mit ihm ausgehen möchte und dann kam der Fall. Und das werde ich ihnen niemals verzeihen. "Mach dir keine Sorgen. Ich habe dir versprochen, dass ich alles für dich klären werde und du dir nie wieder Sorgen machen musst. Im Frühling beginnen die Tulpen erst zu blühen." Wir haben Januar und bis spätestens März werden sie nicht mehr leben. Durch die Umstände konnte ich meinen 28. Geburtstag nicht mit meiner Frau genießen. Dieses Mal lasse ich mich von meinen Gedanken einnehmen.
Meine lila Tulpe wird blühen, sobald das Blut unserer Feinde über den Boden fließt.
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