Kapitel 6
Ich bin nach 03:00 Uhr erst schlafen gegangen. Ich hatte kaum Müdigkeit in mir. Ich bin hellwach geblieben, bis ich endlich mit der Onlineversion eines meiner Lieblingsbücher einschlafen konnte und sonst schlafe ich immer während eines Kapitels ein, aber dieses Mal war es nicht so. Ich habe mich hin und her gewälzt, mir Szenarien ausgemalt, wie es heute sein wird. Wie er reagieren wird. Wie er handeln wird. Was er zu sagen hat. Und immer wieder hat er so reagiert, wie ich es wollte. Ich weiß nicht, ob es irgendetwas evolutionär Verankertes in mir ist, dass ich mich so sehr mit dem Make-up und der Körperpflege heute bemühe, aber ich bin voller Energie bei jedem einzelnen Schritt. Meiner Mutter schicke ich ein Bild von mir, damit ich ihr diese kleine Bitte nicht abschlage. Heute steht ihre Herzkatheteruntersuchung an und dann wird entschieden, wann sie entlassen werden kann. Sie hat mir erzählt, dass mein Vater seinen Junkiesohn in der Werkstatt verprügelt und sogar die Treppen runtergeschmissen hat, als er dort aufgetaucht ist. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso er nicht hier ankam, aber mir ist es recht. Ich brauche keine Lasten. Er kann uns allen gestohlen bleiben, so viel Geld, wie er meinen Eltern geklaut hat, Eigentum entwendet und wie viel er gelogen hat, obwohl sie immer Nachsicht mit ihm hatten. Wie viele Tränen meine armen Eltern wegen eines Süchtigen verloren haben, der nicht einmal in die Therapie gehen will. Ich hoffe, er kommt nie wieder und wenn es das Einzige ist, was mir der Mörder erfüllen kann, würde ich der Heirat zustimmen. Einfach, damit meine Eltern ein beruhigtes Leben haben. Damit meine Mutter in Ruhe alleine in der Wohnung bleiben kann, falls mein Vater mal endlich Länder bereist, um abzuschalten.
Ich creme mir noch einmal nachträglich mit meiner Rituals Bodycreme meine Schultern und Dekolleté ein, sogar meine Ohren und den Nacken, ehe ich meinen Highlighter auf meinen Schlüsselbeinen und Schultern verteile. Sobald ich das feine Puder auch an den geeigneten Stellen in meinem Gesicht aufgetragen habe, kann ich mir das Küchenpapier aus dem Busen ziehen. Perfekt. Nichts auf dem Kleid. Meine Lippenkombination sitzt perfekt. Der Eyeliner wurde lange nicht mehr so gut gezogen wie heute und mit der Ebastel-Tablette hoffe ich, dass meine Lider nicht wegen der Schminke anschwellen. Wenn doch, habe ich noch meine Cortisonsalbe bei mir, von der ich mir eine dünne Schicht vor zwei Stunden aufgetragen habe. Gott, ich bin so nervös! Mein Herz schlägt so penetrant fest in meiner Brust. Es ist gleich 17:00 Uhr. Ich muss meiner Mutter noch ein Bild schicken! Ich mache schnell eins vor dem Spiegel, mache sogar noch ein Video, damit sie auch die Rückseite des Kleides sieht und schicke es ihr mit ganz vielen roten Herzen. Meine goldenen Spangen halten meine geglätteten Haare fest hinter meinen Ohren, sodass er meine kleinen Goldcreolen sehen kann. Ich hätte auch mehr Ohrschmuck anziehen können. Immerhin habe ich ja auch ein Tragus und ein Mid-Helix genau gegenüber dem Tragus-Piercing, aber für heute soll es so schlicht wie möglich gehalten sein. Nur noch das passende Bodyspray meiner allerliebsten Rituals-Reihe und meine Kette mit dem lila Tropfen. Oh Gott, noch zwei Minuten und es ist 17:00 Uhr! Ich ziehe mir schnell die Schuhe an. Steht er schon vor der Tür? Soll ich ihm schreiben? Ich will nicht so aufgetakelt unten stehen, wenn er nicht da ist, aber wenn er nicht pünktlich ist, braucht er auch gar nicht zu kommen. Tief durchatmen, Avin. Er wird schon wissen, dass ich eine Frau mit Ansprüchen bin.
Ich renne mit diesen potenziellen Waffen an meinen Füßen raus aus der Wohnung, damit mich auch niemand darin sieht. Mein Vater ist im Fitnessstudio und die Mädels im Zimmer. Bevor ich in den Aufzug steige, hebe ich das Kleid an. Wer weiß, was hier neu auf den Boden vergossen wurde, egal wie frisch es hier endlich wieder riecht. Ich sprühe mich noch einmal mit meiner 15ml Version des Bodysprays ein, sende ein kleines Stoßgebet in den Himmel und oh Gott, das schrille Läuten des Aufzugs hat mein enterisches System noch nie so in Gang gesetzt. Ich halte mir meinen kribbelnden Bauch mit der einen Hand, halte mit der anderen das Kleid immer noch angehoben. Er steht vor der Tür. Er steht wortwörtlich vor der Tür. Scheiße, damit habe ich echt nicht gerechnet. Ich stocke nicht, obwohl ich am liebsten wieder in den Aufzug rennen will und wie eine Gestörte kreischen und meinen Kopf gegen den Spiegel des Aufzugs rammen möchte. Ich will ihm nicht zeigen, was all das hier in mir auslöst, strecke deshalb meine Schultern durch, lasse meinen Blick noch kühler werden und stoße schon fast die Tür auf. Ich will eigentlich gar nicht stehen bleiben, sondern direkt zur Beifahrertür gehen, aber irgendetwas hält mich auf. Vielleicht das simple Benehmen. Ich erwidere seinen Blick, ohne mir etwas anmerken zu lassen. Hoffentlich erröte ich nicht. Ich kenne es nur von ekelhaften älteren Männern oder Versagern vom Bahnhof, wenn sie mich begaffen, aber sein gefasster Blick gleitet nur ein einziges Mal über mein Gesamtbild und trotzdem prickelt es an meinem gesamten Rücken.
"Du siehst wunderschön aus." Ich atme tief durch, hindere meine Lippen daran, sich komplett aufeinanderzupressen, um die Lippenkombination nicht zu zerstören. Ich saß wirklich mehr als zehn Minuten daran, weil ich nicht wollte, dass auch nur ein Millimeter übermalt wurde. "Zu schön für diese Umgebung. Sie passt nicht zu deiner edlen Schönheit." Er hat recht und trotzdem gefällt mir sein Kompliment mehr als es sollte. Ich nicke kaum sichtbar. "Wir sollten losfahren. Ich will nicht, dass mein Vater mich mit dir sieht." Wieso stehe ich hier überhaupt so lang herum? Bin ich lebensmüde? Ich stöckele erstaunlich stabil zum Auto, halte mich am Dach fest, als ich mein Kleid wieder anhebe, um einzusteigen. Es klappt. Alles ist gut, bis seine warme Hand mich an meinen Rippen stützt. Ich versteife mich, so gut es sich auch anfühlt, von ihm berührt zu werden. Ich schaffe es auch alleine. Ich will nicht, dass er sich zu viel fürs Erste erlaubt, auch wenn er einfach nur ein Gentleman ist. Ich bin zu negativ eingestellt durch meine Umgebung und Erfahrung. Es kribbelt sanft an meiner Wade, weil er den Rest des bodenlangen Kleides für mich anhebt, um dann die Tür zu schließen. Mir ist warm. Mir ist sehr warm. Ich habe wirklich mein erstes Date und auch wenn es moralisch verwerflich ist, mit einem Mörder auszugehen und zu verhandeln, bin ich stolz, dass ich trotz dessen meine Erfahrung mit hohen Ansprüchen angehe.
Der Gurt zieht sich automatisch zurecht, als ich mich anschnalle. Das Leder unter mir schmiegt sich fast so perfekt an mich wie das Kleid. "Ich hoffe, ich habe deinen Geschmack getroffen", ertönt seine tiefe Stimme, als er aus der Siedlung fährt. Die kleinen Jungs auf der Straße schreien voller Freude los, als sie den Maserati erblicken und auch einige Jugendliche nicken mächtig beeindruckt. Ich senke peinlich berührt meinen Blick auf meine lackierten Nägel. "Passt. Danke", erwidere ich reserviert. "Ich hoffe, du hast dir Gedanken machen können." "Hab ich." Ich habe sogar eine Liste gemacht. "Gut. Mir gefällt deine Ambition." Ich bin kurz davor meine Augen zu verdrehen, lasse es aber. Er hat sich nicht schmierig angehört. Eher wirklich beeindruckt. "Hast du schon etwas gegessen?" "Nur ein Schokobrötchen." "Frühstückst du nicht?" "Nur selten. Bei Bedarf." Ich zögere, stelle ihm aber nicht die Gegenfrage. Ich bin noch zu verschlossen. "Und dir wird nicht schwindelig oder sonst irgendwie schlecht?" "Nein, sehr selten." "Was geschieht mit dir? Wird dir schwarz vor Augen?" "Nur in Kombination mit langem Stehen." "Und sonst etwas?" Er ist ziemlich neugierig. "Manchmal kriege ich schwer Luft dadurch." Er summt ... verdammt tief und rau. Es prickelt selbst an meinem Trommelfell! Was ist los mit mir?! Ich schaue angespannt aus dem Fenster. Wir befinden uns auf der Autobahn, wo er auf der linken Spur durchdrückt. "Fährst du immer so schnell?" "Nur, wenn es wichtig ist." Oh, dieser tötende, stalkende Charmeur! Ich drehe mein Gesicht weg von ihm und ich bete zu Gott, dass er seinen Blick auf die Straße gerichtet lässt, damit er nicht sieht, wie ich gegen dieses kleine Grinsen ankämpfe.
Der Motor schnurrt, die Geschwindigkeit drückt mich fester in den Sitzt und lässt ein gefährliches Ziehen in meinem Unterleib entstehen. Ich winde mich ganz leicht, lasse mir aber nichts anmerken. Das ist auch eine kleine komische Vorliebe von mir, die er niemals erfahren darf. "Fahr langsamer", fordere ich und er tut es sofort. Kein Widerspruch. Nein, er handelt nachsichtig. Verrückt. Vielleicht aber auch nur, weil wir jetzt sowieso rausfahren müssen. Wir kommen sofort in einem wohl extrem noblen Vorort an. Riesige Häuser, soweit das Auge reicht. Eins pompöser als das andere sowie die Autos in der Einfahrt, aber hier halten wir nicht an. Wir fahren weiter, bis ich einen große See sehe und das riesige Haus, das man schon als Palast definieren kann. Kein anderes Anwesen ist auch nur ansatzweise in der Nähe des Sees. Der pinke Himmel und die lila schattierten Wolken spiegeln sich auf der Wasseroberfläche wider. Wie satt das Grün um das Wasser herum ist. Wäre es nicht so kalt, würde ich dort essen wollen. Wir kommen dem beigen Palast immer näher, dessen riesigen Tore von zwei Sicherheitsmännern bewacht werden, die jetzt das Öffnen dieser ansetzen. "Wozu Sicherheitsmänner?" "Ich bin ein mächtiger Mann, Schneeflocke. Auch wenn ich keine Angst vor dem Tod habe, möchte ich noch gerne weiterleben." Heißt das, dass ich mich einem ständigen Risiko aussetzen lasse, entführt, ermordet und geschlagen zu werden, wenn seine Feinde wissen, dass ich seine Frau bin? Ich atme tief durch, füge einen neuen Punkt imaginär zu, den ich ansprechen muss. Nämlich die persönliche Sicherheit.
Auch vor den imposanten Treppen treffe ich auf große Sicherheitsmänner, die ihrem Chef zunicken. Er hält an. Der Wagen wird abgestellt. Wir sind da ... bei ihm. Moment mal! "Wolltest du mich nicht zum Essen ausführen?", frage ich streng. Wieso fährt er mich sofort zu sich? "Das hätte ich auch tun können, aber kein Restaurant würde sich deinem edlen und doch so simplen Niveau anpassen. Deshalb habe ich es zu mir verlegen lassen. So kannst du auch dein zukünftiges Haus sehen." Mein zukünftiges Haus. Das ist mein zukünftiges Haus. Ich habe eine perfekte Sicht auf den schönen See. Ich steige erschreckender Weise mit zitternden Beinen aus. Der Boden unter mir ist so fest und doch so weich. Ich komme mir wie in einer anderen Dimension vor, als ich vor den riesigen Säulen dieses Hauses stehe. Es ist eine schöne Architektur. Eine wunderschöne. Sie entspricht jeglichen Wünschen meinerseits. Es ist ein Traum. Das komplette Gegenteil meiner grauen Realität. "Gefällt es dir?" Ich will ihm nicht die Genugtuung geben, die schon offensichtlich ist, egal wie aufrichtig sein Ton ist. Das Schulterzucken kommt schon fast automatisch von mir. Ich senke den Blick. "Komm." Er hält mir seine große Hand hin, die ich nicht greifen kann. Ich kann es mir nicht erklären, aber mein ganzer Körper spannt sich an. Ich will nicht und ich kann nicht. Meine Hände heben wieder das Kleid an, damit ich gleich nicht stolpere.
"Können wir ihre Tasche sehen?" Das plötzliche Sprechen des rechten Bodyguards überrascht mich mehr als es sollte. Scheiße, ich habe mein Messer mit dabei. Ich schaue zögernd zu ihm. Die Miene des Sicherheitsmannes sagt überhaupt nichts. Die verzwickte Situation lässt mich erröten. Es ist plötzlich gar nicht mehr so frisch hier draußen. "Hast du dein Messer dabei?", höre ich ihn gegen mein Ohr raunen und Gott! Ich hasse meinen Körper dafür, dass ich mich winde. Ich nicke offen und ehrlich, fühle mich total dämlich deshalb, auch wenn ich es mir nicht verübeln kann, immer an meine eigene Sicherheit zu denken. "Ist schon in Ordnung. Sie darf das." Ich darf das. Ich darf ein Messer mit mir rumtragen, das dafür bestimmt ist, ihn im Notfall zu verletzen. Das ist ... ziemlich nett. Ich presse indigniert meine Lippen aufeinander, will es einfach nur noch hinter mich bringen. Ich steige mit diesen gefährlich hohen Absätzen die ersten Treppenstufen auf, bin sehr selbstbewusst damit, die weiteren Stufen aufzusteigen, nur dann nicht mehr, als ich seine Wärme wieder an meinem Rücken spüre. Es fühlt sich schön an. Ich kann es nicht verneinen, aber ... ich kann mich nicht öffnen. Noch nicht. Allein der Gedanke daran, es tun zu müssen, ruft mir die Tränen auf. So sehr ich die Nähe eines einzigen Mannes in meinem Leben genießen will, habe ich die größte Furcht davor. Ich kann nicht anders. Ich muss seine Hand entfernen, so leid es mir auch tut. "Tu das bitte nicht", flüstere ich. Mein Männerbild ist noch zu verdorben dafür. Wenn man sein ganzes Leben lang mit so einem Junkie in einer Wohnung lebt, eingreifen muss, wenn er seine Freundin vor den eigenen Augen schlägt oder man schon selbst geschlagen wurde, dann verschanzt man sich tief im Inneren.
"Verzeihung. Ich möchte nur nicht, dass du stürzt." Ich nehme seine Antwort hin, nicke nur angestrengt. Nur einmal tief durchatmen und schon sind die winzig kleinen Tränen weg. Vor den riesigen Massivholztüren kommen wir zum Stehen, wo sein linker Daumen auf dem Scanner reicht, um sie zu öffnen. Mir gefällt sein Geschmack. Die Inneneinrichtung ist in Cremefarben gehalten. Die Decken- und Wandleuchten sind schwarz. Der Flur ist lang und wird von mehreren in Abstand aufeinanderfolgenden Säulen umrahmt, die direkt zu einer Terrasse führen. Schwarze Bogenfenster. Ein wenig mediterran, ein wenig antik. Ich mag es. Sehr sogar. "Komm. Links geht es in den Essbereich." Er läuft vor, so stramm. So fest. Ich mag seinen Gang. Ich mag seine Größe und seine Breite. Selbst sein Haar gefällt mir, aber das reicht nicht. Ich schaffe das schon. Ich werde das Beste daraus machen. Ich muss das Beste daraus machen. Ich folge ihm auf sicherem Abstand, drehe mich auf dem Weg zweimal vorsichtshalber um. Der Essbereich ist größer als mein Zimmer und das meiner Geschwister zusammen. Ein wenig leer, aber nichts, was nicht durch Dekoration behoben werden kann. Zudem gleicht es das offene Wohnzimmer aus. "Wenn du es mir erlaubst, würde ich dir den Stuhl zurechtrücken, sobald du dich setzen möchtest." Ich erschaudere allein bei dem Gedanken. Ich hasse es, wenn Männer hinter mir stehen. Ich zucke immer zusammen. "Passt schon. Setz dich", erwidere ich stattdessen. Ich möchte ihn gar nicht in Verlegenheit bringen, auch wenn er sich nichts anmerken lässt oder eventuell gar keine Betretenheit fühlt, aber ich kann nicht anders.
Ich lasse mich auf dem gepolsterten schwarzen Stuhl nieder, rutsche mit ihm so nah an die Tischkante, dass ich meine Brüste sogar darauf abstellen könnte, wenn ich mich vorbeugen würde. Er sitzt genau gegenüber von mir an diesem langen Tisch, schaut mich seelenruhig mit seinen blauen Augen an, sagt kein einziges Wort. Seine Stoppel sind viel deutlicher. Es steht ihm. Heute trägt er wieder seinen silbernen Ohrring. Ich sehe seinen langen Fingern zu, wie sie die Knöpfe öffnen und die Ärmel hochkrempeln. Ich wende den Blick etwas träger als gewollt ab, weil ich zu gefesselt von den gebräunten Unterarmen und den Venen bin. Hinter mir höre ich Schritte plötzlich und drehe mich sofort um, aber es sind nur Bedienstete, die mir gerade Wasser und eine Dose Cola abstellen. Gott! Ich atme tief durch. In dieser Lage habe ich nicht einmal an mein Messer gedacht. Ich ziehe es sofort aus der sündhaft teuren Tasche. Meine Hand umklammert sie zitternd unter dem Tisch. Ich hasse es, dass er meine beschleunigte Atmung bemerkt. "Danke." Er nickt den zwei älteren Damen nachträglich zu, als sie die kleinen Snacks abstellen und die Tür hinter sich schließen. Ich muss mich beruhigen. Es ist alles gut, egal wie paradox diese Situation ist. "Möchtest du nichts trinken?" "Wer weiß, was da reingemischt wurde." Meine Paranoia widerspricht meinem Handeln. Wenn ich doch solche Angst hätte, würde ich nicht hier in der Kleidung sitzen, die er mir geschenkt hat. Meine Antwort sorgt dafür, dass er überrascht seine Augenbrauen hebt. Nur das. Seine fülligen Lippen bleiben unbelebt. Seine Augen zeigen keine Emotionen. Er nimmt es gelassen, auch wenn er überrascht ist. "Ich weiß nicht, wie oft ich es in meinem Leben noch wiederholen muss, aber ich tue keiner Frau etwas an." "Dann trink das Wasser." Ich schiebe mein Glas vor, ohne den Blick von ihm zu nehmen. Ich muss es tun. Es ist für mein Gewissen.
"Wenn es dich glücklich macht", setzt er an, als er sich erhebt. Der Griff um mein Messer wird stärker, je näher er mir kommt. Schon wieder ist der erste Knopf seines Hemdes geöffnet. Ich frage mich, wie seine Haut darunter aussieht. Wie definiert sind seine Muskeln? Wie fühlen sie sich unter meiner Hand an? Ich weiß es nicht. Ich kann es nicht sehen. Was ich aber verfolgen kann, ist es, wie er mein Glas an seine schönen Lippen ansetzt und einen großen Schluck zu sich nimmt, der dafür sorgt, dass sein Adamsapfel dreimal aufspringt, bei jedem Schluck. Ich kann nicht verstehen, wieso ich es so anziehend finde, sein leises Schlucken zu hören, aber ich will, dass er aufhört. Er trinkt sogar das ganze Glas aus, nur um es mir zu beweisen. Kein Mann wirkt so attraktiv mit nassen Lippen wie er. Er ist ein bildschöner Mann, so schlimm seine Taten auch sind. "Glaubst du mir jetzt?" Ich kann meine Muskeln noch bremsen, sich zu einem Schmunzeln zu verziehen, bevor ich meine Antwort ansetze. "Das Glas war gefüllt, bevor es mir gebracht wurde. Wer sagt denn nicht, dass in dem Glas wirklich nichts war, aber dafür in der Karaffe?" Ich schaffe es nicht, mein Lachen für mich zu behalten, als die Gelassenheit aus seinem Gesicht verschwindet. Ich lache wirklich bei seinem fassungslosen Ausdruck los. Seine Augen sind geweitet, seine Augenbrauen schon fast empört zusammengezogen. Das tut gut. Es lockert mich. Ich lasse es sogar zu, dass ich ihn nachträglich anlächele, nachdem ich mich von meinem Lachanfall beruhige. Auch er scheint sich langsam wieder zu fassen. Ich sehe Amüsement auf seinen kantigen Gesichtszügen, auch wenn er nicht wirklich lächelt.
"Ich bin beeindruckt, Schneeflocke. Wirklich, wirklich aufrichtig beeindruckt." Hoffentlich erröte ich nicht. Ich will gar nicht breiter lächeln. Ich will nicht im Haus eines Mörders grinsen. Mein Blick senkt sich auf mein Messer. "Aber nein. Ich halte mein Wort. Das Wasser ist gefiltert und gekühlt, aber wenn du darauf bestehst, trinke ich auch daraus." Ohne meinen frechen Blick anzuheben, schiebe ich die Karaffe mit meinem Messer zu ihm. Ich sehe aus diesem Winkel nur seine Hüften, verbiete mir jegliche Gedanken an anderes. "Wieder einen großen Schluck", füge ich hinzu. Ich hebe meinen Blick wieder an, zeige ihm meine Kampflust. Meine Wangen tun weh, obwohl ich nicht mehr lächele. Es ist nur ein kleines, winzig kleines Schmunzeln. So eins, wie auf seinen Lippen. "Wie du wünschst." Seine langen Finger umschließen den Hals der eingekerbten Karaffe, um sich das Glas vollzufüllen, das er wieder an seine Lippen ansetzt. Ich weiß nicht, was der Grund ist, aber ich finde ihn gerade erschreckend anziehend. Er entspricht meinen optischen Bedürfnissen. Es lässt mich verrückt werden, wie er den Kopf leicht in den Nacken legt, um jeden Tropfen für mich zu trinken und als ich sein tiefes Einatmen durch seine Nase höre, beginnen für einen winzigen Moment, meine Lider zu flattern. Er stellt das Glas wieder vor mir ab, wischt sich daraufhin seine Lippen trocken, bevor er sich mit beiden Händen am Tisch abstützt und sich zu mir beugt. Ich verbiete mir jegliche Versuchung, auf seine freien Unterarme und Hände zu schauen. "Vertraust du mir jetzt, Schneeflocke?" Netter Versuch. "Nein. Ich nehme die Cola."
Er ist die Ruhe selbst, als er seine Augen schließt. Seine Lungen füllen sich mit Luft, während mein Bauch bebt, weil ich mir mein Lachen unterdrücken muss. "Wie du willst, Schneeflocke. Wie du willst." Innerlich rolle ich mich auf dem Boden wie eine Verrücke, weil ich mich gerade so sehr für mein Tun liebe und dafür, wie ruhig er bleibt. "Möchtest du jetzt reden, während des Essens oder danach?" "Jetzt." "Gut." Er läuft wieder zurück auf seinen Platz. Sein weißes Hemd spannt sich über seinen breiten Schultern. Er deutet mit seiner großen Hand, dass ich beginnen soll und das ist mein Startschuss dafür, mein Handy herauszuholen. "Die finanzielle Absicherung", setze ich an, woraufhin er nickt. "Du wirst bis zu deinem Tod niemals Geldsorgen haben müssen. Auch unsere Kinder-," "Ich hasse Kinder immer noch", unterbreche ich ihn, woraufhin er nachsichtig nickt. "Solltest du irgendwann welche haben wollen, würden sie niemals in Sorge leben. Das Gleiche gilt für deine Familie." "Danke, aber wir sind nicht sonderlich arm." "Das habe ich nie behauptet. Dein Vater verdient mit seiner Werkstatt sehr gut. Ich würde mich trotzdem, wie versprochen, darum kümmern, dass sie in einem Haus untergebracht werden, das sie verdienen." Ich nicke. Sie verdienen das Beste. "Wie bist du an diesen Erfolg gekommen?" "Ich habe Medizintechnik studiert und entwickele Geräte für Krankenhäuser, Labore und weitere medizinische Einrichtungen. Ein Familienunternehmen." Aha. Hm. "Und in deiner Freizeit erschießt du Männer?", hake ich mit angezogener Augenbraue an. "Gegebenenfalls." Dass er danach so gelassen die Schultern zucken lässt, lässt mich den Kopf schütteln.
"Das ist nicht die einzige Einnahmequelle." Das kann es niemals sein. Er hat nicht umsonst Sicherheitsmänner und Leute, die Informationen für ihn herauskriegen. "Mir gefällt deine Scharfsinnigkeit. Du hast recht." Natürlich habe ich das. Es ist mehr als nur offensichtlich. "Auch ein Familienunternehmen?" Ich hoffe, er bemerkt meinen Hohn, auch wenn ich neutral frage. "Ein Familienunternehmen", nickt er. "Erklär es mir." Ich muss es wissen. "Es gibt Dinge, die ich lieber ansprechen würde, wenn du wirklich meine Frau bist." Mein Kopf legt sich schief. Was soll das bedeuten? "Ich habe gesehen, wie du jemanden mit vier Schüssen getötet hast und er von zwei Leuten in ein dunkles Haus geschleppt wurde, ohne deine Frau zu sein." "Das stimmt, aber das ist kein Argument dafür, dir mehr zu verraten, solange du nicht meine Frau bist." Ich halte inne. Verdammt! Mir gefällt es nicht, dass er schlagfertig ist. "Ich kann nicht mit einem Mann zusammenleben, der keine Transparenz zeigt." "Ich werde dir gegenüber immer offen und ehrlich sein, nur will ich nicht, dass du hier herausgehst, falls du dich gegen das Angebot entscheidest und weißt, dass ich zum Teil eine Millionenfirma leite und nebenbei doch andere Dinge tue." "Die anderen Dinge sind das Entscheidende!", rufe ich schon fast. Er soll nicht um den heißen Brei reden. Ich bin hier, um Antworten zu bekommen und die will ich haben! Ich will mich nicht auf etwas einlassen, was nicht meiner Moral entspricht, auch wenn ich mir komplett damit widerspreche, weil er ein gottverdammter Mörder ist!
Er bleibt beherrscht und ich werte ihm das wirklich positiv an. Das ist ein wichtiger Punkt. Ein sehr wichtiger. "Im Geschäftsleben herrscht viel Korruption und Konkurrenzkampf. Da können andere Geschäftsleute gerne Mal mordlustig werden." Mir gefällt sein leerer Blick nicht. Ich erschaudere. Der Griff um mein Messer wird wieder fester. Sein Ton ist kühl, so emotionslos. "Manchmal wollen andere Geschäftsleute mich anlügen und betrügen. Manchmal wollen sie mich töten. So läuft das Geschäft, Schneeflocke. Ich trage die Spuren an meinem Körper." Ich halte die Luft an. Man hat also versucht, auch ihn zu töten. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Hat er denn schon viele Menschen getötet? Haben viele versucht, ihn zu töten? "Hast du sehr viele Menschen umgebracht?" "Würde es dich vergraulen?" Nicht so sehr, wie dein kalter Ton. Ich will keine Furcht zeigen. Ich will ihm nicht zeigen, wie einnehmend seine aktuelle Haltung ist und vor allem diese stechenden Augen, die mich fixieren. Mich schaudert es wieder am Rücken und Oberarmen. Geh zur nächsten Frage, Avin. Ich atme tief durch. Auf diese Fragen werde ich noch einmal zurückkommen. Wann, ist nicht bekannt. "Dein Bildungsgang. Du hast mir gesagt, dass du Medizintechnik studiert hast ... schon gut. Du hast es mir schon beim ersten Punkt beantwortet." Ich scrolle hektischer als gewollt zur dritten Frage. Es gefällt mir nicht, dass er mich aus dem Konzept bringt, wenn ich sonst immer gefasst vor Männern bei der Pragmatik bin.
"Die Haltung zur Frau." Ich gewinne wieder an Festigkeit in meiner Stimme. Sein Kopf neigt sich ein kleines Stück zur Seite. Noch antwortet er mir nicht. "Was definierst du als Frau? Was muss sie deiner Meinung nach tun und lassen? Wo ziehst du die Grenzen in deiner Beziehung?" Ich will nach der Coladose greifen, halte mich aber doch davon ab. Ich habe Hunger und als hätte ich meinen Gedanken laut ausgesprochen, wird an der Tür geklopft, woraufhin die zwei Frauen wieder hereinkommen. Dieses Mal mit einem Servierwagen. Er hebt seine Hand, um sie aufzuhalten, doch auch ich hebe meine Hand. "Es ist Suppe, oder? Nîsk?" Sein raues Summen bestätigt es mir. "Ich will. Ich habe Hunger." "Willst du jetzt essen? Ich habe alle Zeit der Welt, dir deine Fragen zu beantworten, Avin." Avin. Wie schön er es ausspricht. So aufrichtig, so liebevoll. So wie ich es hören will. Ich atme tief durch. Ich weiß, dass mich alleine dieser Satz emotional machen kann und tut, weil es genau das ist, was ich brauche, aber ich will es ihm nicht zeigen. Wenn es doch in die Brüche geht, will ich nicht, dass er sieht, wie glücklich ich bin. Ich habe mich zu oft gefreut, nur um danach enttäuscht zu werden. "Gut", flüstere ich. Sein Blick bleibt wie immer fest auf mich gerichtet. "Was möchtest du essen?" "Was gibt es?" "Alles, was du dir wünschst. Sag es nur und du bekommst es." Es ist wie in meinem Traum. Es fühlt sich so unbeschreiblich schön an, endlich mal diejenige zu sein, die sich nicht selbst um etwas sorgen muss, obwohl es etwas so Simples ist. Sag es nur und du bekommst es. Nicht emotional werden. Nicht jetzt.
"Würdest du mir also auch einen Dönerteller besorgen?" Fast lache ich, weil ich diesen emotionalen Moment für mich selbst zerstöre, aber so bleibe ich ruhig. So kann ich die Stimmung lockern. Er nickt. "Wie möchtest du ihn haben? Mit Hähnchen, stimmt's?" Nun nicke ich. "Ich will, dass das Fleisch etwas krosser ist. Ein wenig angeröstet an einigen Stellen. Schafskäse, Mais, alles an Salat. Mayo zu den Pommes, Zaziki und viel Cocktail. Bitte." Wie lange ich nicht mehr einen saftigen Dönerteller hatte und wie lange ich schon davon schwärme. Er weiß es nicht, aber das ist ein Zeichen, ihm zu sagen, dass ich mich ein wenig wohler fühle. Ich werde zwar nicht sofort nachgeben und mich an ihn schmeißen, aber diese wenigen Worte und wie aufmerksam er stets bleibt, lassen mich so wohlfühlen, dass ich sogar ein wenig mehr aus mir herauskomme und sage, was ich zu essen haben möchte. Sonst würde ich schweigen oder sagen, dass ich keinen Hunger habe ... und das macht mir Angst. Angst, weil es immer noch eine Lüge sein kann. "Sonst noch was?" Ich verneine seine Frage kopfschüttelnd, woraufhin er sich an seine Bediensteten wendet. "Für mich genau das gleiche, bitte. Ich gebe Bescheid, wann ihr beginnen sollt. Danke." Wie? Also, es kann ja sein, dass er auch einen guten Geschmack hat, aber ich bin ehrlich ... es passt nicht zu ihm. Ich dachte eher, er nimmt ein Steak oder so. Meine Überraschung bleibt unverkennbar, selbst als die Tür hinter mir wieder ins Schloss fällt. "Ich mag es, wenn meine Frau und ich das Gleiche essen. Es vermittelt mir das Gefühl der Verbindung." Lass dich nicht zu sehr davon einlullen, Avin. Es sind schöne Worte, aber sie dienen einem offensichtlichen Zweck.
Ich löffele die Suppe, die vor mir serviert wurde. Erst ohne Zitrone. Dann mit ihrer Flüssigkeit. Hoffentlich mache ich mich nicht dreckig. "Beantworte meine Fragen", spreche ich gegen die gelbliche Suppe auf dem Löffel. "Was ich als Frau definiere, ist primär doppelt-x-chromosomal." Ich verdrehe fast meine Augen. "Die Frau ist ein weites Spektrum an Individualität. Ich kann es dir nicht genau definieren, Schneeflocke, aber das muss ich auch nicht, weil ich nur dich im Fokus habe. Du tust, was du willst und unterlässt, was du willst. Ich werde nur eingreifen, sobald es notwendig ist. Wenn du dich in Gefahr bringst. Wenn du eine Sache tust, von der du überzeugt bist, sie aber nach hinten los gehen wird. Das ist situationsbedingt. Du behältst all deine Freiheiten. Du wirst studieren, arbeiten oder von mir aus zu Hause bleiben, solange du respektvoll bleibst und mich nicht hintergehst und das sind auch die Grenzen. Kein Betrug, Respekt, Ehrlichkeit." Ich bin ein wenig bestürzt über seinen Minimalismus. Keine Ahnung. Ich dachte, er würde mir jetzt eine Liste an den Kopf werfen, wie ich sie habe. Ich dachte, er würde über Gelüste sprechen oder was er gerne an Frauen mag, aber nein. Er bleibt beim Wichtigsten und dabei noch komplett respektvoll. Ich kann es nicht glauben! "Aber hast du denn nicht gewisse Vorzüge, wie deine Frau sein soll? Eine gewisse Eigenschaft, die sie haben soll? Eine bestimmte Fähigkeit? Äußerliches? Nicht eine einzige Sache?" Ich komme mir gerade so blöd vor, dass ich eine Liste mit Sachen in meinem Kopf verankert habe, die mein Zukünftiger aufweisen soll - noch bevor ich ihn kennengelernt habe - und er mir so locker und ohne jegliche Forderung entgegenkommt und mir alles anbietet, was ich mir nur ersehne. Er muss doch etwas haben wollen! Ich sehe es doch in seinen Augen, die mir so tief in die Seele schauen.
"Wie du, Schneeflocke. Meine Frau soll genau so sein wie du."
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