Kapitel 59

Das Verhältnis zwischen Azad und mir ist ein permanentes Auf und Ab und leider ist das einzig konstant zunehmende die Spannung zwischen uns. Ich hasse die ganzen Treffen im Haus und kann die Männer nicht mehr sehen und hören. Jedes Mal überkommt mich eine Wut, sobald ich mitbekomme, dass wieder ein wichtiges Gespräch ansteht. Umso schlimmer wird es, sobald Azad mir erklärt, dass die Männer nicht ins Elternhaus gehen können, weil er nicht riskieren möchte, dass mir etwas passiert. Ich könnte durchdrehen. Noch heute hat er versucht, mich zu überreden, doch nicht mit Jamal ins Krankenhaus zu fahren, der jetzt irgendwo auf der Station unterwegs ist. Hier und dort sehe ich bekannte männliche Gesichter, die mir versichern, dass mir nichts zustößt. Auch jetzt, wo ich den Mund-Nasen-Schutz und die Haube überziehe. Beim Zubinden des Kittels frage ich sogar Jaffar, ob er ihn mir hinten zubindet. Wie es mit dem Krankenhaus und der Station vereinbart wurde, dass hier Sicherheitspersonal marschieren darf, weiß ich nicht. Ich will mir den Kopf auch nicht darüber zerbrechen. Während der Visiten habe ich meine Ruhe und darf auch endlich wieder Freude spüren. Mein Herz springt mir immer beinahe aus der Brust, wenn ich mitsprechen darf und es dann auch noch korrekt ist. "Danke dir." "Nicht dafür." Ich lächele schwach unter der Mundbedeckung, nehme mir dann wieder meine Nierenschale und trete in das Isolationszimmer ein.

Im Zimmer befinden sich Zwillinge, beide betroffen von einer akuten lymphatischen Leukämie, wie wir gestern erfahren haben. Heute sollen weitere Tests durchgeführt werden und dann wahrscheinlich auch noch ein dauerhafter Zugang für die beide müden, blassen Mädchen. "Hi", begrüße ich die 10-Jährigen sanft. Mich kennen sie schon und tatsächlich finden sie mich trotz meiner erst distanzierten Haltung doch am besten. Ich habe von der Oberärztin gesagt bekommen, dass die Eltern sie darum gebeten haben, mich immer für Untersuchungen loszuschicken, weil die Töchter es so möchten. Wie sie darauf kommen, weiß ich nicht, aber wenn es ihnen guttut, soll es an mir nicht scheitern. "Hallo", murmeln beide zurück. Was ein Leid die Eltern täglich wohl tragen, zumal bei isolierpflichtigen Patienten strenge Besuchsregeln gelten? "Ich muss euch wieder Blut klauen." Aber davor desinfiziere ich mir erst meine Hände. Im Zimmer steht schon eine große Flasche meines speziellen Desinfektionsmittels. "Musst du das noch oft machen?", fragt mich Lia. Muss ich. "Ihr kriegt bald beide einen Zugang. Dann muss ich euch nicht mehr piksen." "Machst du das dann?", stellt mir jetzt Maria mit großen, glasigen Augen die nächste Frage. Ob ich einen ZVK schon legen darf, weiß ich nicht. Außerdem habe ich es noch nie gemacht und dann direkt bei zwei krebskranken Kindern?

"Das wird mir die Ärztin sagen." Das Desinfektionsmittel ist eingezogen. Ich kann die Handschuhe anziehen und direkt mit Lia als erste anfangen. Ihre dunkelblonden Haare liegen zerzaust auf dem eierschalenfarbenen Kissen. Maria hingegen trägt einen unordentlichen Zopf, aus dem in alle Richtungen feine Haare herausgucken. "Streckst du mir deinen Arm wie gestern aus?" Beim müden Nicken kriege ich leicht Mitleid. Da sind mehr Petechien als gestern. Ich beeile mich auch und versuche sie abzulenken, nur ist mein Smalltalk katastrophal. "Eure Eltern kommen heute wieder, nicht wahr?" "Ja", erwidern beide synchron. "Warum haben die Dinger so viele Farben?" Das ist eine sehr gute Frage, Lia. Zum Glück stellt sie mir diese, denn nach meiner ersten Frage hatte ich nichts mehr im Petto. "Damit man weiß, was man untersuchen muss. Hormone, Blutbild." "Druckt man das dann aus?" Lias Frage lässt mich sanft lachen. "Das könnte man meinen, nicht wahr? Man druckt es nicht aus, aber unter bestimmten Umständen schaut man sich das Blut unter dem Mikroskop an und dann hat man wirklich ein sehr großes Bild vom Blut." "Aber das ist doch alles rot", spricht Maria hinter mir, zu der ich mich einen Moment lang amüsiert drehe. "Aber man färbt es davor." "Wie?", fragen nun beide. Obwohl die Hämatologie nicht wirklich mein Lieblingsfach war und sein wird, macht es mir gerade ziemlich Spaß, die zwei aufzuklären. So lenke ich Lia auch vor dem Piksen ab, welches sie ohne Zucken hinnimmt.

"Ich kann aus diesem Röhrchen im Labor einen kleinen Tropfen nehmen und den auf einem Objektträger ausstreichen. Das ist eine kleine, rechteckige Glasplatte. Dann lasse ich es trocknen und bereite währenddessen meine Färbung vor." "Kann man sich die Farbe aussuchen?", fragt Lia mit großen, grünen Augen. "Es kommt auf die Untersuchung an, aber meistens ist es pink-lila", betone ich am Ende besonders anzüglich. Beide Mädchen keuchen und jaulen euphorisch. "Und manchmal sieht man herzförmige Zellen." Meine Information lässt sie nur noch begeisterter werden. "Mhm", summe ich bestätigend. Die fünfte Monovette ist voll. Jetzt kann ich mich an Maria wenden, die mich schon sehnsüchtig erwartet. "Aber woher weiß man, was mein Blut ist und was von Lia? Wir sind doch Zwillinge." Wie ähnlich wohl das Blut der Zwillinge ist? Ob eine Wahrscheinlichkeit vorhanden ist, dass beide eine ungefähr gleiche Verminderung an Thrombozyten und Hämoglobin haben? Minimale Unterschiede in der Linksverschiebung? Fast die gleiche Anzahl an Blasten? "Auf den Monovetten sind Aufkleber mit euren Namen." Ich streife mir den ersten Handschuh schon mal ab, auf dem Weg zum Mülleimer unter dem Desinfektionsspender gleich neben der Tür.

Unerwarteterweise geht die Tür auf und zeitgleich zucke ich zusammen. Im ersten Moment denke ich, es sei die Oberärztin oder ein anderer Kollege, der dringend etwas mitzuteilen hat, aber bei den zwei Männern handelt es sich um alles, außer Ärzte. Ich sehe die Mündung der Waffe in der fleischigen Hand des vorderen Typen. Mir rutscht das Herz in meine kalten Glieder hinab. Das sind die Männer Sherzads. Ich schreite sofort zurück, stelle mich vor Lia und hebe erstarrt die Hände an. "Hier sind nur Kinder. Hier ist niemand, den ihr sucht." Wie kriege ich überhaupt noch Worte raus? Was ist passiert? Wo sind Jamal und Jaffar? Geht es ihnen gut? Was ist mit dem restlichen Personal? Wie viele von ihnen sind ins Krankenhaus gedrungen? Ihre dunklen Augen sagen mir, dass sie für alles bereit wären. Ich stelle mich immer dichter an Lias Bett, wage es nicht, die Augen von den zwei zwielichtigen Gestalten zu nehmen. Mir war seit langem nicht mehr so kalt. Ich kann nichts tun. Weder ist es mir möglich, gescheit zu denken, noch richtig zu atmen. Diese Männer könnten diese zwei Mädchen schamlos ausnutzen, um das zubekommen, was sie wollen und sie bemerken, dass etwas nicht stimmt. Ich höre ihr leises Wimmern und das Rascheln durch Marias Bettdecke hinter mir, als die Männer langsam auf mich zukommen. Ich spreche jetzt schon die Shahada aus. Es könnte alles passieren und daran werden leider die Arme beider Mädchen um meinen Rumpf nichts ändern.

"Arbeitet eine Kurdin hier im Haus?" Fuck. Sie wissen, dass ich hier bin. Sie sprechen gerade mit ihrem gesuchten Opfer. "Ich weiß es nicht." "Avin Dastan. Wir suchen unsere Schwester." Ihr Hurensöhne seid höchstens die Familienmitglieder des Teufels. Ich muss tief durchatmen. Meine Hände legen sich auf die dünnen Arme der Mädchen um mich. "Soll sie auf dieser Station sein?" "Das wissen wir nicht", antwortet der Schäbige hinter ihm. Es ist eine Schande, dass die Narbe von seiner rechten Schläfe nur bis zur Wange geht und keinen finalen Schnitt durch seine Kehle gesetzt hat. "Wir können ja an der Pforte fragen, ob sich eure Schwester melden kann." Beide schauen sich an, sprechen jedoch kein Wort. Sie wissen nicht, wer ich bin. Die Maske und die Haube, die mir langsam zu den Augenbrauen heruntergerutscht ist, verdecken meine Identität und doch habe ich das Gefühl, dass er mich jetzt erkennen, als sie mich wieder ansehen. Mich überläuft ein weiterer kalter Schauder. "Machen wir so", antwortet der Vordere schlussendlich. Okay. Ich kann durchatmen. Ich weiß zwar nicht, was mein Ziel ist, aber alles ist besser, als mit zwei Mördern in einem Raum zu sein. "Dann einmal den Flur entlang nach links." Sind es nur die beiden? Wissen sie, dass auch Jamal hier ist?

Die Mädchen wollen mich gar nicht loslassen, aber mit einem versichernden Drücken ihrer Arme trenne ich mich widerwillig von ihnen, um den Gestalten zu folgen. Ich hoffe so sehr, dass Karla mitspielt und nicht versehentlich verrät, dass ich Avin bin. Sie treten in den breiten Flur. Links und rechts von uns gehen die Wände noch gut einen Meter oder mehr weiter und am liebsten würde ich wegrennen. In Gedanken renne ich einfach rechts um die Ecke. Meine Augen schielen schon verlangend dahin und als hätte Gott es so gewollt, sehe ich in zwei grüne Augen, die den Feind anvisieren, ihn packen und gegen die Wand rammen. Links von mir passiert genau das Gleiche, doch ich habe keine Kraft, um es zu genießen und flüchte wieder zu den panischen Mädchen ins halboffene Zimmer. Man könnte meinen Herzschlag durch die Tür spüren, so schnell rast und klopft es an meinem Rücken gegen die Tür. Es war zu knapp. Es hätte alles Mögliche passieren können. Ich kann das nicht. Ich kann mich kaum noch halten, als ich die besorgten Augen der zwei Kleinen sehe. Mir bleibt die Luft weg, aber ich habe Angst, den Mundschutz runterzunehmen, durch die Paranoia, dass sie wieder hineinstürmen könnten, obwohl ich den Tumult im Flur wahrnehme.

Ich möchte nicht weinen. Wirklich. Ich bemühe mich aller Kraft, doch meine Augen verraten mich mit schweren, langsamen Tränen. Mir bleibt jede Luft weg. Die Schutzkleidung liegt so schwer und schrecklich warm auf meinem Körper. Nur der Boden, auf den ich langsam sinke, kühlt mich ab. "Wer waren diese Männer?" "Sie haben sich vertan", flüstere ich atemlos. Ob Lia das glaubt, wenn sie und Maria so ängstlich auf ihrem Bett zusammengekauert sind, weiß ich nicht. Ich hoffe es. "Warum weinst du?" "Tue ich nicht, Lia." Es ist nur ein Kloß in meinem Hals, mehr nicht. Ich raffe mich langsam wieder auf, um zu ihnen ans Bett zu gehen, als es dann an der Tür klopft und meine negativen Assoziationen sich mit diesem Geräusch nur verschlimmern. Ich setze sofort meinen Fuß an die Ecke, ziehe die Klinke hoch, damit die Person sie auch ja nicht herunterdrücken kann. "Du kannst die Tür öffnen." Das ist Jamal. Das ist seine gedämpfte Stimme. Ich ... ich kann das heute nicht mehr. Mein Inneres weigert sich, die Tür zu öffnen. Jeder Muskel streikt, obwohl ich ganz klar seine Stimme höre. Ich kann mich kaum bewegen. Nur dann, als Jamal langsam die Klinke runterdrückt und meine Finger sich sofort um das Metall verkrampfen.

Dann sehe ich seine besorgten grünen Augen. "Ich komme gleich wieder, ja?", gebe ich den beiden Kleinen Bescheid, die immer noch verloren auf einem Bett zusammensitzen und sich an den Händen festhalten. Ich drücke mich durch den kleinen Schlitz, damit sie nichts sehen, auch wenn keiner der beiden mehr im Flur ist. Der Pflegewagen ist zur Seite gestoßen worden sowie der kleine Etagenwagen. Mir ist es unangenehm, die ganzen besorgten Gesichter des Pflegepersonals zu sehen. Karlas mageres Gesicht zeigt sich bestürzt. "Liebes, ist alles in Ordnung?" Nein. Ich will weg. "Passt schon." Fast kriege ich diese zwei Wörter nicht raus. Mein Mund fühlt sich so derart trocken an, dass ich das Gefühl habe, die Buchstaben müssten mir aus dem Mund gezogen werden. Sie glaubt mir nicht, doch wie sollte sie auch? Ihre dünne Arme ziehen mich in eine großmütterliche Umarmung. "Die Polizei ist schon im Haus. Sie werden dir sicherlich einige Fragen stellen, aber du bist freigestellt." Ich nicke nur. Wenn Azad das erfährt, dann wird er mich wirklich einsperren. Ich ... ich kann nicht mehr richtig denken. Alles rauscht an mir vorbei. Ich gehe noch schnell die Proben von Maria abnehmen, während Jamal und Jaffar mir nicht von der Seite weichen. Das Gespräch mit den Polizisten nehme ich nur halb wahr. Sollte man mich fragen, was die Beamten von mir wollten, könnte ich keine Antwort geben.

"Wo sind sie?", murmele ich zu Jamal. Jaffar kommt gerade mit meinem Kakao wieder. "Ivan und Mansur kümmern sich um sie." "Sagt Azad nichts." Ich seufze gegen den heißen Dampf. Das Ganze ist eine Katastrophe. Was wäre passiert, wenn ich in ein anderes Zimmer gegangen wäre, wo die Isolation keine Pflicht ist? Was ist mit Lia und Maria? Ich schiele über den dampfenden Becher zum Ausgang. Wie lange dauert es, bis die anderen den Parkplatz absichern? "Könnte man nicht über Sicherheitskameras schauen, ob da jemand ist, statt noch mehr Leute in Gefahr zu bringen?" Meine Frage erübrigt sich durch das Erscheinen eines signifikanten Maseratis. So viel zum Thema, sie sollen es Azad nicht sagen. Wie naiv war ich bitte zu glauben, sie würden es ihm nicht erzählen? Wenigstens waren sie so nett und haben ihn nicht hinzugerufen, als die Polizei schon hier war. Ansonsten wäre mein Stresspegel zu dem Zeitpunkt noch höher. "Danke für nichts", nuschele ich in meine Hand, die über mein Gesicht fährt. Azad stürmt aufgebracht ins Krankenhaus und anscheinend kann Jaffar schon vorhersehen, was passiert, sodass er mir den Becher Kakao abnimmt. Azads Augen sind blutunterlaufen. Sein Mund bleibt den ganzen Weg über fassungslos offen. Ich spüre seine Angst immer tiefer unter meine Haut gehen. "Avin", flüstert er fassungslos.

Die Wucht der Umarmung drückt mich gegen den Plastiksitz. "Avin." Meine Lippen verziehen sich durch seine gebrochene Stimme. Ich möchte nicht emotional werden. Zumindest nicht vor den Sicherheitsmännern, aber Azad macht es mir so unheimlich schwer, als er mich hochzieht und seinen Kopf in meiner Halsbeuge vergräbt. Meine Haut beginnt durch sein abgehaktes Atmen zu prickeln und meine Augen zu tränen. Ich spüre seine Hände meinen gesamten Rücken, meinen Nacken, meinen Kopf und meine Schultern abtasten, aus Angst, ich trage irgendwo Wunden. "Haben sie dir etwas angetan?" "Nein", flüstere ich genauso zittrig zurück. Es ist ein wahrer Kampf, nicht in Tränen auszubrechen. Meine Dämme wollen ausgerechnet jetzt einbrechen. Ausgerechnet jetzt möchte ich verhätschelt werden, alles seinetwegen. Azad nimmt mein Gesicht in seine großen, warmen Hände, streicht mir wehleidig meine Strähnen zurück. Ich kann ihm nicht lange in seine glasigen Augen schauen. "Lass uns gehen." Jaffar ist so freundlich und trägt meinen Becher bis ich im Auto sitze. Kaum lasse ich mich auf dem Sitz nieder, entweicht eine große Woge an Spannung meinen Körper. Leider nicht alles, denn beim alleinigen Starten des Wagens spüre ich schon die Last. Azad wird mit mir sprechen wollen und ich habe es im Gefühl, dass es mir nicht gefallen wird.

"Was genau ist passiert?" Kaum zu glauben, dass ein Mann mit einer so samtig weichen und fürsorglichen Stimme Menschen foltert und tötet. "Ich wollte bei den Zwillingen Blut abnehmen, als dann zwei reinkamen und meinten sie suchen Avin Dastan. Angeblich ihre Schwester", füge ich am Ende noch hinzu und verdrehe meine Augen. "Sie haben dich nicht erkannt." "Ja. Ich hatte einen Mundschutz und eine Haube auf, die mir heruntergerutscht ist. Ich hoffe, die Mädchen haben die Waffe nicht gesehen." "Im gesamten Haus wurde nach dir gesucht." "Sind ernsthaft mehrere bewaffnet zum Personal gegangen?" Azad nickt und ich lache fassungslos auf. Wie primitiv. Dümmer hätte man es nicht machen können. Wahrscheinlich haben alle Idioten überall gesagt, dass sie ihre Schwester Avin suchen. "Was ist danach passiert?" "Ich habe gesagt, dass ich sie nicht kenne und sie demnach sicherlich nicht auf meiner Station ist. Dann habe ich ihnen angeboten, nachzufragen. Kaum waren wir draußen, wurden sie schon von Jamal und Jaffar überwältigt." "Ich wusste, es ist keine gute Idee, dich ins Krankenhaus zu lassen." Und schon sinken meine Schultern. Der heiße Kakao wärmt mich nicht mehr. Stattdessen benetzt mich die Enttäuschung und der Pessimismus.

"Kannst du ihn nicht einfach töten?" "Das werde ich, Avin. Der Gedanke, wie dir etwas hätte zustoßen können in diesem Raum macht mich rasend. Ich kann mich kaum noch konzentrieren, wenn ich daran denke. Nazdar ist schon weg." Bitte?! Ich verschütte bei dem abrupten Ruck fast den Kakao. "Du hast sie getötet?", keuche ich. Für mich steht gerade alles still. Weder denken noch fühlen kann ich. Es ist nicht das erste Mal, dass er jemanden ermordet, nur ist es das erste Mal, dass es eine Frau ist. Warum das einen Unterschied für mich macht, weiß ich nicht, aber Mitleid empfinde ich dennoch keinen. "Noch nicht." Noch nicht. "Wo ist sie?" "Sie wird gefangen gehalten. Ich habe keine Lust mehr auf diese Kopfficks. Ich wollte kooperieren, damit sie dich in Ruhe lassen, aber sie wurden immer respektloser. Niemand tut dir etwas, Avin. Ich hätte es schon tun sollen, als dir eine Waffe an die Schläfe gehalten wurde. Wie dumm bin ich eigentlich?" Azad seufzt frustriert. Wie oft er sich wohl Vorwürfe macht? Was wird nun folgen? Ich spüre doch, dass mich noch mehr erwartet. In mir herrscht ein schwingendes Hin und Her. Der Drang nach Hause zu fahren und mich dort zu verschanzen gegen den Widerwillen dessen, weil die nächste Konsequenz nicht weit ist.

Sind die sich öffnenden Tore ein Zeichen für Schutz oder das Symbol des Einsperrens? Ich weiß es nicht. Der Geschmack meiner Zunge wiegt so schwer, dass nicht einmal der warme Kakao die Blockade wegspülen kann und ich weiterhin stumm bleibe. Ich steige erst aus, als Azad es mir erlaubt. Eskortiert zu werden ist schon Teil meines Alltags, doch die Enttäuschungen schmerzen jedes Mal unerwartet und ungewohnt. Ich sollte es mir eigentlich nicht allzu sehr zu Herzen nehmen - so habe ich es doch sonst auch über Jahre gehandhabt. Ich schlüpfe aus meinen Schuhen und steige wortlos die Treppen auf ins Schlafzimmer. Das Haus ist kalt. Ist sie hier? Was hat er mit ihr gemacht? Hat er sie geschlagen? War sie jemals hier im Haus, als Azad versucht hat, eine Beziehung aufzubauen? Ich nehme noch einen Schluck, ehe ich die Tür öffne, nur damit der süße Geschmack des warmen Getränks zu einer faden Brühe in meinem Mund wird beim Anblick der Koffer. Ich erschaudere noch bevor ich ihn hinter mir wahrnehme. "Es tut mir leid, Avin. Bitte hab Geduld. Es wird sich alles ändern, aber dafür muss ich dich in Sicherheit bringen." Ich muss wirklich flüchten. All die Jahre wollte ich nichts lieber als das und jetzt weigere ich mich, ihn anzusehen. Niemals hätte ich gedacht, dass mir so etwas passiert und umso weniger habe ich erwartet, dass es mir so schwerfällt. Warum? Es ist doch nur temporär. Warum fühle ich so intensiv nach all den Jahren Monotonie?

Azad stellt sich bedenkend vor mich, hofft auf irgendeine Reaktion, die er nicht bekommt. Wie soll ich denn auch schon reagieren? Es geht um Leben und Tod. "Und mein Studium?" Will ich die Antwort überhaupt hören? Habe ich die Zeit lange genug genossen? "Ich verspreche dir, dass du es fortsetzen wirst. Dir stehen Privatdozenten in der Schweiz zur Verfügung. Alles wird anerkannt. Du musst mir vertrauen, Avin." Seine Augen flehen danach, als er meine Oberarme festhält. "Dort steht uns viel mehr Schutz zu. Seitens Italiens und der Schweiz. Die schöne Natur wird uns guttun. Wir müssen wieder die Risse der letzten Zeit füllen. Ist das nicht der perfekte Moment?" Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nichts. Versuche ich es zu verstehen, dann spüre ich nichts als Überforderung. Soll ich die Verantwortung endgültig abgeben? Einmal versuchen, mich auf eine andere Person zu verlassen? Ich bin zu müde für diese Lage. Zu unwissend. Es macht mir Angst, als ich zögernd nicke. Selbst sein erleichtertes Lächeln und seine Umarmung nehmen mir die Angst nicht, ihm all das Vertrauen zu geben. Mein Gewissen rebelliert, aber ich bin zu kaputt, um noch zu denken. "Danke, Avin", haucht er gegen mein Haar. Bitte, Azad, enttäusch mich nicht.

"Was ist mit meiner Familie?" Was soll ich meiner Mutter sagen? Was ist, wenn sie mich wieder besuchen möchte und mich hier nicht findet? "Ihnen wird nichts zustoßen, Avin. Das schwöre ich dir. Wir werden regelmäßig zurückkommen, um sie zu besuchen. Aber deine Sicherheit steht im Vordergrund." Azad löst sich von mir, um mir in die Augen zu schauen, nur weiche ich ihm aus. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll, doch was bringt mir das Nachdenken, wenn ich nichts mehr daran ändern kann? Nimm es einfach hin, Avin. Das kannst du am besten. Hinnehmen, es in mich aufnehmen und nichts dabei fühlen. Das ist mein Spezialgebiet. "Lass uns die Lebensmittel mitnehmen. Die Schweiz ist teuer." "Geld wird niemals das Problem sein." Das Offensichtliche vergesse ich schon. "Aber es wird sonst schlecht werden." "Aras wird es abholen. Frag deine Mutter, ob sie etwas benötigt." Das werde ich erst dann tun, wenn ich alles verarbeitet habe. Jetzt heißt es, wieder loszufahren und in einen Privat-Jet zu steigen, der mich in ein fremdes Land bringt, wo ich von noch mehr dubiosen Menschen umzingelt werde. Sie werden mich schützen, ja, aber ... ach, was zerbreche ich mir überhaupt noch den Kopf? Stattdessen lehne ich ihn gegen das Fenster des Jets und schließe meine Augen.

"Mach dir bitte nicht zu viele Gedanken. Ich bringe dich in ein schönes Haus in der Nähe eines noch schöneren Sees." "Darf ich überhaupt raus?", frage ich voreingenommen, ohne mir die Mühe zu machen, meine Augen zu öffnen. "Sherzad wird sich nicht trauen, uns zu folgen. Schweiz und Italien sind für ihn Tabu. Mach dir keine Sorgen bitte. Ich weiß, dass es dir nicht gut geht und das setzt mir extrem zu, aber du musst mir vertrauen. Du wirst umgeben von der schönsten Natur sein. Berge, klares Wasser, schöne Blumen und eine ruhige Gegend." Was ist mit den zwei Kleinen? Ich öffne wieder meine Augen. "Was ist, wenn man jetzt versucht, Lia und Maria als Geiseln zu nehmen?" "Auf sie wird aufgepasst und Jamal wird nachkommen, damit du hier einen Lernpartner hast." Immerhin. Ich nicke, woraufhin er seufzt. Azad wirkt sehr angeschlagen. Seine sonst so leuchtenden Augen blicken müde und matt durch die Gegend, wenn ich sie einmal sehen konnte und wollte. Vielleicht hat er recht und uns tut dieser Ortswechsel wirklich gut. Vielleicht können wir die verpassten Momente wieder aufleben lassen. Ich darf nicht vergessen, dass das Leben mit Prüfungen einhergeht.

Und vielleicht verfestigt sich durch diese Prüfung der Weg zu meinem Herzen.

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Was denkt ihr, passiert in Zukunft?

- Helo

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