Kapitel 58

Ich zucke bei dem Schrei im Nebenraum zusammen. "Was ist euer Ziel?", schreit Azad ihn an und meine Konzentration ist damit weg. Ich kann mich nicht auf die Anatomie konzentrieren, wenn er gleich wieder einem die Sehnen rausreißt. "Wie gefällt dir das Mafialeben?" Aras lächelt mich charmant an, als würde sich hinter ihm keine Folter abspielen. Er ist so entspannt an die Tür gelehnt, dass man meinen könnte, er schläft gleich ein. "Wieso konnte ich nicht einfach zu Hause bleiben mit dir?" "Weil dein Ehemann dich immer in seiner Nähe haben möchte, egal wo und egal, was er macht. Ist das nicht romantisch?" Ich werfe gleich diesen gigantischen Atlas nach ihm, wenn er weiterhin so dumm mit seinen Wimpern klimpert. Noch bevor ich die Drohung ansetzen kann, durchzuckt mich erneut das leidende Schreien irgendeines Fremden. Ich mag das nicht. Überhaupt nicht. Als der Junkie meinen Bruder öfter mal aus dem Nichts geschlagen und halb erstickt hat, hat er auch solche Laute von sich gegeben und ich bin immer in Panik verfallen. Dass es jetzt einen anderen, wenn auch schuldigen, trifft, lässt meine Unruhe nicht schwinden. "Wieso kannst du nicht mit Azad sein?" "Möchtest du mich nicht bei dir haben?" Das Schreien des Typen ist schneller als ich. Daher halte ich inne und atme einmal tief durch.

"Nein. Du störst." Vor allem mit seinen Schwärmereien für Dijan. "Nicht doch, Schwägerin", erwidert er empört. "Geh da rein." "Nein, ich will nicht." "Was bist du für ein Mafiamitglied?", entgegne ich entgeistert, woraufhin er voreingenommen seine Arme vor seiner Brust verschränkt. "Einer, der auf Hygiene achtet. Nicht jeder liebt Sauereien wie dein Ehemann." "Nicht jeder ist so ein Feigling wie der Zwillingsbruder meines Ehemannes", kontere ich schnippisch. Aras schnalzt bescheiden mit seiner Zunge. "Ich erledige meine Arbeit gern ordentlich und sauber." Daraufhin klopft er den imaginären Staub von seinem Jackett ab. "Azad liebt Blut. Ich liebe nur das süße Blut deiner hübschen Freundin, aber es gibt da etwas, dass mein Bruder und ich gemeinsam haben." "Dass ihr Psychopathen seid?", frage ich trocken. "Das auch, aber ich meine, dass wir für unsere Liebe Blut vergießen. Immer und immer wieder." "Du meintest doch gerade noch, dass du ein pingeliger Feigling bist." So wie er sich benimmt, kann ich mir eher vorstellen, dass er kreischend nach hinten schreitet, wenn Blut spritzt. "Schwägerin, für dich und deine süße Freundin lasse ich Blut regnen. Wie denkst du nur von mir?" "Geh weg. Ich muss lernen." Als würde der Typ es absichtlich machen, schreit er schon wieder leidvoll. Langsam kann ich mir das wirklich nicht mehr geben. Das ist genug für heute.

"Hol deinen Bruder raus. Ich will nach Hause und in Ruhe lernen." Das ist krank. Krank und surreal, wie ich hier sitze und die Anatomie des Armes lernen muss, während mein Mann irgendeinen Attentäter foltert. "Wie du willst, Schwägerin." Daraufhin klopft er an die Tür. "Was?" Ich bin verdutzt, Azad so streng zu hören. "Deine Frau möchte nach Hause." Aras dreht sich mit einer verzogenen Miene zu mir, die Lippen aneinandergepresst, um nicht loszulachen. "Der ist aber mies drauf", murmelt er und so ungern ich auch lachen will, muss ich seinetwegen schmunzeln. Doch das vergeht mir schnell, als die Tür aufgerissen wird und ich Azads weißes Hemd und graue Weste blutbefleckt zu Gesicht bekomme. Von seinen Fäusten möchte ich gar nicht erst anfangen und das alte Tuch in seiner Hand könnte man sicherlich schon auswringen, so viel hat es schon aufgesogen. "Geht es dir nicht gut?" Von der Strenge und der Wut ist nichts mehr zu merken, als er mit mir spricht und doch sind seine Augen leer. Ich freue mich zwar, dass er sich bemüht, nur erschaudere ich trotzdem oft, als würde ich frieren, wenn er in meiner Nähe ist. Die aktuelle Lage tut ihm nicht gut. Er ist viel gereizter, so sehr er es auch vor mir versteckt und das tut unserer Beziehung leider gar nicht gut. Auch ich versuche meine Gefühle zu ignorieren und ihm zuvorzukommen sowie er es tut, aber wir beide wissen, dass wir uns damit nur abstoßen.

"Möchte einfach nach Hause." Azad ist so versessen darauf, den kompletten Hinterhalt aufzudecken, dass er sich selbst vergisst. Seine Gesundheit, seine Psyche, seine Ernährung. Ihm ist es nicht aufgefallen, aber mir ist es sofort ins Auge gesprungen, dass seine Schlüsselbeine viel stärker hervorstechen. Er schläft kaum und es gibt kaum einen Moment, wo ich allein sein kann. In den Vorlesungen sitze ich zwischen ihm und Jamal, vor und hinter mir bin ich umringt von bewaffneten Männern. Azad sagt zwar nichts, aber ich weiß, dass er nicht möchte, dass ich mit Idil und Harun bin. Nicht, weil er ihnen misstraut - er kennt sie wahrscheinlich besser als sie selbst -, sondern weil er verhindern möchte, dass auch sie in die Schusslinie geraten. "Gut. Lass uns gehen. Du übernimmst." Geistesabwesend drückt Azad Aras den schmutzigen Lappen in die Hand, den er angewidert von sich stößt, doch davon kriegt Azad nichts mit. Er ist mit einem Geist zu vergleichen, den gesamten Weg zum Auto. Der Kuss auf meine Schläfe, bevor ich einsteige, besänftigt mich nur einen kleinen Moment lang. Ich bin viel sensibler und angewiesener auf seine Aufmerksamkeit, seitdem sich die Lage verschlechtert hat. Sogar das Auslandssemester in der Schweiz würde ich in Erwägung ziehen, wenn es heißt, dass es zwischen uns wieder normal wird.

"Ich habe die Zeit aus den Augen gelassen. Wenn wir zu Hause sind, steht das Essen schon bereit. Du musst dich um nichts bemühen." Hm, okay. Seit dem Studium bin ich auch froh, dass uns Haushaltshilfe zur Verfügung steht. "Ist alles in Ordnung?" Ich verdrehe meine Augen. Er soll sich doch bitte nicht so dumm stellen. "Wie lange wird das noch weitergehen?" "Bis ich die Lücken für meinen Plan gefüllt habe." "Azad, das tut dir nicht gut." Ich schaue zu ihm, doch er erwidert meinen Blick nicht - und dass, obwohl er sonst derjenige ist, der mich statt des Verkehrs beachtet. "Es geht um deine Sicherheit." "Ja, aber ..." Ich verstehe ihn zwar, aber es hat einen stärkeren Einfluss, als ich angenommen habe. "Du musst auch an dich denken." "Tue ich." "Wann hast du zuletzt ordentlich geschlafen?" "Dann, als es nötig war." "Hörst du dir eigentlich zu? Oder verschwindet diese Fähigkeit auch in deinem Rausch?" Ich verstehe ihn zwar und bin ihm auch extrem dankbar, aber ich mache mir Sorgen. Bin ich denn aktuell die Einzige, die ihn vermisst? "Du nennst mich ja nicht einmal mehr bei meinem Kosenamen", rutscht es mir aus. Mein Körper kühlt und erhitzt gleichzeitig. Mag sein, dass ich mich immer besser artikulieren kann, aber ich bin und bleibe die Verschwiegene von uns beiden. Für diesen Ausrutscher würde ich mir am liebsten eine reinhauen.

Und ausgerechnet jetzt ist Azad nicht in Gedanken versunken. Er fährt bewusst langsamer und schaut zu mir. Dieses Mal bin ich diejenige, die den Blick nicht erwidert. Hätte ich einfach den Mund gehalten. "Tut mir leid, Schneeflocke." "Passt schon." "Nein, tut es nicht." "Ändert doch anscheinend nichts, wenn du weiterhin deinen Plan durchziehen möchtest." Als Antwort erhalte ich ein Seufzen. Das beschreibt unsere aktuelle Lage ziemlich genau. "Lass uns nach Hause und das klären." "Ich weiß nicht, wie ich es formulieren soll", murmele ich. Das Einzige, was ich mir wünsche, ist, dass alles wieder in Ordnung wird, aber dafür muss er das machen, was er schon seit fast einem Monat tut. Wir werden uns im Gespräch nur im Kreis drehen. Wie soll ich ihm sagen, dass ich bald schon im Krankenhaus arbeiten muss? Weiß er, dass die Universität eine Reformierung der Praktika eingeführt hat? Die Wahlcurricula, für die man sich dieses Semester eintragen konnte, waren alle schrecklich. Hämatologie, Urologie, Allgemeinmedizin oder Kinderonkologie. Vielleicht wurde es absichtlich so gewählt, damit mehrere am Ende Internisten werden. Ich habe mich für die letzteren entschieden und muss es ihm noch sagen. Aber erst, wenn wir aus dem Auto steigen, was jetzt zu schnell für meinen Geschmack passiert. Ich werde von Azad und sieben weiteren Männern ins Haus eskortiert, die sich an den verschiedensten Punkten im Haus aufstellen werden, nachdem sie alle Räume kontrolliert haben.

Im Essbereich wartet das Essen schon auf uns, nur fehlt mir jeglicher Hunger. Ich will mir erst die Hände waschen und vor allem Azad sollte es tun. "Händewaschen." Da ich weiß, dass ihn Blut nichts ausmacht, ziehe ich ihn hinter mir her in die Küche ans Spülbecken. Wie ungewohnt es doch wieder ist, ihn nach so langer Abwesenheit hinter mir zu spüren. Er schmiegt sich an mich, als wäre er emotional nicht abwesend und nimmt meine Hände in seine, um sie zu waschen. "Zu dieser Jahreszeit hast du kaum mit deinem Asthma zu kämpfen, oder?" "Richtig." Ich bin heilfroh, dass die Katzen regelmäßig gebürstet werden und hier mit Milbensauger gearbeitet wird, denn sonst hätte ich sicherlich mehr Probleme. Apropos Probleme: Vielleicht sollte ich jetzt das mit den Wahlcurricula ansprechen. "Ich muss bald ins Krankenhaus." "Was lässt du untersuchen?" Ich schnalze fast mit meiner Zunge, unterdrücke mir die genervte Reaktion. "Ich werde auf der Kinderonkologie und-," "Avin, das geht nicht." Und sofort halte ich inne. Mein Herz rast vor Stress. Das Studium darf nicht gefährdet werden. "Ich muss", entgegne ich mit Nachdruck. Mir ist gerade schrecklich warm und ich fühle mich seinetwegen extrem eingeengt. Daher entziehe ich meine Hände aus seinen, wasche sie ordentlich und drücke mich an Azads Körper vorbei. Ich muss die Felder belegen. Das gehört zu meinem Studium!

Azad seufzt gestresst. Mich beschleicht langsam das Gefühl, dass wir uns streiten werden. Es wird ein großer Streit und dann werde ich den Essbereich verlassen. Weil ich mich auf die zukünftige Distanz vorbereiten will, verlasse ich die Küche schon ohne ihn. "Avin", ruft er mir hinterher, ohne eine Antwort zu erhalten. Wie soll das denn weitergehen? Bin ich irgendwann gezwungen, das Studium abzubrechen? "Avin." Mein Puls steigt wieder beim Wahrnehmen seiner schweren Schritte. Schreit er mich jetzt an? Beginnt jetzt unser Streit? Azad steht wie angewurzelt vor dem Esstisch, an dem ich schon Platz genommen habe. "Geh nicht allein irgendwohin." "Ich bin in meinem Haus." "Es könnte überall etwas passieren." "Dafür sind doch die Sicherheitsleute zuständig, Azad! Siehst du nicht, was das alles mit dir macht? Es macht dich kaputt." Ihm geht es so schlecht, dass ihn die Paranoia zerreißen, sobald ich ohne ihn ins Wohnzimmer gehe. Gott bewahre ihn bei dem immensen Stress vor einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. "Jeden Tag habe ich das Gefühl, deine Psyche verschlimmert sich. Du isst zu wenig, du schläfst kaum, du bist zu gereizt. Denkst du, ich erwische dich nicht dabei, wie du Augentropfen einnimmst, weil deine Bindehaut so trocken und gereizt ist? Morgen muss ich sicherlich schon mit dir diskutieren, wenn ich allein auf Toilette muss und jetzt willst du mein Studium gefährden." Ich seufze resigniert. "Wird das immer so sein?"

Als ich in seine Augen schaue, habe ich gehofft, Sanftmütigkeit und Mitgefühl zu sehen. Eben das, was ich von Azad gewöhnt bin, aber sie bleiben so leer wie all die Tage zuvor auch. "Es geht um dein Leben, Avin. Du musst nachsichtiger werden." "Ich bin umzingelt von Mördern und Waffen. Ich gehe kaum raus noch in die Bibliothek oder sonstiges." "So hast du doch sonst auch immer gelebt." Ich bin sprachlos. Mir fehlen wirklich die Worte für diese Aussage. All die Energie geht über in Wut. Immense Wut. Man könnte meinen, dass er recht hat, aber ... ich kann es nicht einmal in Worte fassen. "Soll das jetzt immer so weitergehen? Dass du die jetzige Situation damit rechtfertigen willst, dass ich ja so etwas aus meiner Vergangenheit gewohnt bin? Sollte nicht das Gegenteil herrschen? Wolltest du mir nicht raushelfen?" "Genau das tue ich doch", erwidert Azad ruhig. Je mehr Schritte er in meine Richtung ansetzt, desto abgeneigter werde ich von ihm. Mir missfällt es schon, dass er die Stuhllehne mit beiden Händen umschließt. "Was du tust, tut weder mir noch dir gut." "Das ist nicht das erste Mal, dass ich so ein Problem löse." "Du löst gerade gar nichts. Viel mehr schaffst du welche." "Avin, sei vernünftig. Solange Sherzad keine Ruhe gibt-," "Und wenn es über Jahre so geht? Ich bin gerade mal im ersten Semester und du willst mir schon meine Praktika verbieten!" Ich habe wirklich verdammte Angst, dass ich nicht mehr studieren darf.

"Dann werde ich einen jahrelangen Krieg führen. Du hast dich entschieden-," "Ich habe mich entschieden?!", unterbreche ich ihn laut. Nein. Er kann und wird das nicht auf mich schieben. "Ich wusste erst, was für ein Leben du führst, nachdem du offiziell um meine Hand angehalten hast. Weil du es für besser empfunden hast. Hätte ich gewusst, dass es ein Mittel zum Zweck dafür war, dass ich nicht mehr wegrennen kann, hätte ich vielleicht anders gehandelt. Du wirst das Problem ganz sicherlich nicht auf mich schieben und damit begründen, dass ich mich auf all das eingelassen habe. Ich wollte endlich nur ein ruhiges Leben und meinem Traum nachgehen, den du jetzt gefährdest!" Ich hasse mich dafür, dass meine Stimme bricht. Ich will nicht emotional werden. Ich will einfach nur weg. "Ich werde bald im Krankenhaus arbeiten und da wird es nichts zu diskutieren geben." Ich esse später. Die Wut und Trauer liegen gerade viel zu schwer in meinem Magen. Wenn mir eine Möglichkeit geboten wäre, nicht an Azad vorbeizumüssen, um ins Schlafzimmer zu gelangen, würde ich es sofort in Anspruch nehmen, statt seinem Blick ausgesetzt zu sein. "Nein, Avin. Ohne weitere Sicherheitsmaßnahmen, wirst du nicht-," "Dann sorg für weitere Sicherheitsmaßnahmen!", schreie ich ihn an. Langsam fehlt mir der letzte Geduldsfunken.

"Selbst das unterbindest du! Davor gab es nie Probleme mit dem Organisieren von irgendwelchen Sicherheitsmännern." "Weil ich jedes Risiko aus dem Weg gehen will!", presst er angespannt hervor. "Avin, ich habe Angst wie noch nie um dich. Ich würde am liebsten alles absperren. Ich will das doch auch nicht, aber ich muss! Ich hasse mich immer noch dafür, dass dir eine Waffe an die Schläfe gehalten wurde. Fandest du das etwa besser als die jetzige Lage?", fragt er mich verzweifelt. Seine Arme breiten sich aus, in der Hoffnung eine Antwort zu erhalten. "Azad, ich kann doch nicht auf ewig eingesperrt und so derart eingeschränkt leben. Gibt es keine andere Möglichkeit?" "Er will Rache." "Dann töte ihn doch, mein Gott! Soll unser ganzes Leben aus diesem Versteckspiel bestehen?" Ich verstehe es einfach nicht. Ja, ich habe absolut keine Ahnung, wie es in der Mafia zugeht und was möglich ist und was nicht, aber es kann doch nicht sein, dass wir uns permanent auf der Ebene des Folterns und Versteckens befinden. "Genug, Avin." Meine Schultern sinken bei seinem strengen Ton. Das hat keinen Sinn mehr. "Setz dich und iss." "Ich werde gar nichts machen." Ich bin so geladen, dass ich das Essen am liebsten nach ihm werfen würde.

"Avin, jetzt sei-," Sein Klingelton unterbricht ihn. Wer es ist, weiß ich nicht, aber er scheint wohl Neuigkeiten zu haben. "Ich komme sofort." Natürlich. Ich lache fassungslos auf. "Geh, los." "Zieh deine Schuhe an." Azad bewegt sich auf einem ganz gefährlichen Territorium. Er wird mir gar nichts befehlen. "Geh und komm nicht vor Sonnenuntergang nach Hause. Ich habe mich genug herumgeschlagen." "Avin." Azad möchte mich vom Weiterlaufen abhalten, weshalb ich mich umso wütender aus seinem Griff befreie. "Geh!", schreie ich. "Deinetwegen werde ich das Studium nicht vernachlässigen. Ich muss lernen und kann nicht, wenn du jemanden derart folterst, dass sein Schreien mich aus dem Konzept bringt. Geh endlich, Azad. Ich kann deine Gesellschaft gerade überhaupt nicht gebrauchen!" Wir reden aneinander vorbei. Er ist nicht umzustimmen und ich sehe es nicht ein, permanent so zu leben, wenn es davor auch leichter war. Was dachte ich mir dabei, es anzusprechen? Ich fühle mich wie eine Idiotin, dass ich ihm wirklich einen Einblick in meine Gefühle und Sorgen gegeben habe. Für mich macht so etwas nur Sinn, wenn es auch berücksichtigt und umgesetzt wird. Jetzt gerade habe ich mich wie eine Versagerin gefühlt. Warum musste ich auch anmerken, dass er mich nicht einmal mehr Schneeflocke nennt?

"Avin, bitte." Nein. Ich steige die Treppen auf. "Geh zur Halle oder sonst wohin. Ich muss lernen." Passend dazu finde ich Jamal oben an der Treppe stehen. "Willst du den Stoff heute aufarbeiten?", frage ich demotiviert. Armer Jamal. Er ist ganz zwiegespalten, weil er offensichtlich das Gespräch mitbekommen hat. Ich warte nicht weiter, sondern laufe ins Arbeitszimmer. Seine Präsenz spüre ich nach wie vor hinter mir und als Ergebnis erschaudere ich. Meine Finger reagieren hektisch beim Öffnen und Schließen der Tür. So wohl ich mich auch fühle, hasse ich es immer noch, wenn man mir hinterherrennt. "Komm mit mir." "Geh, Azad. Ich muss lernen." Der Blick aufs Regal soll nur vorspielen, dass ich weiß, was ich tue. Ich kann gerade nicht denken und weiß nicht, welche Bücher ich nehmen will. "Willst du dich deshalb immer mit mir streiten?" "Muss ich mich jedes Mal wiederholen? Ich habe gesagt, was ich sagen musste und du tust weiterhin das, was du möchtest. Lass mich jetzt bitte in Ruhe, Azad. Ich habe wirklich keinen Nerv dafür." Je weiter er mich in die Ecke drängt, desto wahrscheinlicher ist es, dass ich ihn verletze oder andersherum und das möchte ich nicht. Aktuell verlange ich nur Ruhe - und diese tritt jetzt ein. Sein Seufzen zieht sich stärker in meine Brust als gewollt, aber zumindest werde ich allein gelassen.

Mein Atlas ist noch in Azads Auto, was mich umso wütender macht. Wohin geht er? Wie lange bleibt er weg? Wie lange wird es noch so weitergehen? Ich wollte nicht aus einem Teufelskreis in den nächsten springen. Und wer klopft jetzt? "Ja?" Es ist Jamal, der meinen Vorschlag anscheinend angenommen hat, wenn ich sein iPad und Block richtig deute. "Wollen wir den Stoff nacharbeiten?" Das ist das einzig Sinnvolle jetzt. Ich deute auf den freien Stuhl und ziehe den Sobotta-Atlas hervor. "Welche Curricula wählst du?" "Die, die du wählst." Das war wirklich eine dumme Frage. "Internistisch und Kinder-Onko", murmele ich. Was soll mir denn passieren, wenn die Leute sowieso überall sind? "Wenn du sowieso mit mir bist, warum will er es mir dann verbieten?" "Man weiß nie-," "Es könnte doch jetzt auch etwas passieren, Jamal. Was soll ich sonst machen? Teilt ihr mir den Schein aus, dass ich angeblich die Wahlcurricula belegt habe?" "Das wäre möglich." Das ist doch ein Witz. Ich lache verzweifelt auf. "Muss ich dann bald auch nicht das Examen antreten und ihr besorgt mir einfach die Zulassung?" Das ist doch lächerlich! Es hat keinen Sinn, weiterzudiskutieren. Ich bin umgeben von Leuten mit einer anderen Mentalität. Noch bin ich nicht abgehärtet ... noch habe ich nicht alles durchgemacht. Wird sich alles wiederholen? Werde ich wieder auf eine Aneinanderreihung von Enttäuschungen treffen?

Wird der Weg durch mein Herz bald wieder einstürzen?

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