Kapitel 57

Den Moment der Entlastung habe ich über Jahre herbeigesehnt und doch hätte ich niemals damit gerechnet, dass er jetzt eintritt. Jetzt, mit der Beichte. Vielleicht, weil sich hinter der Beichte viel mehr versteckt. Weil hinter der Bedeutung des Vermissens eine noch viel Größere steckt, die jetzt auf ihn übergeht durch die innige Umarmung, die zum Teil auch als Schutz gilt. Es herrscht eine absolute Stille, aber ich spüre seine Anspannung unter mir. Er hat es verstanden und als wäre es wieder der Moment im Meer, wo ich ihn umarmte, atmet er kaum noch. Seine Finger kreisten noch Sekunden vor der Antwort und jetzt drücken sie sich langsam in meine Lenden. "Du hast mich vermisst", wiederholt er nun leise. "Ja", erwidere ich umso leiser, kaum vernehmbar. Azad drückt sich fester an mich, vergräbt dabei seinen Kopf in meiner Halsbeuge. Ich möchte es mir selbst nicht eingestehen, aber das Geständnis macht mich emotionaler als ich möchte, weil ich damit eigentlich etwas anderes sage und ich bin mir sehr sicher, dass er weiß, wofür es steht. Es macht mir Angst. Es bereitet mir verdammte Bauchschmerzen, dass ich diese Grenze überschreite. Mir wird heiß, aber ich kann und möchte mich nicht von ihm lösen.

"Sollen wir ins Bad?", frage ich stattdessen. Ich bin schon verschwitzt und durch die unterdrückte Nervosität wird es nur noch schlimmer. Azad lehnt sich zurück, um mir in die Augen zu sehen und als wäre ich ein verliebtes Schulmädchen, erröte ich. "Gern." Er lächelt sanft, voller Freude in seinen hellen Augen. Dann erhebt er sich, weiterhin mit mir um ihn geschlungen, bis wir in der kalten Wanne sitzen und er das Wasser einlässt. Langsam und vorsichtig zieht er sich wieder aus mir. Es fühlt sich verdammt komisch an, aber ich komme klar. Hoffentlich wird der Sex jetzt kein Problem mehr. Azad wirkt gerade nämlich so verdammt glücklich. Wahrscheinlich schmerzen seine Wangen schon von seinem Lächeln, das er versucht, so bescheiden wie möglich zu minimieren. "Hast du Schmerzen? Hat es dir gefallen?" Seine Augen glänzen voller Freude. Azad wirkt plötzlich so viel jünger und so unschuldig, auch wenn ich oft genug das komplette Gegenteil in seinen Augen gesehen habe. Ich könnte es bei diesem Anblick nicht übers Herz bringen, so gängig und trocken wie immer zu antworten. Ich weiß, wie viel es ihm bedeutet und wie besonders dieser Schritt für ihn ist - für mich ja auch. Es ist ein psychologischer Fortschritt.

"Ich habe keine Schmerzen und es hat mir gefallen." Zwar fühle ich mich ein wenig beansprucht untenrum, aber man benötigt nur ein wenig simplen Menschenverstand und einen Blick auf seine Natur um es nachvollziehen zu können. "Ich war ein wenig überrascht, dass du dein erstes Mal in dieser Position haben wolltest. Das ist wenig verbreitet, aber du wachst ja auch direkt mit dem ersten Klingeln deines Weckers auf. Ich habe eine psychopathische, aber sehr selbstbewusste Geschäftsführerin geheiratet." Ich lächele, genau wie er. "Heute werde ich wahrscheinlich vor Freude nicht schlafen." Süß. Ich drücke seine Wangen zusammen. "Wir werden sicherlich eine Lösung dafür finden." "Möchtest du etwa noch einmal?", fragt er mit angezogenen Augenbrauen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht. Wenn es passt, wieso nicht? "Wir lassen uns überraschen", schmunzele ich. Azads Freude ist nicht wegzubekommen und es macht mich so unfassbar glücklich, ihn so zu sehen. "Heute scheint ein wirklich sehr guter Tag zu sein. Möchtest du ein wenig an deinem Kadaver lernen später?" Ich weiß nicht, ob eine Leiche nach dem ersten Sex das Richtige ist. Daher zucke ich mit meinen Schultern.

"Avin." Es ist mein Name. Mein Name, den ich 24 Jahre oft genug gehört habe und doch spüre ich eine Gänsehaut an meinen Schultern und eine Ernüchterung in meinem Herzen, weil ich weiß, dass er meinen Namen nur ausspricht, sobald es ernst wird. "Das heute war ein wichtiger Schritt. Das ist dir bewusst, oder?" Eigentlich möchte ich mich wieder zurückziehen und nicht darauf antworten, aber ich weiß, dass wir über meine Empfindungen sprechen müssen. Daher nicke ich, wenn auch zögernd und recht leicht. "Versteck dich jetzt nicht schon wieder in deinem Schneckenhaus, weil es emotionaler wird." Ich will nicht schmunzeln, aber er hat mich schamlos ertappt und sein mahnender Ton macht es nur noch amüsanter. Deshalb flüchte ich an seinen Nacken, um seinen Hals zu beißen. "War das ein Liebesbiss?" Ich höre sein Lächeln heraus, beiße daher ein zweites Mal zu und höre ihn daraufhin lachen. "Beiß noch einmal zu, Schneeflocke. Dann bin ich mir sicher, dass es ein Liebesbiss war." Diesem gebe ich ihm auf, ganz langsam, neckend durch meine Zunge, die über seine Haut fährt und dazu führt, dass er sich neu aufsetzen muss. "Ist das eine Einladung für eine zweite Runde?", raunt er mir zu. Seine Hand zieht mich an meinen Haaren zurück.

"Ich will etwas essen. Fahr mich ins Restaurant." "Bist du nicht gesättigt?" Sein schiefes Grinsen und die neckend zuckende Augenbraue spielen auf den erfolgreichen Sex hin und wenn ich ehrlich bin, kriege ich durch seine Mimik wirklich Lust auf eine zweite Runde, nur ist mein Verlangen nach Essen stärker. "Nein. Fahr mich sofort." Meine Lippen zucken belustigt, doch mein Blick bleibt streng. "Was immer du dir wünschst, Schneeflocke." Azad beugt sich für einen kleinen Kuss vor, den ich aber doch ein wenig länger genießen will. Nicht zu sehr, sonst wird die Wanne eingeweiht. "Dann lass uns schnell wieder frisch werden. Ich gebe aber schon einmal Bescheid, dass wir essen wollen." Damit steigt er aus der Wanne, um sein Handy zu holen. Noch nie habe ich einen so hinreißenden Po gesehen. Er steht ihm. Nur ernüchtern mich seine Narben wieder. Hoffentlich kommt so etwas nie wieder vor. Ich realisiere erst jetzt wieder, wie gefährlich mein Leben jetzt ist. Zu oft rauscht es einfach an mir vorbei. Vielleicht, weil ich bis jetzt noch nie ernsthaft in Gefahr war. Vielleicht aber auch, weil ich durch Azad nicht das Gefühl verspüre, Angst haben zu müssen. Wie stark belastet es seine Psyche eigentlich? Azad ist ein Sonnenschein, gar keine Frage, aber allein seine emotionslosen Phasen nach dem Internen sprechen doch für einen Schutzmechanismus wegen einer Belastung.

Die Frage bleibt noch eine Weile in meinem Kopf. Bei der gepanzerten G-Klasse vor mir kann ich auch an nichts anderes denken. "Wie kommst du mit diesem Stress klar?" "Welchem?" Wie unschuldig er mich fragt. "Den Konsequenzen, einem Clan anzugehören." Azad schaut einmal in den Innenspiegel, bevor er antwortet. "Es ist eine pure Sache der Gewöhnung. Man wird hineingeboren. Man lernt die Brutalität und den Tod vor der Pubertät kennen. Begriffe, die ein 10-Jähriger in seinem Alter nicht kennen sollte, habe ich öfter gehört als den Begriff Spielplatz. So etwas gab es für mich nicht." Sein Kopf schüttelt sich schon fast entsetzt bei dem Gedanken an eine normale Kindheit. "Ich habe nur meine Familie. Durch meine Cousins und Brüder hatte ich eine überwiegend normale, jugendliche Entwicklung, nur mit dunklen Schatten. Man muss sehr früh mit Erschossenen klarkommen. Dass es vor den eigenen Augen stattfindet, wusste ich als 13-Jähriger nicht. Ich erinnere mich jedes Mal daran, als wäre es erst gestern gewesen, wie Agir mir den Mund zugehalten hat, weil ich schreien wollte. Wie soll ich sonst reagieren, wenn mein Vater plötzlich irgendeinen Mann erschießt?" Mir fällt keine Antwort ein.

"Aber so ist das nun mal." Azad umschließt für einen Moment sein Lenkrad fester. "So ist das nun mal", wiederholt er leiser, nachdenklicher, als sein Daumen über sein Kinn fährt. "Das hat mein Vater immer gesagt. Zu jeder Sache, an die ich mich gewöhnen musste. Noch an dem Tag musste ich lernen, wo die Schwachstellen am menschlichen Körper sind. Der Mann war tot, aber sein Blut frisch. Dass mein Vater ohne jegliche Emotion seine Hauptschlagader freigeschnitten hat, um mir zu zeigen, dass ein Messerschnitt dort am effektivsten ist, hat mich Nächte lang keine Ruhe finden können. Aras hat das besser vertragen, aber am Ende bin ich der psychotische und er der saubere Mörder geworden. Oft verliere ich zwar die Geduld, aber ich bin gern leidenschaftlich dabei. Ich mache mir gern die Hände dabei schmutzig, obwohl ich anfangs immer die Augen verschlossen habe. Aras hingegen tritt drei Schritte zurück, um sich nicht schmutzig zu machen. Ich weiß nicht, wie es wäre, wenn ich meine älteren Brüder nicht als Seelsorger hätte. Sie haben es schon vor Aras und mir durchgemacht und sich sehr um uns gekümmert. Nach jedem Zwischenfall im Haus haben wir zu viert in einem Zimmer gespielt und geschlafen. Filme, Gespräche, Essen. Hauptsache, wir konnten es gut verarbeiten. Dafür bin ich ihnen bis heute noch dankbar."

Es wird wieder still. Das ist eine Menge, die ich erst einmal verarbeiten muss. Auch er hat schon früh Dinge gesehen, die nicht für ihn geeignet waren. "Aber jetzt bin ich nicht zu erschüttern. Mein einziger Schwachpunkt bist wirklich du." Das schmeichelt mir. "Hattest du keine Albträume?" "Zum Glück nicht", antwortet er. "Ich hatte zwar einige Träume, in denen sich die Handlungen wiederholt haben, aber ich bin nie panisch aufgestanden. Nur dann, wenn ich dachte, dass ich erschossen werde. Ich erinnere mich auch an einige Dinge nicht und kann sie nur grob wiedergeben." Das kenne ich nur zu gut. Vor allem, wenn ich wütend bin, kann ich mich nicht mehr genau an das Passierte erinnern. "Aber das ist nicht mehr von Belang. Mir geht es gut und ich habe eine wunderbare Ehefrau. Das reicht." Ich hoffe, es geht ihm wirklich gut. Dem Parkplatz zu urteilen, scheint heute nicht viel los zu sein. Vielleicht weil es mitten in der Woche ist, aber vielleicht auch, weil es von der Uhrzeit nicht so passend ist. Ich weiß es nicht, aber mir ist es auch egal. So ist es mir lieber.

Azad hilft mir aus dem Wagen, legt galant seine Hand auf mein Kreuz und dirigiert mich wieder auf die Terrasse. Die Heizstrahler sind schon an, also werde ich nicht frieren. "Du bist heute besonders charmant", schmunzele ich, als Azad mir den Stuhl zurückschiebt. "Das ist eine überlebenswichtige Aufgabe, Schneeflocke. Sonst kriege ich wahrscheinlich nur Auberginen zu essen." Seine verspielte Aussage lässt mich leise giggeln. Heute ist ein guter Tag. Ich bin wirklich glücklich und zufrieden und das sieht Azad auch, als ich verträumt meine Wange an meiner Hand abstütze. Seine Augen funkeln zufrieden. Seine süßen Grübchen stechen bei seinem sanften Lächeln hervor, aber kaum schaut er an mir vorbei, lockert es sich. Ich höre Schritte hinter mir und eigentlich würde ich keine Panik kriegen, wenn ein Kellner kommen würde, aber Azads umschlagender Gesichtsausdruck sagt mir, dass etwas nicht stimmt. Er erhebt sich und ich will es ihm zitternd nachtun, als ich einen kalten Lauf an meiner Schläfe spüre. Nein. Es läuft mir eiskalt den Rücken runter. "Hinsetzen." Ich weiß nicht, was ich tun soll, schaue Azad an, um seine Erlaubnis dafür zu haben. Er nickt angespannt und ich tue es sofort. Wer ist das? Rechts von mir sehe ich, wie Jamal die Waffe auf die Person zielt, aber daneben zielt auch jemand auf Jamal und ich sehe plötzlich so viele Männer, die Waffen auf sich halten.

"Wollen wir das Problem aus der Welt schaffen, Azad? Angefangen damit, meine Schwester auszunutzen?" Es ist Nazdars Bruder, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe und ich weiß nicht, ob ich jemals die Chance haben werde, in sein dreckiges Gesicht zu schauen. Ich kann mich kaum rühren, kann kaum atmen. Was soll ich tun? "Du kannst dich noch entscheiden, jetzt den Lauf von der Haut meiner Frau zu nehmen", erwidert Azad gepresst. Sonst passen seine Hemden wie angegossen, aber heute schimmert seine Haut zwischen den Knöpfen hervor. Er ist wütend. Er ist verdammt wütend und ausgerechnet jetzt fürchte ich mich nicht vor ihm. Es beruhigt mich ein kleines bisschen in dieser riesigen Panik. "Sonst was?" Ich keuche ängstlich, als er den Lauf fester an meine Schläfe presst. Ich winde mich vor Schmerzen, weshalb sich seine dreckige Hand an meinen Haaren links festkrallt, um mich noch fester gegen das Metall zu drücken. Meine Nägel rammen sich instinktiv in sein Handgelenk. Mein Herz rast bis zu meinen Ohren. Azads Finger krallen sich in die weiße Tischdecke. "Trau dich. Deine Schwester und deine Mutter werden die Nächsten sein." Ich will fast vor Verzweiflung lachen. Wo bin ich bitte nur gelandet?

"Letzte Chance, meine Frau nicht mehr anzufassen." Azad zieht seine Waffe hervor und meine Panik steigt wieder, weil hinter ihm auch jemand mit einer Waffe steht. "Pass auf, Azad", flüstere ich. "Leg die Waffe hin!", schreit Nazdars Bruder hinter mir. Ich werde von ihm hochgerissen und an seinen widerlichen Oberkörper gepresst. In Azads Augen brennt ein gefährlicher Sturm. Er möchte auf mich zukommen, doch ich halte ihn davon ab. Ich weiß nicht, was ich tun soll, aber ich will nicht, dass uns etwas passiert. Nur entweicht mir vor Angst fast ein Schrei, als ich weiter nach hinten gezogen werde. "Ich leihe sie mir für einige Stunden aus, Azad. Danach kriegst du sie wieder. Ob schlafend oder tot, überlege ich mir noch." "Überleg dir das zweimal mit meiner Schwägerin." Ich wimmere fast. Noch nie in meinem Leben war ich so froh, Aras zu hören. Wir werden wieder auf die Terrasse gedrückt, wo ich Azads ausgewechselten Zustand sehe. Er will ihn töten. Ich sehe ihn kaum blinzeln. Bloß, wie er den Mann hinter mir anstarrt und sich schon vorstellt, was mit ihm passieren wird.

Als ich dann noch mehr Männer aus den verschiedensten Ecken kommen sehe und realisiere, dass es alles Familienmitglieder sind, atme ich erleichtert durch. Jeder Feind wird von zwei unserer Leute umzingelt. Sie können nichts mehr tun und doch sind sie ihrem Untergang geweiht. "Aber wir können sie sehr gern gegen deine Schwester tauschen. Dein Vater hat sie ja immerhin oft genug angeboten." Ich zucke zusammen, als ich sein ersticktes Atmen hinter mir höre, renne sofort in Azads Arme, als sich seine Griffe lockern. Ich verstecke mein Gesicht unter seinem Jackett, presse mich gegen seine Brust. Sein rasendes Herz beruhigt und tröstet mich, aber vor allem sein fester Griff um mich. "Alle in die Halle. Sofort." Azads tiefer Befehl rast durch meinen Körper. Ich erschaudere, obwohl ich nicht diejenige sein werde, die leiden wird. "Wir gehen nach Hause. Ist das in Ordnung?", fragt er mich nun sanfter. Ich nicke. Ich will weg von hier, doch vor uns verlassen erst all die anderen das Restaurant. Hinter mir höre ich jemanden tief seufzen und ich weiß, dass es nur Aras sein kann. "Eigentlich wollte ich eine hübsche Halbmarokkanerin beobachten, aber meine Lieblingsschwägerin geht natürlich vor." Das Ganze ist ein Fiebertraum. Ich will weg und doch schafft Aras es, mir ein kleines Lächeln zu entlocken.

"Aber ich kriege als Belohnung doch sicherlich den Bonus eines guten Wortes bei deiner süßen Freundin für meine heldenhafte Tat oder Schwägerin?" Ich wusste, dass es folgen wird. "Aras", warnt Azad ihn. Seine raue Stimme spüre ich über die Vibrationen seiner Brust an meiner Wange. "Schon gut", seufzt er. Vor meinem geistigen Auge spielt sich Aras ab, der ergebend seine Arme hebt. "Die Betonspritze wirkt gerade bei ihm. Du siehst nicht glücklich aus." Ich weiß nicht, ob es gerade gut ist, Azad zu provozieren, aber er als Zwillingsbruder wird schon wissen, wann er an die Grenzen stößt. "Ich habe nichts gesagt", gibt Aras nun nach. Azad ist wirklich nicht gut drauf und ich bin kaputt. "Ihn packst du nicht an. Er soll im Zentrum des Geschehens mit verbundenen Augen sitzen und aus allen Richtungen das Leid hören, das ihn treffen wird. Ich bringe Avin nach Hause. Geht. Sofort." Azad soll nicht gehen. Er soll heute bei mir bleiben. Der Schock sitzt noch zu tief, als dass ich ohne ihn für einige Stunden auskomme, obwohl ich sonst gefasst bin. Vielleicht liegt es daran, dass es eine Nahtoderfahrung war. Vielleicht, weil Azad etwas hätte zustoßen können. Vielleicht aber auch, weil ich durch ihn viel vulnerabler bin und möchte, dass er sich um mich kümmert. Weil es das ist, weil ich möchte und mich doch einmal wenigstens fallen lassen will.

Um uns verstummen die Schritte. Es sind nur noch er und ich hier. Sein schnell schlagendes Herz und meins, das langsam weniger als 150 Schläge pro Minute abgibt. "Avin", setzt er angespannt an. "Ja", wispere ich zurück, ohne den Kopf aus seinem Jackett zu heben. "Bist du in der Lage, ins Auto zu steigen? Brauchst du noch Zeit?" Mir geht es gar nicht gut, wenn mich diese simple Frage schon emotional macht. "Wirst du in die Halle gehen?" "Ich will ihn foltern, bis er weint und die Besinnung verliert, aber wenn du mich bei dir haben willst, werde ich das tun." Ich nicke dringlich, umschlinge seinen Nacken. "Möchtest du getragen werden?" "Nein", murmele ich, bevor ich mich löse. Es ist mir unangenehm, gesehen zu werden, nachdem, was gerade passiert ist. Ich möchte nur noch ins Bett. Azads Augen sind gereizt. Ich weiß nicht, ob sich die Äderchen auch vor Wut weiten, aber gerade wirkt er verdammt gestresst und geladen. "Komm." Der Kuss auf meine Stirn versichert mir, dass mich nichts seines Zornes treffen wird. Über den gesamten Heimweg hält er meine Hand und fragt mich immer wieder, ob es mir gut geht und ob ich etwas brauche. Dabei ist meine Antwort immer, dass ich ins Bett will und da liegen wir auch. Eng umschlungen und verstummt.

"Was hast du dabei empfunden?" Ich weiß es nicht mehr. Das ist eine Eigenschaft, von der ich nicht weiß, ob ich sie verfluchen soll, weil ich deshalb oft Erzählungen nicht korrekt wiedergeben kann. "Ich weiß nur noch, dass ich Angst hatte, dass dir etwas zustößt. Ich habe mich vor seinem Körper an meinem geekelt. Ich wollte nur noch weg." Meine Schläfe reibe ich gegen seine Brust. "Nur werde ich das Gefühl der Waffe an meiner Schläfe nicht los." Azad drückt mich an meiner Schläfe fester an seine Brust, die sich tief durch meine Aussage mit Luft füllt. "Mach mich nicht noch verrückter, Avin. Ich verurteile mich schon die ganze Zeit, dass ich dich nicht besser schützen konnte." "Was blieb dir für eine andere Wahl? Mach dich deshalb nicht verrückt." "Er hätte dich verletzen können. Ich fühle mich nutzlos." Bitte nicht. "Es ist alles gut ausgegangen." Seine Aussagen überfordern mich. Ich habe keine Ahnung, wie ich darauf antworten soll. "Es hätte anders ausgehen können, Avin. Ich weiß nicht, wie ich dich ruhigen Gewissens zur Uni lassen soll." Seine besorgte Aussage lässt meinen Rücken unwohl prickeln. Ich will das Studium nicht abbrechen müssen. Ich wollte doch schon immer studieren und das Leben als Studierende romantisieren, egal wie anstrengend es auch ist.

"Nimm mir bitte nicht meinen größten Traum", flüstere ich. Bitte. Ich habe ihn doch gerade erst in die Hand nehmen können. "Ich möchte es dir nicht wegnehmen, aber dein Wohlergehen steht an erster Stelle. Vielleicht kannst du ein Auslandssemester in der Schweiz machen. Wir haben dort sehr viele Verbindungen. Nur solange, bis es hier geklärt ist. Alles läuft auf Hochtouren." Aber ich habe doch gerade erst angefangen. Ich ... keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich tun soll. "Ich schicke mehr Männer an deine Uni. Ich will dir nichts wegnehmen, wofür du zu lange gearbeitet hast, aber ich muss dich beschützen." Ihm entweicht ein tiefes Seufzen. "Die nächsten Tage werden stressig. Es wird viel zu tun sein und bitte denk nicht, dass ich mich von dir distanziere." Heißt das, dass er wieder abwesend sein wird? Der alleinige Gedanke daran lässt mich betrübt seufzen. Ich habe das Gefühl, dass unsere Beziehung auf eine harte Probe gestellt wird und obwohl ich sonst distanziert bin und gut mit Trennungen klarkam, weiß ich nicht, wie ich hier fühlen werde. Um ehrlich zu sein, fürchte ich mich vor den Gefühlen, die ich empfinden könnte.

Ich fürchte mich davor, mich durch den Weg meines eigenen Herzes zu verirren.

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