Kapitel 55
Drei Monate Später
Der Tag ist gekommen. Heute steht wirklich mein allererster Tag als Medizinstudentin an. Ich kann es weder fassen noch kann ich in Ruhe schlafen deshalb. Ich musste mein altes Opipram einnehmen, um überhaupt zur Ruhe zu kommen, aber als ich dann für das Morgengebet erwachen musste, war es auch wieder vorbei. Heute darf ich die Einführungswoche erleben, wie so viele andere schon frisch nach ihrem Abitur. Das, wonach ich mich immer gesehnt habe, passiert heute in wenigen Stunden. Mir steigen bei dem Fakt schon wieder die Tränen auf. "Schlaf doch noch ein bisschen, Schneeflocke." Azad ist wieder kurz davor, innerhalb weniger Minuten oder Sekunden einzuschlafen. Ich hingegen stehe unter Strom. Ich kann es nicht. "Bin nicht müde", erwidere ich leise und räuspere mich, als ich mir verstohlen die Tränen wegwische. Hinter mir raschelt die Bettdecke und daraufhin spüre ich seine Hände, die meinen Nacken massieren. "Du bist aufgeregt." Und wie. Scheiße, ich beginne gleich wieder zu weinen. "Ich darf endlich meinem Traum nachgehen", entgegne ich schlicht. Endlich. Nach fünf Jahren. "Ich habe dir eine Schultüte gebastelt." Ich schmunzele. "Ich bin doch keine Grundschülerin mehr." "Das nicht, aber wenn ich manchmal in deine Augen sehe, habe ich das Gefühl, dass du nach dem genannten Alter nicht mehr richtig gelebt hat." Das kleine Lächeln fällt.
"Und im Gegensatz zu mir, alten Mörder, bist du doch noch eine junge Blüte." Seine Fingerknöchel streichen sachte über meine Wange. Mich trifft sein Satz, ohne mich zu verletzen. Es entspricht der Wahrheit. "Heute ist dein großer Tag, Schneeflocke." Daraufhin haucht er mir einen sanften Kuss auf meine Schulter. "Die Einführungswoche ist sehr entspannt. Mit deinem Vorwissen wirst du dich zurücklehnen können und den Status der klügsten und hübschesten Medizinstudentin tragen." Azads raue Stimme besteht nicht mehr aus dem Grund der Müdigkeit, sondern Lust. Wir haben uns innerhalb der letzten Monate mehrfach versucht, zu vereinigen, ohne jeglichen Erfolg. Wir wissen nicht, ob unsere Vorspiele nicht lang genug sind, aber wenn selbst Vibratoren nichts bringen, bringt gar nichts. Das frustrierte vor allem mich. Ich will endlich Sex haben, aber es klappt nicht, weil ich jedes Mal Schmerzen habe, sobald Azad auch nur ein Stück weit in mir ist. Er bemüht sich inbrünstig, mich zu verwöhnen, aber er tut mir verdammt noch mal leid deshalb. Das ist auch der Grund, wieso ich ihn angelogen habe, als ich bei der Gynäkologin meinen Pap-Test gemacht habe. Ihm habe ich erzählt, dass es unangenehm und schmerzhaft war, als mir das Spekulum eingeführt und mich geweitet hat, obwohl ich es nicht einmal wirklich bemerkt habe.
Ich lasse seine Hand wandern und seine Lippen meinen Hals verwöhnen. Mein Kopf fällt entspannt zur Seite und meine Hüften recken sich voller Vorfreude seinen langen Fingern empor, die sich langsam und kreisend den Weg zu meinem Bund machen. Meine Beine spreizen sich, werden jedoch von den Innenseiten seiner Schenkel aufgehalten, als er sich von hinten an mich schmiegt. "Du erschauderst gar nicht mehr, Schneeflocke", murmelt er gegen meinen Hals und als hätte er die Kontrolle über meinen Körper, erschaudere ich jetzt. "Nur noch vor Lust", raunt er gegen mein Ohr, veranlasst meine Haut zu einem erneuten Erschaudern und piksender Gänsehaut. Ich leite seine Hände zu meinen Oberschenkeln, nah an meine Scham, um seine Finger in meine Haut zu drücken. Ich will mehr. Ich will wieder so viel mehr. Meine Nägel hinterlassen rote Spuren auf seinen Oberschenkeln, die ihn scharf die Luft einziehen lassen, ganz zu meiner Erregung. Ich stütze mich an seinen breiten Beinen ab, um mich umzudrehen und auf seinem Schoß niederzulassen. Der Fakt, dass dieser bildschöne Mann einzig und allein mir gehört, befriedigt mich. Es verleiht mir eine gewisse Form der Macht. "Wie möchtest du eigentlich verwöhnt werden?", raune ich. Meine Daumen streicheln seinen rauen Bart an seinen Wangen bei meiner Frage.
"Mir reicht es schon, wenn du keine Schmerzen mehr beim Eindringen hast." Na toll. Die Stimmung ist hinüber. Ich lege meinen Kopf stöhnend in seine Halsbeuge. "Musste das sein?", murre ich. Azad seufzt nur. "Ich sehe es nicht ein, meine Fantasien auszusprechen, wenn du nicht bereit für Sex bist." "Ich bin bereit." "Fühlt sich eindeutig nicht so an", erwidert er mit verhehltem Spott. "Das dauert." "Ich bin zwar kein Gynäkologe, aber wenn du nach zwei Orgasmen entspannt genug für zwei Finger bist, dich aber sofort verengst, sobald ich deinen Eingang nur aus Versehen mit meinem Penis streife, dann denke ich nicht, dass es an einem zu kurz gekommenen Vorspielt liegt." Und nun seufzte ich. Er hat ja recht. "Vielleicht beim nächsten Mal drei Orgasmen?", witzele ich. Azad zieht mich zurück von seinem Hals. "Avin", setzt er an. Es wird wieder ernst. "Gehst du immer so mit deinen Problemen um?" Schon. Meine Lippen spitzen sich ertappt. "Wieso sprichst du denn nicht viel lieber mit mir darüber?" Azad blickt mich mit seinen blauen Augen flehend an, während er mir durch mein geglättetes Haar fährt. "Da gibt es doch nichts zu besprechen." Ihm Antworten zu geben, fällt mir beim Anschneiden des Themas viel schwerer. "Es gibt mehr zu besprechen, als du schon an Tatsachen realisiert hast." Die Antwort gefällt mir nicht, weil sie der Wahrheit entspricht.
Azad wartet einen Moment, in der Hoffnung, dass ich etwas von mir gebe, doch dazu wird es nicht kommen. Was soll ich schon sagen? Ich weiß es ja selbst nicht. "Das löst sich schon. Mach dir nicht allzu große Sorgen." Eine Antwort, die ihm überhaupt nicht passt, er aber trotzdem nachgibt und uns wieder hinlegt. "Willst du nicht wieder schlafen?" "Bin nicht mehr müde. Abgesehen davon bin ich tatsächlich ein wenig aufgeregt. Heute ist dein erster Tag." Ich lächele. Mein erster Tag. "Ich habe uns einen Tisch im Restaurant reserviert. Zu der Jahreszeit werden die Heizstrahler in Anspruch genommen, also wirst du auch nicht frieren." "Und was ist, wenn ich heute schon von einem Kommilitonen eingeladen werde?", grinse ich ganz zu seiner Verärgerung. "Amokläufe sind gar nicht so unbeliebt, Schneeflocke." Und schon verdrehen sich meine Augen. "Such mir ein schönes Outfit raus." "Was immer du dir wünschst, Schneeflocke. Solange du mein Herz nicht überstrapazierst, werde ich genug Energie haben, um dir all deine Wünsche zu erfüllen." Es ist unmöglich für mich, nicht zu grinsen, wenn Azad den Dramatiker spielt. "Wie laufen die Sicherheitsvorkehrungen ab?" "Jamal wird immer in deiner Nähe bleiben. Um die Restlichen musst du dir keinen Kopf machen." "Wie viele restliche Sicherheitsmänner?" "14." Ach, ist ja nett. "Dann bin ich ja nie allein", schmunzele ich. "Aber es wundert mich, dass du Jamal bei mir lässt. Er ist immerhin mein Lieblingswächter." Und schon seufzt das Riesenbaby dramatisch.
Es ist 09:30 Uhr, als ich die ganzen Fakultäten erblicke. Hier beginnt meine Karriere. Hier beginnt der Ansatz meines Wunsches. Es beginnt das Ende vieler vergossener Tränen bei Tag und Nacht und auch all die Selbstzweifel, dass ich es niemals schaffen werde und mir lieber etwas anderes suchen sollte, verpuffen allesamt beim Lesen der Legende. Wenn ich weiterlaufe, muss ich nach rechts und dann erreiche ich die medizinische Fakultät. Noch habe ich Zeit. Wir sind früher losgefahren, weil ich so ungeduldig war. Das Gefühl hatte und hat immer noch eine gewisse Nostalgie. So unruhig und hibbelig war ich auch, nachdem ich Azad zum ersten Mal kennengelernt habe. Ich wollte ihn sehen, sowie ich meine Universität sehen wollte. "Du schaust so sehnsüchtig." Ich nicke, kann immer noch nicht den Blick vom Altbaugebäude abwenden. Während meiner Oberstufenzeit habe ich ein Frühstudium hier gemacht und jetzt darf ich mich eine wirkliche Medizinstudentin nennen. "Lass mich noch mehr Fotos von dir machen, Schneeflocke." Mein Lächeln nimmt zu. Vor dem Haus und Auto habe ich mich tatsächlich wie eine Grundschülerin gefühlt, mit der Schultüte, die er für mich gebastelt hat.
Azad lächelt mich zufrieden an. Mein Herz flattert bei seinem stolzen Anblick. "Stell dich vor die Legende. Die Fakultät sieht man perfekt. Da hatte ich auch einige Vorlesungen durchmachen müssen." "War sicherlich vor einem Jahrhundert. Seitdem hat sich alles sicherlich geändert", grinse ich und Azad erwidert es weiterhin lächelnd. Seine rechte Hand gleitet aus seiner Hosentasche, um meine Wangen zusammenzudrücken und mich an ihnen an seine Lippen für einen raschen Kuss zu ziehen. Mein Bauch kribbelt deshalb aufgeregt. In meinem Brustkorb spüre ich die schöne Aufregung durch das Handeln. "Dir steht Freude, Schneeflocke. Deine Augen glänzen so schön." Mein Lächeln wird durch seine sanfte Stimme nur stärker, wenn auch verlegener. Ich lasse meine Finger hibbelig über sein weißes Hemd kreisen. Mein Bauch kribbelt wieder, als er mich an meinen Wangen erneut an sein Gesicht zieht, doch dieses Mal streift nur seine Nasenspitze sanft über meine. "Stell dich vor die Legende. Ich brauche mehr Bilder von dir." Also gut. Ich bin überhaupt nicht fotogen, scheine mich jedoch gut zu schlagen, so versteift ich auch in die Kamera schaue. Den Kopf neige ich mal mehr nach links und mal mehr nach rechts. Azad bittet mich sogar, auf die Fakultät zu zeigen, als wäre er meine Mutter und hinter mir eine Sehenswürdigkeit, aber wenn es das ist, was ihn zufriedenstellt, soll es nicht an mir scheitern. "Perfekt, Schneeflocke."
"Avin!" Das ist Dijan! Ich drehe mich zur Stimme um. Sie läuft gerade vom Parkplatz auf mich zu und begrüßt Azad, bevor sie meine Hüfte tätschelt. "Siehst gut aus, Schwester. Heute ist dein erster Tag. Hoffentlich sind da ein paar sexy Medizinstudenten." Azad räuspert sich und Dijan erinnert sich wieder daran, dass ich verheiratet bin. "Sorry, ich meinte für mich." Die Antwort gefällt mir. Sie lässt mich selbstgefällig grinsen, weil Aras deshalb in der Badewanne oder sonst wo weinen würde. "Schon okay", erwidert Azad schmunzelnd. Er denkt wahrscheinlich an das Gleiche wie ich. "Die Einführungswoche ist entspannt. Es kann nur sein, dass die Kennenlernspiele alle mit Alkohol zusammenhängen." Kennenlernspiele? Alkohol? Ich weiß, dass die Alkoholkultur an Universitäten stets präsent ist, aber Kennenlernspiele? Ich will nicht. Mein Gesicht verzieht sich dementsprechend entgeistert. Mal schauen, ob ich mich überhaupt mit jemanden dort anfreunden kann. "Komm, ich begleite dich zur Fakultät. Die ist gleich hier." Damit drehe ich mich zu Azad. "Musst du nicht zur Arbeit?" Auch wenn ich ihn gern in seinem schicken, schwarzen Mantel bei mir habe, will ich ihn nicht aufhalten. "Ich begleite dich noch." Wo ist Jamal eigentlich?
In der Fakultät sehe ich eine Menge blonder Köpfe unter 20. Ich konnte die Fjällräven-Rucksäcke und Thermoskannen schon riechen, bevor ich einen Fuß in das Gebäude gesetzt habe. Bin ich eine der Ältesten im Semester? Gibt es hier überhaupt noch jemanden aus dem Mittleren Osten? Ich habe mich schon in der Ausbildung deshalb allein gefühlt. Die ganzen Abiturabsolventen haben sich anscheinend schon in ihren Gruppen zusammengefunden und unterhalten sich aufgeregt über das kommende Studium. Wie viele von ihnen abbrechen werden, weil sie doch realisieren, dass es ihnen keinen Spaß macht und doch nicht das Richtige für sie ist? Wie viele von ihnen haben ihre Social-Media-Biografien schon mit dem Hinzufügen ihres Studienganges geändert? Und die entscheidende Frage: Wie viele von ihnen werden mich nerven? "Du siehst nicht sonderlich begeistert aus", stellt Azad schmunzelnd fest. Als Antwort verzieht sich mein Mund wenig begeistert. "Mal schauen." Bis jetzt sieht es nicht sonderlich wahrscheinlich aus, Kontakte zu knüpfen, wenn sich die Meisten sicherlich noch aus der Schule kennen oder als halbe Kopien mit ihren überdimensionalen, überteuerten Rolltop- und Fjällräven-Rucksäcken durchgehen. Der Geruch des billigen Kaffees aus dem Automaten rechts von mir macht es nicht besser.
Dann fällt mein Blick auf die erste Person mit offensichtlichem Hintergrund. Fast hatte ich Hoffnung, doch es ist nur Jamal, der heute in legerer Kleidung einen Kaffee trinkt. Ich pruste los. "Was ist los?" Ich kann Dijan nicht erzählen, dass mein Bodyguard mein Kommilitone ist, auch wenn ich ihr noch erzählen muss, wobei es sich bei den gestörten Zwillingsbrüdern handelt. "Nichts. Die Leute sehen lustig aus." Ein kurzer Blick zu Azad reicht, um mir bestätigen zu lassen, dass er es verstanden hat. "Schwester, ich muss zu meinem Seminar. Schreib mir, wenn du Pause hast." Sie umarmt mich, nickt Azad überfordert zu und geht dann. Jetzt sind es nur noch wir zwei - oder drei. "Wenn du gehen musst, dann geh. Immerhin bin ich ja nicht allein." "Ich fühle mich gerade aber wie ein Vater, der sein Kind das erste Mal in den Kindergarten bringt. Gönn mir doch diesen schönen Moment." Süß. Ich lächele. "Muss ich irgendetwas beachten?" "Im Sinne von?" "Sicherheit, Studentenleben, Professoren." "Versuch immer in Jamals Nähe zu bleiben und schreib ihm vorsichtshalber, wo du dich befindest, wenn du ihn nicht mehr siehst. Vertrau nicht blind jedem Kommilitonen, aber so misstrauisch, wie du bist, muss ich dir das nicht sagen. Es kann ein Konkurrenzkampf herrschen und Leute werden dir deinen Erfolg nicht gönnen, daher ist es auch nicht selbstverständlich, wenn dir Mitstudierende deine Frage zu einer Vorlesung beantworten." Dreckig. Meine Antipathie gegen die anderen Erstsemester steigt.
Irgendwann werden wir von drei älteren Studenten gebeten, in den Vorlesungssaal zu treten. "Ich bin versucht, mit in den Vorlesungssaal zu kommen", gesteht Azad. Ich verdrehe meine Augen. "Geh arbeiten, alter Mann." Ich schließe ihn in eine Umarmung und lasse mich von ihm auf die Schläfe küssen. "Viel Spaß und pass auf dich auf. Lass die Kinder am Leben", schmunzelt er am Ende. Ich setze mich mit Jamal gemeinsam in eine der obersten Reihen direkt am Eingang. Wo die anderen Sicherheitsmänner sind, weiß nur Gott. "Freust du dich auch auf das Medizinstudium?", schmunzele ich. Jamal nickt überaus stolz. "Meine Mutter wäre stolz auf mich, wenn sie wüsste, dass ich mich doch für eine vernünftige Zukunft entschieden habe." Ich schmunzele. "Weißt du schon, für welche Richtung du dich entscheidest?" "Vielleicht wäre die plastische Chirurgie passend bei meinem riskanten Minijob", erwidert er nachdenklich. Ich pruste los. Am liebsten will ich noch weiter quatschen, aber ich will ihn nicht bei seiner Arbeit stören, also schaue ich auf die drei Studenten, die sich vorstellen und uns über die Ersti-Woche aufklären. Es wirkt für mich als Introvertierte weder aufregend noch begeisternd. Auch kann ich bei den Witzen nicht mitlachen, die alle anderen um mich herum zum Grölen bringen. Wenigstens verzieht auch Jamal keine Miene.
Jamal und ich halten uns bei den Kennenlernspielen zurück. Während die ganze Meute in Gruppen auf der Wiese hin- und herrennt und dabei - warum auch immer - die jeweilige Person aus dem Team immer so viele Shots wie möglich austrinken muss. Da fand ich das Ballon-Bumsen doch viel angenehmer, vor allem, weil Jamal davon nicht bewahrt wurde. Wäre mir währenddessen etwas passiert, müsste er seinem Vorgesetzten erklären, dass er von einem Kommilitonen von hinten genommen werden musste, bis der Ballon auf seinem Po geplatzt ist. Schön und gut, wenn alle anderen ihren Spaß haben, aber muss fast alles auf Alkohol basieren? Es ist ja nicht so, als würde ohnehin schon keiner wirklich mit uns kommunizieren wollen, weil wir nicht trinken, dass uns das Integrieren schon so schwerer fällt. Ich möchte nur Kontakte, damit ich bei eventuellen Fragen nicht im Dunkeln tappe. "Ich will weg", murmele ich Jamal zu. "Ich auch. Noch nie wurde ich so gedemütigt." Okay, ich habe ich wieder gute Laune. Das muss ich Azad erzählen. "Lass das bloß nicht den Chef erfahren", lache ich. Armer Jamal. Wahrscheinlich würde er sich lieber ins Bein stechen lassen, als von einem 18-Jährigen gebumst zu werden.
Mein Blick fällt auf ein schwarzes Mädchen, das mir sofort ins Auge sticht, mit ihrem puderrosa Hijab. Eine Gleichgesinnte! Endlich! Ich starre sie eindringlich an, in der Hoffnung, dass sie von dem Typen neben ihr zu mir schaut und das tut sie auch! Und sie versteht meinen nonverbalen Hilferuf, kommt dann mit dem Jungen zu uns. "Endlich", stoße ich seufzend hervor, bevor sie uns erreichen. "Ihr habt auch keine Lust auf diese Kacke, oder?" Sowohl Jamal - sehr eindringlich - als auch ich bestätigen es ihr. "Sollen wir etwas essen gehen? Hier gibt es einen guten Döner." Eigentlich bin ich noch vom Frühstück gesättigt, aber für einen Döner oder Pommdöner ist sicherlich noch Platz. "Wollen wir?", frage ich Jamal, der den Typen mustert, aber dann zustimmt und dann zwischen mir und dem noch Unbekannten läuft. "Meine Schwester hat mir erzählt, dass die Ersti-Woche so wird, aber ich hatte Hoffnungen, dass es doch ein wenig anders wird", erzählt sie. Dazu kann ich nichts sagen, weil ich die Erste aus meiner Familie bin, die studiert. Im Verlauf finde ich heraus, dass sie Idil heißt und ihre Eltern aus Somalien kommen. Harun stellt sich als halb Türke und halb Palästinenser raus. Beide sind gesprächiger als Jamal und ich. Beim Essen habe ich sogar zwei weitere Sicherheitsmänner entdeckt, die entspannt ihren Schwarztee getrunken haben, während sie mich beobachten.
Der erste Tag ist zu Ende. Ich weiß, wo die Bibliothek und alle, für das Semester, relevanten Räume sind und konnte mich mit einigen Studenten aus den höheren Semestern unterhalten. Dijan habe ich nicht gesehen und erst dann ist mir der Lipgloss wieder eingefallen! Egal. Morgen ist auch noch ein Tag. Jetzt habe ich aber Schluss und laufe sehnsüchtig auf den schwarzen Maserati zu, an dem mein blauäugiger Mörder angelehnt ist. Mein Herz flattert bei seinem Aussehen. Es steht ihm, seine Arme in diesem Mantel vor seiner Brust zu verschränken. "Und Jamal? Hat sie sich gut geschlagen?" Ich muss jetzt schon wieder loslachen. Armer Jamal. "Was ist passiert?", schmunzelt Azad, als er seinen Arm um mich legt. "Jamal und ich hatten eine gute Zeit. Ich glaube, wir werden das Studium wunderbar meistern", grinse ich und drehe mich zu meinem armen Leibwächter um, der sich betreten über sein kurz geschorenes Haar fährt. "Abiturienten sind ein Albtraum." "Lass den Armen Feierabend machen. Das hat er nötig." "Gib mir morgen ein Update, Jamal. Geh dich hinlegen. Du siehst müde aus." "Bin ich auch", murmelt er. Armer Jamal. Azad nimmt mir meine Tasche ab und hält mir die Beifahrertür auf.
"Wie war der erste Tag?", fragt er mich, als er aus der Parklücke fährt. "Nicht so meins. Es waren mir zu viele Trinkspiele, aber ich habe zwei kennengelernt. Idil und-," "Harun, ich weiß." Er weiß es? Ich drehe mich streng zu ihm. Wie, er weiß es? So schnell? Klar, ich war umringt von Sicherheitsmännern, aber ... das ist trotzdem skurill. "Weißt du eventuell mehr über sie, als ich heute erfahren durfte?" "Natürlich. Wir können auf einen spontanen Besuch bei deiner neuen Freundin vorbei." Ich verdrehe meine Augen. "Wirst du das immer machen?" "Ich habe es schon getan. Ich habe sogar die Zugangsdaten deiner Dozenten und Professoren. Wenn du etwas brauchst, kannst du dich sehr gern bei mir melden. Kostenlos ist es aber nicht", schmunzelt Azad am Ende, weshalb ich meine Augen verdrehe. "Fahr mich lieber ins Restaurant." "Was immer du dir wünschst, Schneeflocke." Gerade will er die Spur wechseln, als ein Anruf im Auto angekündigt wird. Es ist Jaffar. "Ja?", fragt Azad strenger, als er den Anruf annimmt. "Es wurden zwei Männer in der Nähe des Restaurants gefunden, die zu Sherzads Clan gehören." Die Stimmung kippt augenblicklich. Azads Hände umklammern das Lenkrad fester. Sein Blick verdunkelt sich bei der Nachricht. "Haltet sie im Auge und tötet sie", erwidert er stumpf. Weder möchte er sich noch an die Geschwindigkeitsbegrenzung halten, noch ein Wort nach dem Beenden des Gesprächs von sich geben. Er ist wütend. Er ist verdammt wütend und mich schüchtert es ein.
"Wir müssen es verschieben", wendet er sich nun gedämpft an mich. "Passt schon", murmele ich zurück. Wir haben ja immerhin genug Essen daheim. Nur beunruhigt mich Azads Anspannung neben mir. Er ist rasend. Ich sehe es in seinen Augen. Die Mordlust, die Aggressionen, die Planung für Rache. "Ich werde die nächsten Tage nicht zur Arbeit gehen, sondern dich begleiten." Ich weiß nicht, wie ich mir das vorzustellen habe. "Aber die Arbeit." "Ich scheiß auf diese Arbeit. Ich ..." Azad atmet tief durch, nimmt fast den Bordstein mit, als er auf unseren Hof fährt. Ich weiß nicht, wer von uns beiden eher aussteigt, doch das scheint Azad nur noch weiter zu reizen. Seine erbosten Augen peitschen mich mit ihrem Blick. Das wird mir zu viel. Ich habe doch gar nichts getan? "Steig bitte nicht aus dem Wagen, bevor ich es dir sage." Okay. Ich hinterfrage es einfach nicht. Azad stellt sich schützend hinter mich, seine Hände halten mich den gesamten Weg ins Haus gesichert. Nicht einmal meine Schuhe darf ich mir selbst ausziehen. Azad zieht mich aufs Sofa, knallt seine Waffe auf den Tisch vor mir, bevor er sich seufzend über sein Gesicht fährt. Er ist sichtlich gestresst. Ich weiß nur nicht, wieso er ausgerechnet dieses Mal so wütend ist, wenn davor schon solche Vorfälle existierten.
"Er provoziert", setzt er gestresst an. "Dieser Hurensohn hat tatsächlich auf den Moment gewartet, indem er mich mit dem Wichtigsten bedrohen kann." Azad unterbricht sich selbst, um tief einzuatmen. Seine Hand entfernt sich von seiner Stirn, um zu mir zu kommen und mich wieder an meinen Schultern festzuhalten. "Wieso kannst du ihn nicht einfach erschießen?" "Das ist nicht so leicht. Ich bin nicht der Anführer dieser Sachen und ich bin gerade nicht klar genug im Kopf, um zu wissen, wohin die Konsequenzen führen werden." Er bedenkt mich mit einem sanfteren Blick. Meine angespannten Schultern sinken durch seinen Daumen, der über meine Wange fährt. "Ich muss an deine Sicherheit denken und kann mir keine Hitzköpfigkeit erlauben, Schneeflocke. Ich weiß nicht einmal, ob die Männer gewusst haben, dass wir heute dahinfahren." Ihm entweicht ein weiteres Seufzen. "Ich muss runterfahren. Am Abend findet hier wieder ein Gespräch statt. Ich habe keine Kraft, zu meinem Vater zu fahren. Es muss endlich etwas passieren." "Deine Handlungen entstehen also nur einvernehmlich?", hake ich nach. Ich dachte, er schießt nach Lust und Laune. "So muss es sein. Wir arbeiten systematisch. Ich weiß, dass eines Tages der Moment kommen wird, an dem ich ausbreche, aber bis jetzt möchte ich nicht noch mehr Stress schaffen. Das wäre unüberlegt." Da hat er recht.
"Sollen wir baden?" Ich weiß nicht, wie ich die Situation sonst irgendwie schlichten könnte. "Hast du keinen Hunger?", stellt er mir die Gegenfrage. "Ich kann noch ein wenig warten, du?" "Ich auch." Daraufhin hält er mir die Hand hin, damit wir in unser Bad treten. Er wirkt weiterhin nicht bei der Sache. Ihn beschäftigt die Zukunft und potenzielle Gefahren und das sieht man sofort in seinen hellen Augen. Ich übernehme das Aufknöpfen seines Hemdes für ihn, auf das er nicht ein einziges Mal geschaut hat, während er an den Knöpfen zupfte. "Der Schießunterricht wird verschärft. Solange diese Bastarde nicht endlich Ruhe geben, werde ich keine finden." Ich helfe ihm aus dem Hemd, entledige mich dann meiner Kleidung und fülle schon einmal die Wanne auf. In der Zwischenzeit steht Azad immer noch in Anzughose, mit dem Rücken zu mir gedreht. "Willst du nicht?" Ich greife nach seiner Hand. Azad ist nicht bei sich. Ihn beschäftigen immer mehr und mehr Gedanken. Selbst, als er dann in der Wanne mit mir liegt, ist er nicht anwesend. Sein Blick gilt einem losen Punkt der Wasseroberfläche. Ich seufze. So habe ich mir meinen ersten Tag an der Universität nicht vorgestellt.
"Es ist gerade riskant, dass du zur Uni gehst", setzt er an. Ich weiß, was mich erwartet, da besänftigt mich auch das Kreisen seiner Finger auf meiner nackten Schulter nicht. "Ich werde das Studium nicht schmeißen." Dafür habe ich zu lange gebettelt. "Ich weiß", setzt er an. Daraufhin legt sich seine Hand um meine Schulter und noch immer schaut er mir nicht in die Augen. "Der Herbst und der Winter sind immer dreckig, Schneeflocke. Je mehr Natur zu Boden fällt, desto schmutziger wird es." Ich weiß nicht, was ich zu dieser Aussage beitragen soll. Meine Interpretation ist eine Brutale: Tote am blutigen Boden. "Was immer geschehen wird, wird zu deinen Gunsten sein. Und wenn ich noch mehr Narben davontragen muss." Erst jetzt darf ich Azads Augen auf mir spüren ... und doch gefällt mir der Blick nicht. "Und wenn ich noch mehr Blut verliere." Azad zieht mich näher an sich. Seine Finger krallen sich langsam in meine Haut. "Und wenn ich mich verlieren muss, Avin. Ich lasse nicht zu, dass man dich wieder gefährdet." Aber ... aber ich will ihn nicht verlieren. Langsam werde auch ich mit dieser Nachdenklichkeit angesteckt. War es leichtsinnig, meine Kommilitonin anzuschauen und Kontakt zu ihr aufzunehmen? Würde sich jemand im Studiengang als Kommilitone ausgeben, um mich zu gefährden? Zum ersten Mal bahnt sich eine kleine Angst auf, jemanden zu verlieren.
"Und wenn ich jeden Menschen opfern müsste, um deine Unbeschwertheit zu bewahren. Ich würde es tun."
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Wer, denkt ihr, wird als erstes sterben?
- Helo
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