Kapitel 47
Wenn mir Dijan erzählen würde, dass ihr Ehemann sie nur noch stärker liebt, seitdem sie ihm versehentlich ein Messer in die Leiste gerammt hat, hätte ich beide für gestört erklärt. Widersprüchlicher Weise tue ich es bei mir selbst nicht ... nur zu einem gewissen Teil. Ein kleiner Teil meines Verstands. Ein großer Teil rät mir, es ihr nicht zu erzählen, aber ich will es trotzdem. Trotzdem, weil ich es als etwas Schönes abgespeichert habe. Als etwas Spektakuläres. Etwas, worauf ich stolz bin, weil es, im Gegensatz zu meinem trostlosen Leben, eine Erfüllung meiner Bedürfnisse darstellt. Nicht, meinem Mann ein Messer in seinen Körper zu rammen, sondern die Hingabe, die er mir trotz und vor allem deshalb schenkt. Vielleicht überwinde ich mich heute noch, es ihr zu erzählen. Aber erst höre ich ihr dabei zu, wie sie sich frustriert die Seele über das Familiendrama ausschüttet. Natürlich musste sich ihre schäbige Tante wieder einmischen und Lügen erzählen. "Wir haben die letzten Tage alles gemacht! Geputzt, gekocht. Extra in andere Städte gefahren. Wir haben alles gemacht für die Verlobung ihrer Tochter und nur weil wir danach nicht angerufen haben, um zu fragen, wie es ihnen geht, wurde sie sauer." Dijan seufzt frustriert. Ihre Brust ist gefüllt mit dem Stress und der Verständnislosigkeit, aber vor allem mit Bedrückung und Naivität. Manchmal will ich sie anschreien, weil sie sich im Gegensatz zu ihren anderen Schwestern nicht zur Wehr setzt, aber wenn schon mehrfaches Erklären nichts bringt, bringt kein Schreien etwas bei einer Person, die zu sehr an ihrer toxischen Familie hängt.
"Deine Tante muss einmal an die falsche Person gelangen, damit diese sie am besten verprügelt." Ich hasse sie. Und wie ich dieses erbärmliche Stück Scheiße hasse, das Dijans Leben so beeinflusst. Ich hoffe und bete, dass sie aus dem Nichts nach Marokko abgeschoben werden muss. Dijan seufzt nur. "Warum sind Menschen so?" Weil man sie davonkommen lässt. Ich habe diesem Mädchen hunderte Mal gesagt, dass sie sich von diesem Abschaum fernhalten soll. Sie soll sich von ihrer komischen Familie distanzieren, aber sie kann es einfach nicht. Was soll ich dann noch machen? Ich bin froh, emotional distanzierter zu sein. Jedes Mal, wenn ich an meine Mutter oder an Dijan denke, bin ich froh, das komplette Gegenteil zu sein. "Weil sie wissen, dass du nachgibst." Und schon wieder seufzt sie. Ein resigniertes Seufzen, weil sie es selbst weiß. Solange sie in dieser Abhängigkeit lebt, wird sie das verfolgen und ihr Leben zerstören. "Keine Ahnung, was ich machen soll", murmelt sie dann. "Doch", setze ich trocken an. Wie oft hatten wir dieses Gespräch schon? Es läuft immer und immer wieder auf dasselbe hinaus: Sie erzählt von den schäbigen Aktionen ihrer charakterlosen Familie, ich rege mich darüber auf, beleidige sie im Kopf von A bis Z, während Dijan zu gutmütig ist, erkläre ihr, dass sie in einem toxischen Strudel gefangen ist und lernen muss, dass Familie nicht alles ist und sie sich von den falschen Mitgliedern der Familie manipulieren lassen hat. Familie lässt sich per definitionem für mich in emotional und biologisch einteilen. Und bei ihr trifft eher zweiteres zu, auch wenn sie nur das erste vor Augen hat.
"Ach, scheiß drauf." Dijan beißt in die selbstgemachte Bruschetta rein. "Dein Garten ist richtig heftig, Schwester. Du musst jeden Morgen hier frühstücken." Das tun wir tatsächlich. Solange das Wetter es uns erlaubt, verbringen wir unsere Morgen am See. Aber erst, nachdem Azads Leiste abgeheilt ist. Davor habe ich ihm immer Frühstück ans Bett bringen müssen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich oft absichtlich kränklicher dargestellt hat, um meine Aufmerksamkeit zu erregen. Sein Glück, dass es mir erst im Nachhinein aufgefallen ist. Beim nächsten Mal lasse ich ihn nicht davonkommen. "Heirate schnell, wenn du endlich einen gescheiten Mann findest und distanziere dich von deiner schäbigen Tante und ihrer Dreckstochter." Nicht zu fassen, dass diese zwei Vollidioten am meisten für Ärger sorgen. "Ach, Schwester", seufzt sie. "Nicht jeder hat das Glück wie du." Glück. Wenn sie nur wüsste, wie lange ich auf mein Glück warten musste. "Bald muss ich wieder bei meinem Onkel aushelfen. Ich habe keine Lust mehr." Dijan hat einen guten Schritt in die richtige Richtung gewagt. Nach zwei Jahren hat sie ihrem Onkel gesagt, dass sie nicht arbeiten möchte, wenn sie zur Uni muss. Jetzt muss sie es nur noch hinkriegen, sich nicht ausbeuten zu lassen, wenn sie in den Semesterferien von morgens bis abends im Restaurant aushelfen muss. Es hätte noch gefehlt, dass ihr Onkel sie nicht bezahlt, weil es ja die Familie ist. Manchmal verführt er mich dazu, dem Finanzamt einen kleinen, süßen Hinweis zu hinterlassen, aber dann wird Dijan sicherlich wieder am Ende beschuldigt.
"Sag ihm, dass du lernen und trotzdem für Praktika zur Uni musst." Der Typ weiß ja eh nichts vom Studieren. Nur beim Steuerhinterziehen kennt er sich aus. Aber ob er sich besser auskennt als Azad? Das sei mal dahingestellt. "Ja, mache ich." Ich beiße ungläubig in meine Bruschetta. Werden wir ja sehen, denke ich mir. "Wie läuft dein Leben, Schwester? Wie ist es mit Azad?" Es ist erschreckend schön. Wie unsicher ich doch anfangs war. Vorsichtig, unwissend, distanziert. Und irgendwann verschwammen diese Verhaltensweisen zu einem Weg, der meine Lippen zu seinen führte. Verrückt. Gerade befindet er sich bei seiner Kontrolluntersuchung im Krankenhaus. "Ganz gut. Entspannt." Dijan nickt so stark, als hätte ich ihr den Himmel auf ihrem mit Krümel und Tomatenstücken bedeckten Teller geholt. "Freut mich, Schwester. Und wenn du bald Medizin studierst, wird es noch besser. Wir fahren dann immer zusammen. Ich freue mich!" Ja, ich mich auch. Sehr. Mein Lächeln ist wieder präsent. Endlich. Nach so vielen Jahren darf ich mein Traumstudium antreten. Ich hatte in den letzten Jahren immer Momente, in denen ich aufgeben wollte. Es war eine Zeitverschwendung, je mehr Absagen kamen. Ich wurde immer müder. "Immer noch keinen hübschen Studenten gefunden?", frage ich schmunzelnd. "Nein. Alle hässlich." Wäre da nicht dieser eine Zwillingsbruder. Ich schaue sie abwartend an.
"Was?", murmelt sie. Ihre haselnussbraunen Augen beginnen mir auszuweichen und zurück zu meinen dunkelbraunen zu springen. "Sag." "Was denn?" "Wann hat er dich wieder besucht?" "Wer?" "Tu nicht so." "Ich weiß nicht, was du meinst, Schwester." Sie kann mich mit noch so großen Augen anschauen und ihre vollen Lippen können noch so viel Platz zwischen sich lassen. Ich glaube ihr kein Wort. "Was ist mit Aras und dir?" "Was soll sein?" Ich weiß nicht, ob ich schmunzeln oder ihr hohles Gesicht gegen den Tisch schmettern soll. "Ich gebe dir noch eine Chance." "Okay", seufzt sie. Geht doch. "Du kennst mich doch", setzt sie verzweifelt an. Und wie ich sie kenne. Leider. Ich kenne leider die Seite, die immer jemanden sucht und nicht allein bleiben kann. "Und er ist so nett!" "Wann habt ihr euch zuletzt gesehen?" "Ich hab letztens mit meiner Cousine im Restaurant gegessen und dann war er auch da." Meine Augenbraue hebt sich. Ach, so ist das also. "Mhm", summe ich auffordernd, weiterzureden. "Wir haben nicht geredet. Du weißt ja, wie meine Familie ist." Leider weiß ich es zu gut. "Und dann?" "Er hat mich die ganze Zeit angeguckt. Ich war richtig gestresst deshalb." Ich kann mir vorstellen, wie sie aus Versehen hinfliegt deshalb. "Aber irgendwie ist er gruselig." Oh ... jetzt bin ich gespannt, wie psychopathisch der Zwillingsbruder meines Ehemannes ist. Ich lege interessiert die Hände unter mein Kinn. "Erzähl mir alles."
"Ich habe das Gefühl, dass er immer weiß, wo ich bin. Letztens war ich in der Bibliothek, weil ich nach den Dummies-Büchern gesucht habe für Bioinformatik und Chemie und am nächsten Tag kam Post für mich. Da waren alle Dummies-Bücher für alle Module, die ich dieses Semester belege!" Ich wünschte, ich könnte genauso schockiert wie sie sein. Stattdessen muss ich schmunzeln. "Hast Geld gespart." "Woher weiß er, wo ich wohne?" Es wundert mich, dass er sie noch nicht angeschrieben hat. Das ist ihm zu komisch, aber Bücher an ihre Adresse zu schicken, ist absolut legitim seinerseits. Versiffter Kiffer. Ich hoffe, die Bücher haben nicht danach gestunken. Dijan ist da nicht so streng wie ich. Sie würde es zwar nicht wollen, aber sie würde niemals die Fäuste dadurch fliegen lassen. Nicht, dass ich es schon getan habe, denn ich meide Aras und lasse ihn meinen Ekel spüren, weshalb er kaum noch verschmitzt ist, sobald wir uns in einem Raum befinden, aber ich kann mir in einer meiner Katastrophenvorstellungen sehr gut vorstellen, wie ich bei in einem Streit mit ihm meine Hand mitten zu seinem Gesicht rasen lasse. Ihre bisherigen Beziehungen waren alles mit Versagern. Trinker bis Kiffer. Der Letzte hatte sogar einen verdienten, schweren Autounfall, der mich bis heute schmunzeln lässt. Das war seine Strafe dafür, dass er Gerüchte über sie verbreitet hat. "So genau kann ich es dir nicht sagen", setze ich leiser an.
"Aber ..." Moment. Sie weiß gar nicht, dass es sich um einen Mafia-Clan handelt. Klar, sie hat einen Witz über die Erscheinung gemacht, aber dass es der Wahrheit entspricht, weiß sie nicht. Ich weiß nicht, inwieweit ich das geheim halten darf. Klar, ich werde nicht jedem Menschen erzählen, dass mein Mann der Mafia angehört, aber meiner einzigen Freundin, die vom Zwillingsbruder meines Mannes schwärmt, der zufälligerweise auch etwas mit diesen Mafiageschichten zu tun hat? "Er ist nicht der Normalste", setze ich an, zu unsicher, wie ich es formulieren soll. "Ja!", springt sie auf. Ihre engen Locken fallen vor ihre Augen, als sie sich vom Tisch abstützt und meine Katzen verschreckt. "Aber woher weiß er, wo ich wohne? Hast du ihm das gesagt?" Nein, Dijan. Der Typ ist gestört. Genau wie sein Zwillingsbruder. Und ich habe Angst, dass er auch von Dijan verlangt, ihn mit Messern zu bedrohen und zu verletzen. "Er will unbedingt etwas von dir und bettelt bei mir immer nach deiner Nummer." Ich will es ihr sagen, aber ich darf auch nicht das Vertrauen einer ganzen Familie brechen. Ich muss das erst mit Azad besprechen. "Aber ich bin mir sehr unsicher mit ihm, weil er eben krumme Dinge macht, Dijan. Überleg es dir bitte gut." Ich will nicht, dass ihr schon wieder irgendwer das Herz bricht.
Dijan bleibt noch eine gute Weile, bis sie dann aufbrechen muss, um ihre Schwester abzuholen. Sie ist nach meiner kleinen Ansprache ruhiger geworden, aber durch das Fragen, welchen Anime sie aktuell guckt und wie sehr er mir doch gefallen würde, habe ich sie ablenken können. Die einzige Frage, die ich mir jetzt stelle, ist: Wo ist mein Ehemann? Es ist gleich 18:00 Uhr. Ich werde langsam stutzig. Ich will ihn gerade anrufen, da höre ich, wie die Tür aufgeschlossen wird und gehe sofort in den Flur. Was ist in all den Tüten? "Hallo", begrüßt er mich lächelnd. Seine Augen leuchten, als er mich erblickt und augenblicklich sinken meine angespannten Schultern. "Wo warst du?", frage ich leise, als ich auf ihn zugehe. Mein Blick fällt den wunderschönen Strauß voller lila Tulpen und weißem Schleierkraut. Dieses Mal sind auch dunkellila Lilien dabei. "Ich war spontan einkaufen. Ich dachte mir, unsere Katzen brauchen neue Spielzeuge." Andeutend hebt er die Tüte der Tierhandlung an. "Und diverses Futter. Ich habe einen Kratzbaum bestellt. Morgen können wir ihn abholen." Ich nicke. Azad lächelt mich wieder sanft an, beugt sich dann für einen Kuss vor, als ich ablehnend zurückweiche. "Aber das war nicht der Grund, weshalb du so lange weg warst", spreche ich gegen seine nahen Lippen. Was verheimlicht er?
"Tatsache", setzt er an. Wieso verheimlicht er es mir? "Wieso lässt du Informationen weg?" "Weil du Aras nicht magst." "Das ist mir egal. Du hast mir zu sagen, wo du dich aufhältst, ohne Dinge wegzulassen." Was hat er getan? Wo war er? Es beunruhigt mich, dass er absichtlich Dinge weglässt, aber es beunruhigt mich auch genauso, dass sich seine Augenbrauen für einen Moment zusammenziehen. "Avin", setzt er an. Mein Bauch zieht sich zusammen. Wir werden uns streiten. Wir werden eine Auseinandersetzung haben. Ich weiß nicht, wie weit ich mich zurückhalten werde, als ... er seine Hand auf meine Wange legt. "Bitte, Avin", wiederholt er. Seine Augenbrauen sind nicht streng zusammengezogen, sondern flehend ... ich verstehe es nicht. "Es ist alles gut. Ich bitte dich, dir keine Sorgen zu machen. Du machst dich selbst kaputt damit. Ich war mit ihm einkaufen. Wir beide haben, nach der Untersuchung, vieles eingekauft. Deine Freundin war zu Besuch, du hast etwas gegen Aras, der etwas von ihr möchte und ich wollte ihn nicht spontan hier hinbringen, also haben wir auch Dienstgespräche außerhalb des Hauses besprechen müssen. Es ist alles in Ordnung." Es ist alles in Ordnung ... schätze ich. Wissen, tue ich es nicht. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass ich mir benommen vorkomme. Dass ich das Gefühl habe, alles dreht sich um mich.
Meine unbewusst angehobenen Hände sinken. Die Folie um den Strauß knistert und weckt damit die Neugierde meiner Katzen, die mir gefolgt sind. Ich verstehe das Ganze nicht. Und weil ich mir plötzlich so planlos vorkomme, möchte ich ihm vor Verlegenheit nicht in die Augen sehen. "Avin." Er hebt mein Gesicht an. Seine Augen widerspiegeln Verständnis und Sanftmütigkeit. "Seit Tagen bemerke ich, dass du dich gegen mich wehrst. Je näher wir uns kommen, desto stärker wird dein Misstrauen. So habe ich es zumindest im Gefühl." Aber ... ich bin doch viel lockerer zurzeit? Das trifft mich gerade. Er attackiert mich mit dieser Aussage, auch wenn es nicht sein Ziel ist. "Wo war ich misstrauisch?" Azad lächelt sanft. Ein wenig traurig. "Noch vor zwei Tagen. Du scheinst es nicht zu bemerken, aber sobald ich dir sage, dass ich etwas erledigen muss, bist du distanziert. Du wendest deinen Körper von mir ab. Dein Ton wird kühler, deine Stimme stumpfer, dein Blick verurteilender." Je mehr er spricht, desto entdeckter und entblößter fühle ich mich. Es überfordert mich, weil ich es weder bestätigen noch verneinen kann. Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nicht, was ich tun soll! "Was sind deine Sorgen, Avin?" Sein Daumen fährt sachte über meine Wange, als er sich mir nähert. Ich weiß es nicht. Es sind viele negative Sachen. Alles Negative. Alles, was ich schon kenne.
Mir kommt kein Wort über die Lippen. Stattdessen lasse ich meine Stirn kraftlos gegen seine Brust kommen. "Komm her." Ich lasse es mir kein zweites Mal sagen, weil sich mein Gesicht weinend verziehen will. Azad drückt mich fest an sich. So fest, dass ich seine Rippen an meinen spüre. Ich brauche das. Vielleicht bin ich deshalb die letzten Male so reizvoll gewesen. Aber weshalb genau? Ich weiß es nicht. "Lass uns etwas essen und dann reden. Hört sich das gut an?" Ich nicke, will mich aber noch nicht lösen. "Komm. Wir lassen die Tüten hier und gehen erst essen. Es riecht gut. Nach Hackfleisch." Ich nicke wieder. Dieses Mal ein wenig gefasster. "Hab was im Ofen." Gott, wie schrecklich sich meine Stimme anhört, wenn sie belegt ist. Ich will das nicht! Ich hasse es, wenn er mich so schwach sieht. "Perfekt." Er küsst meine Schläfe. "Lass uns in die Küche." Dabei lasse ich ihn mehr mich dahin schieben, als selbst zu laufen. "Setz dich. Ich richte alles an." Ich tue, was er mir sagt, stütze mein Kinn an meiner Hand ab, als ich sitze. Er hat mich nachdenklich gemacht. Ich achte zu selten auf mich und meine Reaktion. Ist mein Misstrauen nicht berechtigt? Wieso hat er mir nicht einfach geschrieben, wo er ist und was er macht? "Ich will deinen Standort immer wissen." "Kriegst du", erwidert Azad sofort, als er das Essen aus dem Ofen rausholt.
"Schreib mir beim nächsten Mal, wenn du irgendwohin gehst." "Mach ich, Schneeflocke. Ich dachte, es würde dich nicht interessieren, so kühl wie du oft wirkst. Verzeih mir." Er schaut mir so aufrichtig in die Augen, dass ich mir ein wenig blöd vorkomme, so etwas zu verlangen. Ich senke daher den Blick auf die Hackbällchen, Kartoffeln, Tomaten und Paprika in der Auflaufform. "Passt schon", murmele ich. "Habe ich etwas getan, was dein Misstrauen erweckt oder liegt es an der Vergangenheit?" "Vergangenheit." Azad schüttet zwei große Löffel Reis auf meinen Teller, woraufhin zwei noch größere Löffel vom Auflauf folgen. "Danke." "Nicht dafür. Wie war dein Tag?" "Gut. Hab viel mit Dijan geredet." Gerade fällt mir wieder ein, dass ich ihn noch etwas fragen muss ... und ich habe schon wieder den Lipgloss vergessen! "Und ich wollte wissen, ob ich ihr sagen kann, worauf sie sich einlässt, wenn sie Aras akzeptieren will." "Sie hat über ihn gesprochen?", schmunzelt er. Meine Mundwinkel zucken bei seinen zarten Grübchen. "Ich habe sie ausgefragt, weil ich seinen penetranten Zwillingsbruder kenne." Azads raue Lache erfüllt die gesamte Küche. Es kribbelt unter meinen Ohren und meiner Haut deshalb. Er hat eine schöne Lache. "Und wie findest du seinen Zwillingsbruder?" Wie schön seine hellblauen Augen leuchten. "Gruselig." "Ich habe gehört, ihm gefallen solche Komplimente." Das war bei seinem Messerfetisch auch nicht anders zu erwarten. "Weißt du auch, wie es seiner Leiste geht?" Wir schmunzeln gleichzeitig.
"Der Leiste geht es gut. Sie wurde von besonderen Händen verziert." Alter Schleimer. Ich senke meinen Blick auf meinen Teller, nehme einen Bissen meines Essens und schaue wieder hoch. Wie hat er es geschafft, meine Bedrücktheit verschwinden zu lassen? "Du fühlst dich besser, oder?" Tue ich. Verrückt, wie schnell er es bemerkt und versteht. Ich nicke. "Ich gebe dir meinen Standort, sodass du konstant sehen kannst, wo ich bin, okay?" Das ist gut. Ich nicke wieder. "Aber ich bitte dich, mir auch deinen zu geben. Du musst mir dein Handy geben, damit etwas programmiert wird. Trotz 24-Stunden-Überwachung muss ich alle Maßnahmen für dich treffen." Das ist okay. Bei meiner Sicherheit mache ich keine Ausnahmen. "Und wenn dein erstes Semester beginnt, wirst du auch Leibwächter haben." Von mir aus. Solange sie mich nicht nerven, ist es mir egal. "Und hat Aras über Dijan geredet?" "Wenn du nur wüsstest, wie oft er darum fleht, dass du ein gutes Wort einlegst." "Im Leben lege ich kein gutes Wort für einen Kiffer ein", erwidere ich trocken. Was erhofft er sich? "Darüber redet er auch öfter." Azad fährt sich unbeholfen über seine Stirn. "Übers Kiffen?" "Über deine Distanz." "Hat er sich selbst zuzuschreiben." "Er weiß doch gar nichts von deinem Trauma, Avin", erwidert Azad mitfühlend. Trotzdem. Ich kann das nicht und ich will es nicht. "Außerdem tut er es nicht regelmäßig. Wann das letzte Mal war, weiß selbst ich nicht mehr." "Ändert nichts an der Tatsache, dass er es tut." Ich verstehe nicht, wohin diese Debatte führen soll.
"War es denn nicht schöner, als du ihn immer ärgern konntest?" War es, aber das möchte ich nicht zugeben und zucke daher mit meinen Schultern. "Aras ist genauso ein Familienmensch wie ich. Es verletzt ihn, dass du dich distanziert hast." Das ist mir egal. Ich will nichts mit Kiffern zu tun haben. "Ich diskutiere nicht darüber." "Also willst du nie wieder mit ihm reden?" "Würde mir nichts ausmachen." Azad seufzt nur. "Ich will doch nur, dass du viel Kontakt zu anderen hast. Abschottung tut deiner schönen Seele nicht gut." "Passt schon." Und wieder seufzt er. "Wenn er mal vorbeikommt, würdest du also nicht mit ihm sprechen? Auch wenn er ein Gespräch aufbauen will?" Die letzten Male habe ich ihn nicht angeschaut. Hatte er eine Frage, die nur ich leider beantworten konnte, musste ich antworten, aber das nur kurz und widerwillig. "Ich kann es bei Suzan verstehen, aber Aras? Kannst du ihm denn nicht noch eine Chance geben?" "Keinen Bedarf." "Avin", setzt er strenger an. Ich schaue von meinem halbleeren Teller finster in seine Augen. Er ist beherrscht, aber er soll sich nicht in meine Verhältnisse einmischen. "Ich stelle kaum Anforderungen an dich. Da ist es nicht zu viel verlangt, wenn du mir einmal zuvorkommst." Mir wird heiß. Ich bin verwirrt und überfordert von seiner Aussage. Was verlangt er da von mir? "Nein", erwidere ich stumpf. Ich sehe es nicht ein, mich gegen meinen Willen mit einer Person zu unterhalten, die etwas tut, was ich verabscheue.
"Weil er etwas tut, das gegen deine Prinzipien verstößt?" "Ja." "Wieso bist du dann mit einem Mörder verheiratet?" Und im Nu wird mir kalt. Es fühlt sich an, als ob eiskaltes Wasser meinen Rücken hinabläuft. Ich spüre, wie schwer es um meine Brust wird. Meine Atemwege zwicken schon. "Weil ich verzweifelt war", spotte ich. Er macht mich wütend. Extrem wütend. Er macht mich rasend. "Weil es der einzige Weg raus aus der Hölle war. Du tötest laut eigener Aussage keine Unschuldigen. Ich habe niemals behauptet, dass ich gegen die Tötung schuldiger Personen bin!", blaffe ich am Ende. Meine Hände zittern. Wieso muss er mit mir darüber diskutieren? Ich will nicht mehr essen und vor allem will ich ihn nicht mehr sehen. Deshalb verlasse ich auch die Küche. Warum steigert er sich so sehr in meine Entscheidung hinein? Es betrifft ihn nicht. Er ist ein Außenstehender. Er soll sich um seinen eigenen Scheiß kümmern! "Avin", ruft er mir hinterher, doch ich ignoriere ihn. Er kann mich mal. Wieso tut er das? Ich dachte, er versteht mich. "Avin." Ich möchte gar nicht darauf reagieren. Nur schlägt mein Herz verängstigt schneller, als ich plötzlich höre, wie er seine Geschwindigkeit hinter mir beschleunigt. Ich kann nicht anders, ich muss wegrennen. Ich hasse es, wenn man mir hinterherrennt. Meine Hand greift schon zitternd nach der Schlafzimmertür, meine Kehle will ein verängstigtes Schreien von sich geben, als ich ihn sehe.
"Geh weg!", schreie ich. Mein Herz rast. Wieso rennt er mir hinterher? Was will er machen? "Mach die Tür auf, Avin." Er ist zu stark, aber ich habe zu viel Angst, dass er es durch die Tür schafft. "Geh zurück!" Die Panik gibt mir mehr Kraft, mich gegen die Tür zu drücken. "Avin, ich tue dir nichts!", schreit er verzweifelt. Er lügt! "Wieso rennst du mir dann hinterher?" "Weil du dich einsperren willst!" "Dann lass es mich tun!" "Ich will aber mit dir reden!" "Kannst du auch hinter der Tür!" Meine Stimme bricht. Ich brauche mein Asthmaspray. Mir geht es nicht gut. Ich huste schon wieder und ich schmecke das Blut im Hals. "Geh weg!" Bitte. Geh weg. Ich will allein sein. Erst versteht er mich nicht und will sich gegen mich stellen und jetzt rennt er mir hinterher. Ich brauche Ruhe. Ich will allein sein. Ich will nicht, dass er meine Tränen sieht. "Geh endlich!" Gott! Ich hasse es, dass meine Stimme beim Schreien bricht. Meine Geduld ist am Ende. Ich ramme meinen Körper gegen die Tür, schaffe es erst beim zweiten Mal, sie ins Schloss fallen zu lassen und abzuschließen. Was ist passiert? Es ging alles zu schnell. Ich mag diesen Tag nicht. "Avin", höre ich ihn hinter der Tür fassungslos sagen. "Geh endlich! Ich will dich nicht sehen." Mein Kopf tut schon weh. Ich greife vorsichtshalber mein Asthmaspray von meinem Nachtschrank. Mir fließen zittrig die Tränen beim Inhalieren ab. Dieses Mal kann ich durch mein plötzliches Schluchzen nicht die zehn Sekunden nicht einhalten.
Mein Körper fühlt sich durch die Trauer und den Stress so schwer an, dass ich das Gefühl habe, das Lattenrost bei meinem Fallen auf das Bett zu beschädigen. Ich möchte nicht, dass es mich verletzt. Ich möchte mich nicht attackiert und vulnerabel fühlen, aber ... es kommt einfach. Das ist nicht gut. Es macht mir Angst, dass ich mich bei ihm so schnell verletzt fühle. Das bin nicht ich. Das ist eine neue Avin. Eine Avin, die zu viel fühlt. Seufzend wische ich mir meine Tränen weg. Meine Abneigungen sind wieder stärker. Mir fallen jetzt so viele Argumente gegen seine jämmerliche Aussage ein, dass ich schon wütend auf mich selbst bin, sie nicht schon vorher auf der Zunge gehabt zu haben. Was fällt ihm ein? Was wollte er gerade tun? Wieso rennt er mir hinterher, wenn er mir nichts tun will? Er weiß, wie sehr ich männliche Personen hinter mir hasse. Das alles macht mich wieder emotional, obwohl ich nicht weinen will. Ich fühle mich nur so verraten. Hat er gelogen? Wenn er mit mir sprechen wollte, würde er mir nicht hinterherrennen. Ich drehe meinen Körper zum Fenster, atme einmal tief durch. Ich spüre schon die Kälte und Distanz in mir emporkommen. Das werden kühle Tage zwischen uns und so egal es mir sonst auch ist, habe ich kleine Bedenken und Gewissensbisse.
Ich möchte mich nicht von der Wärme entfernen, die ich so vorsichtig in meinen ängstlichen Händen trage, egal wie weit ich sie von meinem Herzen halte.
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Wen versteht ihr mehr und wieso?
Azad oder Avin?
- Helo
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