Kapitel 45

Es ist verrückt, wie langgezogen ein Tag in meinem Leben vorkam und jetzt die letzten Wochen und Monate so schnell vergingen, dass ich überlegen muss, was ich alles erlebt habe. Bevor der März eintrat, hätte ich niemals mit einer positiven Veränderung in meinem Leben gerechnet. Und jetzt? Jetzt liege ich wach in den Armen eines Mannes, der mich gerettet und belebt hat. Und ich habe ihn geküsst! Ich! Diejenige, die sich vor Männern geekelt hat und alle unbegründet stigmatisierte, fühlt sich wohl genug, auf der Brust eines Mannes zu liegen. In der Zeit, in der ich wach geworden bin, gab es mehrere Momente, in denen ich das Ganze doch etwas komisch fand. Es ist ungewohnt. Vielleicht mache ich etwas unwissentlich falsch. Ich finde es komisch, dass ich so oft so zärtlich zu ihm war. Das kenne ich nicht so von mir. Überhaupt nicht. Es wirkt so ... gruselig. Keine Ahnung, wie ich es erklären soll, aber es passt nicht zu mir, so gefühlvoll zu sein. Ich rutsche näher an Azad ran, umschlinge dabei seinen Brustkorb, als ich ihn dann unterdrückt ächzen höre. Seit wann ist er so früh wach? Ich schaue zu ihm hoch und tatsächlich sind seine Augen geöffnet. Oh Gott. Zum Glück habe ich ihn nicht geküsst oder befummelt. Mein Gesicht wird trotzdem heiß.

"Warum bist du wach?", frage ich vorwurfsvoll. Um diese Uhrzeit kann er nur aus pathologischen Gründen wach sein. "So sehr ich auf Schmerzen stehe, die durch dich entstehen, denke ich, dass meine Rippen doch verletzter sind, als ich angenommen habe." Azad ächzt, als er sich streckt ... und diese Laute ... oh Gott. Es hört sich gut an. Zu gut. Ich muss schmunzeln. "Wie lange bist du schon wach?" "Habe kaum geschlafen", murmelt Azad plötzlich rau. So wirkt er auch, wenn ich ihn mir jetzt richtig ansehe. Seine Lippen sind geschwollen ... aber ich werde ihn nicht küssen. "Weshalb?" "Hab doch stärkere Schmerzen als ich angenommen habe." Oh Gott, ich setze mich sofort auf. "Ist dir heiß?", frage ich und taste sofort seine Stirn und Oberkörper ab. Er fühlt sich warm an, aber ob man es als fiebrig bezeichnen kann oder es seine normale Körpertemperatur ist, weiß ich nicht. "Nein, alles gut. Ich muss mich heute sowieso untersuchen lassen." Hm, okay. Was schmunzelt dieser verletzte Mörder aber jetzt so? "Was?" Er soll mich nicht so anschauen! Mir wird warm deshalb ... und ich werde verlegen. "Macht sich die eiskalte Geschäftsführerin Sorgen um mich?" "Nein." "Doch." "Du solltest dir lieber Sorgen um dein Leben machen, alter Mann." Es war ja klar, dass er jetzt grinsen muss. Nur habe ich nicht vorhergesehen, dass mein Bauch deshalb kribbelt und sich zusammenzieht. Ich muss was essen. "Ich kann in Frieden sterben. Ich wurde von meiner Ehefrau geküsst und gepflegt. Meine Liste ist abgehakt." Süß. Ich will nicht lächeln und um genau das zu umgehen, kneife ich prüfend meine Augen zusammen. Vielleicht lenkt ihn das von der Wärme und potenziellen Röte meines Gesichtes ab.

"Du willst mich also hierlassen?" "Würdest du mich vermissen?" Ich weiß es nicht. "Nein." Oh ... seine Mundwinkel zucken. Scheiße, ich wollte ihn nicht verletzen. Ich halte inne, zu überfordert, einen Satz zu bilden. Das wollte ich nicht. Es war eigentlich nur als Witz gemeint, um meine Unsicherheit zu überspielen, aber ... ich umarme ihn einfach. Ich hoffe, das klappt. Azad erwidert sie zumindest, nur ächzt er sofort, als er uns hinlegt und mich näher an sich zieht. Scheiße, seine Rippen! Das Problem ist, dass ich mich nicht aus der Umarmung ziehen möchte ... ich mag sie. Es fühlt sich schön an. Hoffentlich ist er mir nicht böse, aber er nimmt auch nicht seinen Arm von mir. Das Ganze ist peinlich, unangenehm, verwirrend und doch irgendwie schön. "Ich brauche eine Oxy", murmelt Azad schmerzerfüllt. Ich will eigentlich unruhig werden, weil er Oxycodon möchte, aber so wie er gerade unterdrückt stöhnt und das Gesicht verzieht, glaube ich nicht, dass er das Schmerzmittel missbrauchen will. Er stößt ein Zischen durch seine zusammengebissenen Zähne hervor und es tut mir leid, aber er sieht unfassbar attraktiv aus, wenn er Schmerzen hat. Er soll wieder stöhnen. Ich bewege unauffällig meinen Oberkörper, um seine Rippen zu treffen und es tut mir wirklich leid, dass ich ihn damit verletze, aber das Stöhnen ist es mir wirklich wert. Jetzt mache ich aber nichts mehr. "Sag mir, wo es ist und ich hole es dir." "Ganz unten im Wandschrank, wo du den Rest rausgeholt hast. 10 Milligramm." Armer Azad. Der Satz macht ihn ganz atemlos.

Auf dem Weg ins Haus kann ich mir mein Schmunzeln nicht verkneifen. Es ist überhaupt nicht lustig, aber ich habe die schlechte Eigenschaft, oft über Menschen mit Schmerzen lachen zu müssen. Die Kätzchen scheinen schon wach zu sein oder mich gehört zu haben, denn sie folgen mir schnurrend zu den Futternäpfen, die ich auffülle. Ich sollte eine abwischbare Matte darunterlegen, denn die Kleinen essen wie Ferkel. Das Trockenfutter ist nicht mehr im Napf und auf dem Boden liegen getrocknete Fleischstücke, die einmal Nassfutter waren. Beides wird wieder aufgefüllt sowie Wasser und Milch, woraufhin ich mich ordentlich anziehe, Azad eine Jogginghose und T-Shirt mitnehme und mich vor dem Wandschrank runterhocke. Letzte Abteilung des ersten Schrankes meinte er. Da finde ich eine Menge Betäubungsmittel. Einige Ampullen, einige Glasflaschen und viele Schachteln mit Tabletten. Oxycodon hat er in mehreren Mengen da; 10 bis 80 Milligramm. Das beunruhigt mich. Zur Sicherheit kontrolliere ich alle Packungen, die bis jetzt noch verschlossen sind. Die 30er ist offen und drei Tabletten sind anscheinend schon geschluckt worden ... ich hoffe, es ist keine Abhängigkeit. Ich hoffe, es lag nur an den Auseinandersetzungen. Und eine Tablette mit 80 Milligramm wurde auch einmal vertilgt ... aber das hatte bestimmt Gründe. Ich hoffe es. Er hat auch Fentanyl und Sufentanil da. Das beunruhigt mich, auch wenn ich gesehen habe, was mit seinem Körper passiert ist.

Ich mache mich ernüchtert zurück zu ihm. Das weckt unschöne Erinnerungen. Als mein Vater fast einen Monat im Krankenhaus verbringen musste, wusste keiner, wie wir es mit dem Junkie aushalten sollten. Zu dem Zeitpunkt wurde meiner Mutter in der Apotheke aus Versehen eine große Packung 125 Milligramm Tilidin mitgegeben und ich habe sie aufbewahrt. Da ich auch nicht weiterwusste, hatte ich vorgeschlagen, ihn damit zu betäuben, aber wir wussten nicht, was er noch in sich hat. Koks, Gras, Alkohol. Dinge, die die starke Wirkung verschlimmern und vielleicht den Tod hervorrufen. Wir wollten diese Sünde nicht auf uns lasten haben, so sehr ich ihm den Tod bis heute noch wünsche. Aber Azad würde so etwas nicht tun, oder? Mir fällt erst auf dem halben Weg zurück ein, dass ich mir die Zähne hätte putzen können, aber gerade bin ich zu sehr in Gedanken, um noch daran zu denken. Azad seufzt schon erleichtert, als er mich sieht. Ich hingegen schaue abwesend auf die Wiese. "Was ist los?" Du hast zu viele Opioide im Haus. Das sind alles abhängig machende Medikamente. Stark betäubend und sedierend. Wieso hat er so viele? Reicht eines davon nicht? Was will er mit Tramadol? Wieso auch noch Nalbuphin-Injektionen? Die darf man nicht bei mir anwenden, sonst können sehr starke Asthmaanfälle bei mir ausgelöst werden.

Ich möchte gar nicht darüber reden, obwohl mir bewusst ist, wie wichtig Kommunikation ist. Ich bin gerade aber einfach zu bedrückt deshalb. Er bekommt das Medikament nur halbherzig in die Hand gedrückt. "Ich glaube, ich weiß, was du hast." Was auch immer. "Wir können einen Drogentest machen, Avin. Ich benutze die Mittel nur im Notfall." Ja, aber ... keine Ahnung. "Das ist eine ganze Apotheke." "Ist es, aber denkst du nach dem gestrigen Notfall nicht, dass sowas für mich nötig ist?" "Direkt so viele?" "Je nach Verletzung." "Da sind Anästhetika dabei. Ohne Sauerstoffgerät und Intubation überlebst du das nicht." "Ich weiß. Ich habe es schon hinter mir." Und schon bin ich sprachlos. Jetzt wurde er auch schon im Wohnzimmer oder auf dem Esstisch narkotisiert und operiert. Hat dieser Mann irgendetwas nicht erlebt? Azad nickt beschwichtigend bei meinem entsetzten Ausdruck und zeigt aufs Haus. "Jede Wand im Haus kann dir eine Geschichte erzählen. Ich bin clean, Avin. Ich nehme keine Drogen." Hm, okay. Wenn er meint. Vielleicht kann ich ihm im Schlaf ja Blut abnehmen, aber wo finde ich dann so schnell ein Labor? "Sobald es wirkt, können wir rein." Er soll weniger reden und mehr dafür sorgen, dass sich sein Gesicht nicht immer wegen der Schmerzen verzieht. So bilden sich nur noch schneller Falten. Ich helfe ihm langsam auf, greife nach der Wasserflasche, die überraschend kühl geblieben ist, sodass er innerhalb einer Minute schon die Tablette im Magen hat. "Danke, Schneeflocke."

Er zieht mich sanft zu sich hinunter, als er sich hinlegt. "Möchtest du die Tage irgendwo hin?" "Solltest du dich nicht ein wenig auskurieren? Du kannst gerade mal so sitzen." "Morgen sieht die Welt sicherlich anders aus." "Und wohin willst du mich führen?" "Wohin du willst. Die Schweiz ist schön." "Ich hoffe, die Kliniken sind umso schöner, wenn du zusammenbrichst und ich dich dahinschleppen muss." Der Effekt, den Azads unterdrückte, raue Lache auf mich hat, ist erschreckend und unerklärlich. Mein Bauch muss nicht unbedingt kribbeln und sich zusammenziehen, aber irgendwie ... es fühlt sich schon gut an. Schon komisch, so etwas in der Lage zu spüren. Diese Gefühle kenne ich von der Achterbahn. Da war es aus Angst, schätze ich. Habe ich Angst? Angst vor seinen Reaktionen? Oder ist es Aufregung? Werden wir uns heute noch einmal küssen? "Wir lassen uns heute Frühstück machen. Ist das okay?" Ich summe. Gerade liege ich ohnehin zu entspannt an seiner Brust. "Sollen wir im Garten essen?" Wieder summe ich. Das wollte ich schon immer einmal tun. Nur hat man in der Plattenbausiedlung graue Balkone. Das einzig Grüne ist das noch nicht verblasste Gras auf dem Hof. Und vielleicht können wir ja mal an einem See in der Schweiz frühstücken.

"Womit hast du dich die Nacht beschäftigt?" "Ach, ich hab wie ein verliebter Teenager gegrinst, weil meine große Liebe mich geküsst hat." Nicht grinsen. Nicht grinsen. Nicht grinsen, Avin! Aber ich kann nicht anders. Meine Zähne bohren sich vergebens in meine Unterlippe. "Wäre ich nicht neben dir am Schlafen, hättest du sicherlich gekreischt." "Das wäre nicht auszuschließen. Begleitest du mich zu meinen Untersuchungen?" "Ja." "Perfekt. Falls der Arzt einen Fehler macht, rettest du mich." Ich schmunzele wieder. Was ein Idiot er doch ist. "Hab ich schon mal gemacht." "Wann?" "Als im Blutbild meines Vaters eine offensichtliche Thrombozytose vorhanden war und der Arzt ihm gesagt hat, es wäre nichts und er solle die ASS absetzen. Es wurde korrigiert." "Du schreckst auch vor Fachmenschen nicht zurück, wie eine eiserne Geschäftsführerin, Schneeflocke. Dein Wissen turnt mich-," Ich halte ihm den Mund zu. Es ist noch zu früh für einen Ständer. Stattdessen helfe ich diesem Riesenbaby beim Anziehen. Zwar meckert er noch ein wenig und ich fühle mich wieder wie im Pflegepraktikum, aber am Ende schaffen wir es mit einer Verschnaufpause. Hätte ich so einem im Pflegepraktikum helfen müssen, würde ich trotz meiner Trockenheit länger bleiben. Idiot. Um den Rest kümmere ich mich später. Jetzt heißt es, Azad ins Haus zu schleppen, wobei mir Jamal und Salar freundlicherweise zur Hilfe kommen und seine 110 Kilo für mich auf dem Sofa ablegen.

Mir fällt erst jetzt die Wunde an seiner Stirn auf. Die Gerinnung ist schon längst eingetreten, aber es war zu leichtsinnig und undurchdacht von mir, ihn ohne Kopf-CT schlafen zu lassen. Als ich ihm durch sein Haar fahre, spüre ich wieder am Hinterkopf die geronnene Wunde. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass in einem kleinen Blutbild eine Thrombozytose auffällig wäre. "Ich will frühstücken und schlafen." "Wolltest du nicht zum Arzt?" Azad brummt. "Ich hab kaum geschlafen." "Du brauchst dringend ein Kopf-CT." "Mir ist aber nicht übel." "Das ist mir egal. Du hast genügend kognitive Schäden. Noch einen kannst du nicht gebrauchen." "Die anderen Schäden gefallen dir aber, Schneeflocke." Leider. Und bedauerlicherweise halte ich nur inne, statt einen schlagkräftigen Spruch zurückschießen zu können. Er sollte in seiner verletzten Lage lieber nicht so frech sein. Nur schwindet mein Durchsetzungsvermögen bei seinem müden Lächeln. Diese Grübchen und die sanften Lachfalten unter seinen Augen ... wenn er so weiter macht, drücke ich ihm ein Kissen aufs Gesicht. Meine Wangen fühlen sich verräterisch heiß an. Ich sollte mich um die Katzen kümmern. "Warum so rot, Schneeflocke?" "Ich schlage dich gleich." Und wenn er weiterhin so grinst, ist es wirklich nicht mehr weit! "Schüchtern?" "Bestimmt, wenn ich mich vor Gericht für den Mord an dir rechtfertigen muss", warne ich ihn mit angehobenem Finger, den er nur dümmlich küsst und sich zurückfallen lässt.

"Die Würstchen waren gut", kommentiere ich nach dem ruhigen Frühstück, als wir wieder in der Küche sitzen. "Ich kaufe sie dir immer." Gut so. Die sind wirklich gut. Und so knackig! Wahrscheinlich werde ich später die restlichen verschlingen, statt zu kochen. Azad legt den Kopf stöhnend in den Nacken. "Ich nehme mir die Woche frei. Ich muss erst drei Tage durchschlafen, um wieder zu Kräften zu kommen." Er schmunzelt nach seiner Aussage, als er mich wieder ansieht. "Und meine Ehefrau trägt ganz stark zu meiner Heilung bei." Ich schmunzele ... aber nur ein wenig! "Indem sie dafür sorgt, dass ihr dummer Ehemann keine Scheiße mehr baut?" "Unter anderem. Sie hält ihn mit ihren schönen Lippen auf." Oh ... stimmt. Da war ja was. Dieser Vollidiot! Seinetwegen erröte ich! Er soll mich nicht so lange ansehen, wenn ich immer noch zu schüchtern bezüglich des Kusses bin! Das ist extrem intim für mich. Ich ziehe die Schultern schon an, weil ich seinetwegen so verlegen werde. "Guck woanders hin", murre ich. Ich werfe ihn gleich mit einer Wurst ab! "Wohin denn?" "Mir egal. Nur nicht in mein Gesicht." "Wie du wünschst, Schneeflocke. Du trägst eine sehr schöne Halskette, die ebenfalls meine Aufmerksamkeit auf sich zieht." Genau diese halte ich jetzt. Ich realisiere erst jetzt, wie besonders sie ist. Welche Bedeutung dahinter steckt. Es sind er und ich. Sein Blut, das in meiner Kälte nicht gefriert.

Mich beschäftigt eine Frage und dadurch, dass ihm auffallen würde, dass ich darüber nachdenke, lenke ich mich mit dem Spülen ab. Was ist jetzt? Liebe ich ihn? Reicht das? Ich weiß es nicht. Ja, ich fühle mich anders bei ihm. Mein Bauch kribbelt, mir wird warm und ich lächele, wenn ich ihn ansehe, als wäre er die neue Form von Tetanus, die für Krämpfe in Form eines Lächelns sorgt. Ich fühle mich recht wohl bei ihm und er behandelt mich so, wie ich es verdiene und ich mag ihn schon, aber ... keine Ahnung. Ich fürchte mich vor diesem Schritt. Und allein bei dem Gedanken, ihm zu sagen, dass ich ihn liebe, kriege ich kaum Luft. Allein im Kopf kommt es schon schwer zum Ausdruck. Was ist, wenn ich es bereue? Ich ... ach, keine Ahnung. Das ist auch egal. Nur ist es nicht egal, dass Azad sich zu mir schleift. Er soll sitzen! Das macht mich weniger nervös. Kaum steht er neben mir, fühle ich mich unruhig. Als würde meine Prüferin in der praktischen Prüfung hinter mir stehen und mich beobachten. "Was willst du?", frage ich stumpf und trocken. "Dich." Ich bin froh, dass ich durch seine dumme Antwort die Augen verdrehen kann. "Mich oder mein Messer?" "Beides, wenn du so schön fragst, Schneeflocke." Ich will wieder etwas ansetzen, nur verschlucke ich mich beinahe, als er meine lose Strähne um seinen Zeigefinger wickelt. Nicht ablenken lassen. Ich darf mich nicht ablenken lassen, auch wenn mein Blick zu seinem abgestützten Arm auf dem Waschbecken schielt.

"Arm weg. Ich muss spülen." "Ich kann dir helfen." "Kannst du. Indem du weggehst." Ich muss einen kühlen Kopf bewahren, vor allem jetzt, wo er sich besonders heiß anfühlt. Hätte ich wieder ein 24-Stunden-EKG um, würde man eine Tachykardie feststellen. Er soll weggehen, bevor ich die Gabel in seine Schulter ramme! Ich werde nervös und unruhig. Ich spüre das Zittern in meinem rechten Arm, obwohl ich gerade keinen negativen Stress verspüre. Azad summt nur als Antwort, rutscht näher zu mir auf, sodass seine Brust an meine Schulter kommt und ich sanft erschaudere. "Aber wer hilft mir dann?" "Hilf dir selbst. Du bist alt genug." "Mit dem Alter kommt die Schwäche. Meine kam mit 27 Jahren." Alter Schleimer. Ich stoße ihn sanft an. "Bei manchen setzt der Alterungsprozess eben früher ein." Er summt wieder und weil er mir so nah ist, kribbelt es meine linke Körperhälfte hinab. Noch immer spielt er mit der Haarsträhne herum, stimuliert meine sensible Haut noch mehr, indem seine Fingerknöchel meine Wange streifen und mich nur noch weiter aus der Fassung bringen. "Ich habe gehört, dass schöne Frauen für ein langes Leben sorgen." "Alte Ehemänner sorgen für das Gegenteil." Er stößt ein kleines Lachen neben mir aus und beugt sich dann weiter zu mir hinunter. Manchmal vergesse ich, wie groß er doch eigentlich ist. Er soll weggehen. Ich bin innerlich am Durchdrehen, weil er mich so hibbelig macht! Mein Blick gilt warnend zu seinen eisblauen Augen. "Azad, ich bringe dich gleich-," Die Drohung verpufft in Luft, als er mich durch einen keuschen Kuss unterbricht.

Die Untersuchungen verliefen gut. Seine Rippen sind geprellt. Nur die letzte Rippe links ist angerissen. Es ist keine Hirnblutung vorhanden und das Highlight war, dass der Arzt die Naht an seiner Schulter gut findet. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen und bin vor Freude rot geworden, weil Azad mich stolz gelobt hat. Bei der Verletzung an der Schulter hatte er aber Glück, dass der Schnitt noch über dem Armnervengeflecht aufgehört hat und oberflächlich wurde. Jetzt sind wir wieder zu Hause. Azad sitzt in einer verführerischen grauen Jogginghose auf dem Sofa und trinkt gerade den Cocktail, den ich uns gemacht habe. Ich vergesse den kleinen Kuss am Waschbecken nicht. Jedes Mal, wenn sich seine Lippen um den Glasstrohhalm legen, muss ich an seinen warmen Mund auf meiner Haut denken. Und dieser kleine Kuss in der Küche ... er war schön. Sehr sogar. Er hat mich aus der Fassung gebracht, woraufhin ich komplett still wurde, aber ich fand ihn wirklich toll. Wenn ich heute noch einen kriege, würde ich mich nicht beklagen. Aber mir genügt auch die Zweisamkeit, in der wir jetzt die Cocktails genießen. "Am Abend wird meine Familie vorbeikommen. Wir müssen vieles besprechen und würden es im Wohnzimmer machen." "Und das kann nicht noch einen Tag warten?" "In unserer Welt nicht, Schneeflocke", erwidert er lächelnd. Na gut. Wenn es sein muss. Wahrscheinlich gibt es deshalb zwei Wohnzimmer im Haus. "Dann soll meine Mutter auch kommen." "Gebe gleich den Sicherheitsmännern Bescheid." Gut. Sie soll rundum geschützt werden.

"Ich hätte eine Frage", setzt Azad leiser an. Jetzt bin ich gespannt, was da auf mich zukommt. Meine Augenbraue hebt sich schon deutend, dass etwas auf mich zukommt, was mich mehr entgeistern als begeistern wird. "Falls wir in der Zukunft einen Schritt weitergehen wollen-," "Ich will immer noch keine Kinder", unterbreche ich ihn. Azad schaut mich einen Moment still an, bevor er einen weiteren Schluck nimmt. "Es geht nicht um Kinder, sondern um die Praktik, die dazu führt." Oh ... ach so. "Was ist damit?" Komisch. Wenn er Sex anspricht, erröte ich nicht, aber sobald er mir zu nah ist, drehe ich durch. "Ich wollte fragen, ob du verhüten möchtest oder ob ich auf Kondome zurückgreifen soll." Hm. Gute Frage. Keine Ahnung. "Fühlst du dich überhaupt bereit, mit mir zu schlafen?" "Ich hatte meinen ersten Orgasmus durch eine Waffe", erinnere ich ihn trocken. Er unterdrückt sich nur mit aller Mühe sein perverses Schmunzeln. Dieser kranke, alte Mörder. "Davor keine anderen Erfahrungen gemacht? Masturbation?" "Sei dein ganzes Leben lang depressiv verstimmt. Du hast nicht einmal Kraft, aufzustehen." Als hätte ich in der Zeit bei Nacht keine Sorgen gehabt, statt mich zu berühren. Vollidiot. "Jedenfalls", setzt er an, als er das Glas auf dem Couchtisch abstellt. "Hatten wir das Gespräch noch nicht und da du noch nicht sonderlich erfahren bist, würde ich gern wissen, ob du überhaupt gewisse Vorlieben besitzt und was du überhaupt nicht möchtest." Ich habe keinen Plan. Mein Kopf ist leer, außer eine Sache ...

"Du kontrollierst und dominierst nicht." Und das meine ich ernst. Keine Chance. Azads Lippen spalten sich. Ich sehe ihm seine Überraschung an, egal wie neutral er mich ansieht. Meine Augen bemerken das winzig kleine Anheben seiner Augenbrauen. "Willst du mich also dominieren?" So habe ich das nicht gemeint. Ich habe keine Ahnung, was ich tun soll, aber ... ich zucke trotzig mit meinen Schultern. "Also willst du mich beim ersten Mal dominieren?" "Was dagegen?", erwidere ich trocken. "Niemals." Dieses Schmunzeln sieht verdächtig dreckig aus. Und dafür, dass er so verletzt ist, kann er seine Hüften gut genug bewegen, um sich aufzusetzen. Ich werde es ihm zwar niemals sagen, aber er kann sehr gern diese Bewegungen zum neuen Aufsetzen jederzeit wiederholen. "Nur denke ich, dass du beim ersten Mal doch unsicherer sein könntest. Vielleicht weißt du nicht, wie du vorzugehen hast." Das wäre ein berechtigtes Argument, wenn mein fast zwei Meter großer, psychopathischer Ehemann nicht schon durch ein Buttermesser in meiner Hand zu erregen wäre. "Kriege es schon hin." "Wie du willst, Schneeflocke. Was ist mit der Verhütung?" Das weiß ich nicht. "Vielleicht das Stäbchen. Ich schau mal." Bis zum ersten Mal dauert es noch. "Gut. Wenn du bereit bist, machen wir einen Termin bei einer Gynäkologin und lassen dich beraten." "Was, wenn ich einen Gynäkologen will?", schmunzele ich ganz zu Azads Entgeisterung.

"Ich sperre die ganzen Gynäkologen, wenn es sein muss." So ernst wie er mich gerade ansieht, könnte ich mir vorstellen, dass es tatsächlich dazu kommen könnte. Na ja, nur vielleicht. Aber ob ich es riskieren will, dass viele Patientinnen plötzlich keinen Zugang mehr zu ihren Ärzten haben? Nein. Lieber nicht. Aber ich werde es wieder in Erwägung ziehen, ihn zu ärgern. Dafür sieht seine beleidigte Schnute zu süß aus. Und ich habe was zu grinsen. "Ich hoffe, mein Gemütszustand amüsiert dich und kein Gynäkologe in deinen Gedanken." "Steht davon nichts in der Akte?" Ich sehe das verstohlene Schmunzeln auf seinen Lippen, selbst beim Ausweichen meines Blickes. Er kann mir nicht lange böse bleiben und diese Tatsache sorgt für ein noch größeres Grinsen auf meinem Gesicht. Mein Herz schlägt wieder so erschreckend schnell, als ich auf ihn zu krabbele und mich über ihn stemme. Ich mag das. Mir gefällt das Gefühl der Schwerelosigkeit, sobald ich in seine Augen sehe. Ich spüre sein Lächeln auf meiner ganzen Haut. "Komm ruhig näher." "Nicht, dass ich dir wehtue." "Ich nehme die Schmerzen hin, wenn sie durch dich entstehen. Komm." Azads Hände erwecken seit neustem ein komplett anderes Gefühl auf meiner Haut. Sobald er meine Hüften berührt, kribbelt alles so verrückt. Sogar zwischen meinen Schulterblättern! Das ist wahnsinnig. Es ist unerklärlich, aber es genügt mir, weil ich Zufriedenheit spüre.

Wie schnell alles doch geht. Ich kann es immer noch nicht ganz realisieren. Seit dem März hat sich mein Leben komplett verändert. Ich hätte niemals gedacht, dass ich aus dem Kreis der Monotonie komme. Ich habe schon damit abgeschlossen, dass ich auf ewig in dieser Unzufriedenheit lebe. Es war schon eine Gewohnheit, meine Routine, mein Alltag. Hoffnungen gab es keine für mich. Hass und Schmerz. Das war die Beschreibung meiner Seele. Ich wäre niemals darauf gekommen, dass mein Leben so eine Wendung nehmen würde. Nicht einmal das Heiraten habe ich mir vorstellen können und jetzt lebe ich in einem großen Anwesen, sitzend auf dem Schoß meines Mannes, der mir zärtlich durch mein Haar fährt. Alles ist schön. Man könnte es sogar als perfekt definieren. Azads Blick fällt auf meine Lippen. Ich nicke, auch wenn er kein Wort sagt. Ich will einen Kuss. Ich sehne mich nach der Wärme seiner Lippen. Ich kann mich gar nicht halten, als ich meine Lippen auf seine lege. Kaum passiert es, spüre ich ein dehnendes Kribbeln im Brustkorb. Das Bedürfnis, aufzuhören und zu atmen, existiert nicht mehr. Kaum berühren seine großen Hände meinen Rücken und meine Hüften, verpufft alles. Als würde die Vergangenheit nicht mehr existieren und Einfluss auf mich haben. Als würde ich keine Bedrücktheit mehr verspüren und kennen.

Der Kuss lässt mich all das spüren, wofür ich in all den einsamen Nächten voller Sehnsucht geweint habe.

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Die Playlist: „Azad und Avin" ist auf Spotify jetzt öffentlich, aber noch nicht fertig.

- Helo

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