Kapitel 44
Wenn es ein Gefühl gibt, das ich nie verspüren wollte und mir beim besten Willen nicht vorstellen konnte, dann war es das Gefühl der Liebe und Zuneigung. Um ehrlich zu sein, habe ich mich sogar davor gefürchtet. Das Küssen kam nicht einmal infrage. Wie soll ich jemanden küssen? Ihm meine Liebe und Aufmerksamkeit schenken? Und jetzt? Jetzt muss ich mich zurückhalten, uns atemlos zu machen. Ich habe ihn tatsächlich geküsst. Es ist wirklich geschehen! Sein sanftes, großes Lächeln wirkt wirklich so, als würde er alles im Leben erreicht und erlebt haben, um in Frieden zu sterben. Seine Augen strahlen. Die Lachfältchen um sie wirken noch stärker als sonst. Gott, sieht er gut aus, wenn er lächelt. Azad legt tief brummend den Kopf in den Nacken, verliert sein schönes Lächeln dabei nicht - und ich auch nicht. "Ich bin wirklich der glücklichste Mann der Welt." Daraufhin schaut er mir wieder in die Augen. Er wirkt plötzlich so viel jünger und vitaler. "Sollte ich mich öfter verletzen lassen?" "Idiot." Ich verdrehe meine Augen. Meine Wangen schmerzen vom ganzen Lächeln, aber ich kann es nicht ablegen. Ich habe ihn tatsächlich geküsst. "Du kannst alles mit mir anstellen, solange ich einen Kuss kriege und ich hoffe, die nächsten Tage kriege ich welche. Immerhin bin ich krankgeschrieben und die Küsse meiner Schneeflocke lassen mich heilen." Ich grinse verlegen.
Mir fällt erst jetzt das fließende Wasser auf. Stimmt, da war ja was. Ich muss ihn waschen. Durch das Wasser hat eine gute Menge getrocknetes Blut von seinem Rücken die Keramik gefärbt. "Lass mich meine Arbeit verrichten." "Ich würde dich niemals dabei aufhalten. Ich hoffe, ein gewisser Arbeitsschritt wiederholt sich", betont er raunend. Ich bin kurz versucht, ihm wirklich noch einen Kuss zu geben, bin aber plötzlich so hyperaktiv, dass ich mich gar nicht konzentrieren kann und hoffe, dass das Spülen und Waschen mir hilft, herunterzukommen. "Wie genau kam es zur Auseinandersetzung?" Azad atmet tief durch, lässt sich Zeit mit der Erzählung, während ich ihm sanft die Brust wasche. "Du weißt ja noch das letzte Mal, oder? Als ich nach einem Mord nach Hause kam." Ich nicke. "Es war doch jemand, der für Sherzads arbeitete." Wieder nicke ich, kann mir jetzt schon denken, was passiert ist. "Ein Mitglied zu töten hat die Konsequenz, dass eines unserer Mitglieder getötet wird." Meine Augen weiten sich. Oh Gott! "Und sie wollten dich töten?" "Nein", beruhigt er mich. Azad legt seine Hand auf meine Wange, um meine Haut mit seinem Daumen zu streicheln. "Man geht nie sofort auf eines der Höheren. Das ist das Dümmste, was man machen kann. Nur hat er den dummen Fehler gemacht, überhaupt einen von uns anzurühren." "Du warst ganz allein?" Ich bin fassungslos! Azad hat Hilfe gebraucht! Ihm hätte alles Mögliche passieren können! "Ich bin nie allein. Meine Männer sind überall. Es ist nach der Arbeit passiert. Auf dem Weg zurück wurden wir von Autos umzingelt. Aras, Ayaz, Agir und ich. Das war nicht die erste und nicht die letzte Auseinandersetzung im Wald." Ich ... ich bin sprachlos.
"Und dann ging es los mit den Ansagen. Ihr habt unseren Mann getötet", macht er einen der hoffentlich nächsten Toten nach. "Wir haben schlichtweg mit der Wahrheit geantwortet. Sie haben angefangen. Sie wollten uns eine Falle stellen, haben unsere Autos sabotiert, also handeln wir entsprechend. Und dann ging es los. Der erste ging auf Ayaz los, Aras wollte sofort zur Hilfe eilen, wurde dann festgehalten. Die Details sind irrelevant. Agir hat einen Streifschuss abbekommen und einer unserer Sicherheitsmänner hat zwei von ihnen aus der Ferne ausgeschaltet. Danach sind sie geflohen und ich befinde mich wieder in Sicherheit." Was wäre nur passiert, wenn der Sicherheitsmann nicht diese Arbeit geleistet hätte? "Du gehst nicht mehr aus dem Haus!" Es fehlt noch, dass er stirbt! Gott, bin ich wütend. Ich hasse diese versifften Männer mit Gotteskomplexen! "Hast du mit der Dreckstochter geschlafen?" Oh, diese Mundwinkel gehören aufgeschlitzt! Was zucken sie so belustigt?! "Azad!" "Ich habe es nicht getan! Sie wollte es aber." Diese kleine Hure! Ich will beide umbringen! "Alles nur wegen dieser Schlampe! Pack mich mit ihr in einen Raum ohne Fenster und sie wird sehen ... was guckst du so?" Azad schaut mich wie der verliebteste Mann dieser Welt an. Als würde ich gerade keine Drohung aussprechen, sondern ihn mit Liebe überschütten.
"Mir gefällt es, dich so lebendig zu sehen. Es ist schön. Vor allem deine indirekte Eifersucht." Eifersucht? "Du kannst froh sein, dass ich noch Mitleid bei deinem desolaten Zustand habe, sonst würdest du deine erste wirklich lebensbedrohliche Erfahrung machen!" Ich halte inne, als er sich plötzlich meinem Gesicht nähert. "Und ich würde sie genießen", raunt er gegen meinen Mund. "Du bist die Folter, der ich mich täglich und stündlich aussetzen möchte. Du machst mich verrückt, Avin." Ich ... mir wird warm. Zwar habe ich ihn noch vorhin geküsst, aber trotzdem bin ich eine Anfängerin der Emotionen und Liebkosungen. "Mach mit mir, was immer du dir vorstellst. Ich genieße selbst deine eiserne Kälte." Ich will etwas ansetzen, verstumme aber bei dem keuschen Kuss auf meine Lippen. Ich bin verdutzt und verdattert. Azad hingegen lehnt sich zufrieden zurück und setzt meine eigentliche Aufgabe des Abspülens fort. Jetzt hat er mir einen Kuss auf den Mund gegeben. Das fühlt sich anders an. Es kribbelt im Bauch. Ich fühle mich baff, obwohl ich ihm doch einen langen Kuss zuerst gegeben habe - sogar mit Zunge! Aber ... keine Ahnung. Mich hat noch nie ein Mann auf den Mund geküsst und obwohl das keinen Sinn ergibt, weil ich doch diejenige war, die hier und jetzt den ersten Schritt gewagt hat, war sein Kuss noch einmal eine große Schippe für meine Sammlung an Erfahrungen. Das war ... wow. Er war schön, so kurz er auch war. Er war süß, erfrischend und belebend. Ich mochte es. Ich will mehr.
Der Verlauf gestaltet sich verwirrend. Verwirrend, weil ich mich einerseits nicht mehr konzentrieren kann, aber auf der anderen Seite alles intensiver wahrnehme. Ich arbeite prägnanter, um seine Haut zu reinigen, nehme jede kleine Bewegung an seiner Brust wahr, wenn ich über sie fahre. Er ist erschreckend attraktiv. Es gefällt mir, wie ruhig er atmet, mich mit aller Geduld bei meiner Arbeit beobachtet. Selbst seine Oberschenkel und die Falte, die sich beim Sitzen auf seinem tätowierten Bauch bildet, sind gefährlich verführend. "Wir können immer noch raus, wenn du möchtest." "Ist das denn sicher?" "Sie haben zwei Männer weniger. Mal schauen, wann ich den nächsten töte." Hm. Draußen ist es schon schön. "Können wir dort schlafen?" "Was immer du willst, Schneeflocke. Ich bin es dir schuldig, dafür, dass ich dich heute enttäuscht habe." Ich habe sogar geweint deshalb. "Passt schon." Ich hoffe einfach, dass ich mir nie wieder den Kopf darüber zerbrechen muss. Jetzt, wo ich eines Besseren belehrt wurde. Ich shampooniere sein Haar doch zweimal, beende das Waschen aber und helfe ihm aus der Wanne, um ihn abzutrocknen. Erst den Oberkörper, als ich mich vorbeuge - und er findet natürlich Gefallen daran und fummelt an den Schnüren des Oberteils - und dann seine Beine. Ich muss dafür knien und Azad ist bescheiden und glücklich zugleich.
"Ist es möglich einen Vertrag zu schließen, dich öfter in dieser Position betrachten zu dürfen?" Mein Blick hebt sich warnend. "Willst du eine Bissverletzung?" Azad beißt sich grinsend auf seine Unterlippe. "Ich glaube, am Oberschenkel würde sie mir gefallen." Oh Gott. Ich werde wohl nie begreifen, dass meine Drohungen seine Sexfantasien füllen. "Hoch mit dir!" Seine Boxershorts können wir später wechseln. Erst muss ich diesem 110-Kilo-Mann ins Wohnzimmer tragen, ihn an die Ringerlösung schließen und Essen, Trinken, Decken und Kissen zum See bringen. Draußen erfrischt mich die kühle Abendluft. Um mich herum höre ich das Zirpen der Heuschrecken und Grillen. Das Licht der Laternen, das bei Bewegung erhellt, glitzert auf dem See. Ich freue mich. Ich will hier am liebsten ein Bett haben. Matratzen! Ich muss noch welche aus dem Lager holen. Sie sind etwas dünner, aber es reicht, um uns zu versorgen. Ich nehme drei Stück, breite sie alle ordentlich aus und gehe wieder zurück zu Azad ins Wohnzimmer, der unseren Kätzchen dabei zusieht, wie sie den Infusionsständer attackieren. Ich will sie mit nach draußen nehmen, aber ich habe Angst, dass sie entlaufen oder in den See fallen. Ich bin übervorsichtig, wenn ich sie in den Garten lasse - und das nur, wenn ich mit ihnen dort bin. Ich schneide noch zwei Stücke Kuchen für ihn und mich an, die wir essen können, solange die Infusion noch läuft. Es ist immerhin ein Liter, der seine Vene passieren muss. Das Wohnzimmer sieht chaotisch aus. Essen, ein verwundeter Mann, eine Waffe, medizinische Ware und ein Essenswagen.
"Danke." Azad nimmt mir beide Teller ab, damit ich mich hinsetzen kann. "Hattest du Angst zu sterben?" Mag sein, dass die Frage nicht zur Stimmung passt, aber sie kam so plötzlich in meinem Kopf auf. Ich will es wissen, noch bevor Azad das kleine Stück Kuchen zu seinem Mund führt. "Nein", setzt er an, bevor er die Gabel zu seinen Lippen bewegt, die ich wieder küssen will. "Bei den ersten Erfahrungen hat man Angst. Es ist eine harte Zeit, die man durchstehen muss. Mit den Jahren gewöhnt man sich daran und ob es gut ist, dass man keine Angst hat zu sterben oder nicht, weiß ich nicht. Jetzt aber habe ich wieder Angst." Oh, damit habe ich nicht gerechnet. Azad kaut zu Ende, als er seinen Blick voll und ganz zu mir wendet. Wie schön hell seine Augen wirken und wie perfekt seine Wimpern das Eisblau umranden. "Ich habe Angst, dich alleine zu lassen." Oh ... meine Brust fühlt sich augenblicklich schwerer an. "Ich habe nur ein Bruchteil deines Leids gesehen und ich wusste, dass ich dir helfen muss. Wenn ich sterbe, wer kümmert sich dann um dich? Du schon wieder? Nein, das kann ich nicht zulassen." Wenn ich sterbe, wer kümmert sich dann um dich? Das ist seine Sorge, während er in Lebensgefahr schwebt? Das ... das ist unbeschreiblich schön. Ich dachte, niemand außer meine Eltern, würden solche Sorgen hegen. Ich weiß nicht, wie ich damit umzugehen habe, so schön es auch ist. Es ist das, was ich immer wollte. Doch nur weil ich es mir immer herbeigesehnt habe, habe ich mir nie die Zeit genommen, mich auf die Verarbeitung dessen vorzubereiten. So monoton wie mein Leben einst war und so pessimistisch mein Charakter ist, habe ich auch nicht kommen sehen, so eine Möglichkeit zu erhaschen.
Ich nage wortlos am Stück Kuchen auf meiner Gabel, senke meinen Blick voller innerlicher Überwältigung. Er kümmert sich um mich. Ich stehe im Fokus. Das sollte mir schon vorher klar gewesen sein, aber es noch einmal wirklich zu hören, trifft mich anders als ich erwartet habe. Vielleicht bin ich aber auch nur zu emotional wegen des Kusses. Es war unser erster Kuss. "Komm her." Ich lasse es mir nicht zweimal sagen, als er seinen Arm ausstreckt, um mich an sich zu ziehen. Ich brauche das. Ich brauche es so sehr und als ich spüre, wie er mir einen Kuss aufs Haar setzt, könnte ich schwören, dass ich eine Träne deshalb vergießen könnte. "Dilnias Geburtstagsplanungen müssen wohl noch ein wenig warten", seufzt er. Die Arme muss sicher selbst erst den Schrecken verdauen. Wahrscheinlich werden die Tage nach Azads Genesung wieder mit Besprechungen innerhalb der Familie gefüllt sein. Aber darum soll es sich jetzt nicht drehen. Jetzt geht es nur um ihn und um mich, wie wir sitzen, Kuchen essen und unsere Kätzchen dabei beobachten, wie sie aufs Sofa klettern und sich hinlegen. Meine Galerie ist von hunderten ihrer Fotos gefüllt und ich weiß, dass mein Speicher darunter leiden wird, aber sie sind zu knuffig! Die pinken und rosa Pfötchen und ihre Schnuten! Manchmal sieht man ihre Zungenspitze, wenn sie schlafen. Sie sind zu süß! Ich will mehr. Aber vielleicht sollte ich mich erstmal um Namen kümmern. "Wir müssen noch zum Tierarzt." "Machen wir. Hast du schon Namen für sie?" Das ist das Problem. Spätestens, wenn wir sie impfen lassen, brauche ich Namen.
"Die graue nenne ich Thunfisch und den getigerten Pisho." "Thunfisch und Pisho?" Azad schmunzelt mich amüsiert an. "Ich bin katastrophal, was Namen angeht, aber Thunfisch passt wirklich zu ihr." "Finde ich auch." Azad schaut zu unseren kleinen Kindern, die sich zu kleinen Bällen geformt haben. Gott, ich will sie erdrücken! "Du scheinst bei ihnen ja richtig aufzugehen. Da kann man sich gar nicht vorstellen, dass du Kinder hasst." "Katzen kannst du nicht mit nervigen Blagen vergleichen. Thunfisch und Pisho werden keinen Schreianfall im Supermarkt kriegen oder herumheulen, weil irgendetwas nicht so passt, wie sie es wollen. Ich habe keinen Kopf dafür." "Möchtest du also wirklich niemals Kinder?" "Nein." Ich sehe das kleine Zucken seines Mundes und ich weiß, dass ihm die Antwort nicht gefällt. "Lieber mehr Katzen?" "Wäre optimal." Er lächelt kurz, drückt mich wieder an sich. Ich merke, dass er nicht glücklich mit meiner Antwort ist. Das ist eben die Konsequenz, wenn er mit mir zusammen ist. Ich will keine Kinder. Die Wahrscheinlichkeit, dass ich doch eins will, ist sehr niedrig. Dafür bin ich zu sehr von den ganzen Veränderungen abgeneigt, die ich als Schwangere durchmachen muss. Ich habe schon dünnes Haar, dann noch unter Haarausfall zu leiden, irgendwann nicht mehr auf dem Bauch schlafen zu können, wieder Körperhaare zu kriegen, obwohl ich gerade mit den Laserterminen das Gegenteil versuche, zuzunehmen und weiß Gott noch alles? Nein, danke. Im Leben nicht.
"Es ist besser für uns. Wir haben mehr Zeit und Ruhe." "Ich weiß." "Und mit dem Lebensstil ist es sowieso fraglich, sowas in Erwägung zu ziehen." Azad summt verneinend. "Immerhin hat es der Rest meiner Familie auch hingekriegt." "Richtig. Schau dir mal die Konsequenzen an. Dilnias Sorgen unter anderem und dein Zustand." "Da hast du recht." Er hält mir ein Stück Kuchen hin. Der ist ihm wirklich sehr gut gelungen. "Ich habe mir aber trotzdem immer einen Sohn oder eine Tochter vorgestellt." Tja. Wird wohl nichts. Genug dazu. Ich räume schon mal auf, bringe unser Geschirr weg und kann den Mörder auch schon abstöpseln und den Zugang wieder abkleben. "Ab mit dir", ächze ich, als ich ihn hochziehe. Sein Körper ist wärmer als sonst. Nicht, dass er Fieber kriegt. Es besteht immerhin die Wahrscheinlichkeit, dass es zur Infektion der vielen Wunden kommt. Das muss ich die nächsten Tage gut beobachten. "Nimm meine Waffe bitte mit." Stimmt. Wir schlendern den Flur entlang zur Haustür, an der Azad seinen Männern Bescheid gibt - mich dabei bedeckt - und wir über die Terrasse zum See laufen. Dabei fällt mir eine Sache ein, die ich vergessen habe. "Ich habe keine Schlafsachen geholt." "Ich schlafe sowieso in Unterwäsche und meine Sicherheitsleute wissen, wie sehr ich meine Frau liebe." Wie sehr ich meine Frau liebe. Ich habe das Bedürfnis zu kreischen und ihn gleichzeitig zu erwürgen. "Ich kann auch in dem Zweiteiler schlafen. So lang ist er nun auch nicht." "Ich habe nie etwas gegen meine Frau in Unterwäsche." "Ruhe", erwidere ich trocken.
Meine Vorfreude wächst mit jedem Schritt zu unserem Platz. Die Laternen leuchten schon, es weht ein leichter Wind und seine Finger zeichnen sanfte Kreise auf mein Schlüsselbein. "Du hast es schön angerichtet, Schneeflocke." "Ist okay", erwidere ich. Es reicht, um mich zufriedenzustellen. Azad federt sich mit seiner Hand auf der Matratze ab, als ich mich runterbeuge, zieht mich dann zu sich und schlingt seine Arme um meinen Rumpf. Seine Brust ist warm und weich. Ich sehe sogar die Schatten seiner Brustmuskeln auf seinem Bauch. "Wann musst du zum Röntgen?" "Ich lasse mir Zeit. Erst will ich ausschlafen und in Ruhe mit meiner Frau frühstücken. Wenn ich Glück habe, weckt sie mich mit einem Kuss." Mit einem Kuss. Er kann sich zu einer bestimmten Wahrscheinlichkeit sicher sein, dass ich ihm einen Kuss gebe, während er schläft. "Oder mit einem Kissen auf deinem Gesicht." "Ich bevorzuge ihre Haut und ihr Gewicht." "Oder ihr Messer." "Ja", raunt er in mein Ohr. Ich zucke murrend zurück. Ich vergesse seine Fetische immer! "Willst du mir wirklich sagen, dass dich ein Messer gegen die Kehle erregt?" "Wenn du nur wüsstest, Avin." Azad schaut zum Himmel hoch, während seine Finger meine Schulter kraulen. "Wenn du nur wüsstest", murmelt er. Was geht in seinem Kopf ab? "Sag." "Was möchtest du wissen?" "Deine Fetische." Dieses kleine Schmunzeln heißt nichts Gutes. "Du weißt doch sicherlich, dass ich auf Waffen beim Akt stehe." "Das ist aber nicht alles." "Wahrlich, Schneeflocke." Wieso redet er nicht darüber? "Sag schon!" "Das wird sich für dich absurd anhören." "Deine gesamte Person ist absurd. Sag jetzt endlich!" Wie anstrengend kann ein Mann nur sein?
Azad atmet tief durch und schon wieder sehe ich dieses kleine Schmunzeln auf seinen Lippen. "Ich habe eine kleine Vorliebe. Nennen wir es Beute-Jäger-Spiel." Beute ... Jäger. Oh, nein! "Du schießt mich nicht an, du gestörter-," "Nein", unterbricht er mich amüsiert. Was ist bitte so lustig? "Sag es endlich!" Dieser Mann regt mich auf! "Ich will dich fangen, Avin." ... was? Er schaut zu mir. Seine Pupillen sind merklich geweitet. "Ich will dich in eine Ecke drängen. Mich turnt deine Angst an." "W-was", setze ich verdutzt an, verstumme aber überfordert, als er sich auf die Seite rollt. Mein Herz schlägt schneller, als er seine Hand neben meinen Hals abstützt. Ich muss ruhig bleiben. Ganz ruhig. Mein Herz schlägt aber trotzdem viel schneller. "Ich will dich einfangen, Avin. Mit meinen Händen. Ich will spüren, wie du dich versuchst zu wehren, während ich dich festhalte-," "Das ist Vergewaltigung!" "Nein, tatsächlich nicht, meine Schneeflocke." Was redet dieser Typ da? Ich reiße gleich die Nähte seiner Schulter auf! "Alles passiert einvernehmlich." Azad senkt sein Gesicht zu mir hinab und weil ich so überfordert bin, greife ich nach dem Handgelenk neben meinem Hals und warnend seine verletzte Schulter, doch dieser Psychopath grinst nur. "Du wehrst dich nur in dem Moment, in dem ich dich fange. Sobald ich deine Handgelenke gegen den Baum-," "Was für einen Baum?", blaffe ich. Will er mich im Wald aufhängen oder was? "Es kann auch eine Wand sein, aber ich finde es angenehm, ein wenig zu suchen, bevor ich dich kriege." Er senkt seinen Kopf ein weiteres Stück tiefer. Weil ich jedoch abgeneigt von der Vorstellung bin, drehe ich meinen Kopf weg von ihm, unterdrücke jedes Erschaudern bei der Hitze und seinen Haaren, die ich an meinem Hals spüre.
"Bis ich dafür sorge, dass du unter meinen Berührungen schmilzt." "Ich werde gar nichts machen!" Der spinnt doch! "Mhm", summt er gegen meinen Hals, als Zeichen dafür, dass er mir kein Stück glaubt. "Du erschauderst." Vollidiot! "Weil ein 110 Kilogramm schwerer Mörder auf mir liegt." "Dir gefällt dir Vorstellung." "In meiner Vorstellungen passieren andere Dinge mit dir!", zische ich ihn an, als ich ihn von mir drücken will, aber dieser gestörte Mörder brummt nur zufrieden und lässt sein komplettes Gewicht auf mich fallen! "Azad!", ächze ich. "Du bist bequem." "Du aber nicht!" "Tut mir leid. Das stand nicht in der Akte." Ich pruste, bevor ich ihn beleidigen kann und stimme mit ihm in sein sanftes Gelächter. Ich mag den Moment. Er ist so schön und unbeschwert, obwohl wir ein Chaos bewältigt haben. "Tut dein Körper nicht weh?" "Meine Rippen, aber ich mag den Schmerz. Der vergeht." Ach so. Na gut. Ich tätschele seinen breiten Rücken. "Deine Unterhose ist noch nass." "Ich kann sie ausziehen, wenn es dich stört." Gott, ich muss wieder daran denken, wie er nackt aus dem Badezimmer kam, als er dem ersten gefundenen Mitglied die Hand abgehackt und seinen Körper in Formalin gelegt hat. "Lass sie an", warne ich ihn, auch wenn ich verstörender Weise an seinen knackigen Po denken muss, den ich nur vage in Dubai unbedeckt gesehen habe. Wie es den Anschein hat, bin ich nicht gemütlich genug für dieses Riesenbaby, sodass er ein Kissen unter sich platzieren muss. "Gemütlich?" Er brummt.
Wir verfallen in ein Schweigen. Ein angenehmes Schweigen. Es ist schön frisch, sodass mir seine Körperwärme nichts ausmacht. Es leuchten so viele Sterne am Himmel, dass ich das Gefühl habe, sie verdoppeln und verdreifachen sich, sobald ich sie zählen will. Azads Haarschopf verbirgt mir den Anblick seines schönen Gesichtes. Ich spüre nur sein Atmen an meinem Hals. Und jetzt muss ich wieder an den Kuss denken. Ich habe ihn wirklich geküsst. Und ich bereue es tatsächlich nicht. Es kommt mir gerade verrückt vor, wie ich nachts vor Wut neben ihm nicht schlafen konnte, die plötzlich aufkam, weil ich verunsichert von meiner zögerlichen Wärme tagsüber war. Es ist schwer, die eigenen Gewohnheiten zu brechen, die einem zum Schutz dienten. Im Nachhinein tut es mir leid, so eine Wut gehegt zu haben, während er zufrieden neben mir oder mit mir in seinen Armen schlief. Er hat das nicht verdient und doch hat er tapfer durchgestanden und sich nicht unterbringen lassen von meiner Kälte. Es war ein guter und wichtiger Schritt. Essenzieller als die sexuellen Erfahrungen, die ich weniger intim finde als den Kuss. Mein erster Kuss. An meinem Geburtstag. Verrückt. Ich verlor meinen ersten Kuss an meinem 24. Geburtstag. Mit 24 darf ich Medizin studieren. Dank ihm. Alles dank ihm. Dank ihm darf ich leben und Ruhe haben. Dank ihm darf ich endlich erfahren, dass Gefühle auch Gutes in einem auslösen können. Dass man schöne Erinnerungen damit verknüpfen kann.
"Wird es morgen nur das Röntgen sein?" Keine Antwort. Azad ist eingeschlafen. Dieser Mann liebt Schlaf wie nichts anderes auf dieser Welt und kann innerhalb fünf Minuten die Phase eines narkotisierten Patienten erreichen. Unglaublich! Ich versuche sein Gesicht aus dieser Lage zu erblicken, schaffe aber nur seine geschlossenen Lider zu erkennen. Und doch beruhigt mich der Anblick. Ich mag es. Es fühlt sich so an, als würde ich über ihn hüten. Als würde er nur an meiner Brust Ruhe finden. Er zeigt die Zuneigung, die ich nicht offenlegen kann. Wie wird der Morgen? Wird Azad mir noch einen Kuss geben, jetzt, wo ich ihm indirekt die Erlaubnis gegeben habe? Wie wird unser Verhältnis? Werden wir schnell inniger? Werden wir uns oft küssen? Ich denke nicht, dass das ein Problem wäre. Ich strecke mich einmal vorsichtig, lege dann meine Arme um meinen verwundeten Mann, der im Tiefschlaf ist. Ich sollte uns zudecken, so angenehm frisch es auch ist. Ich kann gar nicht fassen, dass sich so viele Träume von mir so schnell erfüllen. Einer davon passiert genau jetzt. Ich liege mit einer Person zusammen, die mir das Gefühl des Schutzes und der Geborgenheit vermittelt und so sehr ich mich nach Liebe gesehnt habe, war ich vom Weg dahin abgeneigt. Ich bin es immer noch. Es ist ein unerforschtes Territorium. Ich habe keinerlei Erfahrung, auch wenn ich wahrscheinlich mehr Schlüsse bei Dijans gescheiterten Beziehungen gezogen habe als sie selbst. Ich bin abgeneigt und doch liege ich hier mit einem Mann auf meiner Brust, der alles tut, um mich glücklich zu sehen.
Ich fahre lächelnd durch sein Haar. Dieser Vollidiot lässt mich zu oft ungewollt lächeln. Mein Bauch bebt allein bei dem Gedanken daran, morgen wieder Komplimente von ihm zu hören und ich freue mich schon darauf, ihn als Schleimer zu betiteln. Und ich freue mich auf seine Berührungen. Anfangs wollte ich mich gar nicht daran gewöhnen, aber jetzt möchte ich mir meinen Gemütszustand gar nicht vorstellen, ohne sein tägliches Tätscheln, das Zusammendrücken meiner Wangen und seine komischen Fantasien. Es ist eine verrückte Beziehung. Es hat spezielle Turbulenzen, aber so gefährlich und verstörend sie auch sind, gefallen sie mir. Ich will das. Ich mag das. Seitdem fühle ich mich lebendig. Seitdem habe ich das Gefühl, endlich mein Leben zu leben. Ich darf Erfahrungen sammeln, Erinnerungen abspeichern, die ich irgendwem mal erzählen kann. Ich habe endlich jemanden, dem ich sofort meine neusten Ereignisse erzählen kann, ohne warten zu müssen. Dijan ist da auch aktiv, aber es gab oft Momente, wo schon erst am nächsten Tag etwas kam und dann hatte ich keine Lust mehr, es weiter auszuführen. Jetzt ist es aber vorbei. Jetzt ist er da.
Jetzt, wo ich seine Liebe ein kleines Stück durch den Weg meines Herzes lasse.
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