Kapitel 43
"Oh mein Gott!" Azad! Ich renne auf ihn zu, überfordert mit seinem katastrophalen Zustand. Er blutet. Er hält sich die Hand an seine linke Schulter gepresst. Azad sieht überhaupt nicht gut aus. Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll. Hätte ich es doch in Erwägung gezogen, das FSJ oder Pflegepraktikum während der Ausbildung in der Notfallambulanz zu machen, wüsste ich wahrscheinlich besser, wie ich das hier handhaben soll. Meine Hände zittern, als ich sie unwissend unter seine Arme lege. Azad atmet röchelnd. Sind seine Rippen gebrochen? "Was ist passiert?" Ich Idiotin! Es ist offensichtlich, was passiert ist. Ich bin aber überfordert. Ich war gerade noch aufgebracht und jetzt unterdrücke ich jegliche Hysterie. "Ich habe deine Blumen im Auto vergessen", murmelt er. Ich bringe ihn gleich um! "Komm!" Ich schaue mich überfordert im Flur um, entscheide mich dann, ihn in das Gästebad zu bringen, als er dann aber ins Wohnzimmer lenkt. "Gleich. Ich habe die Ehre, dein erster Patient zu sein." Mein erster Patient? Ich habe keine Ahnung! Ich habe mir vieles angelesen und einiges schon gesehen, aber ich habe noch nie ein Polytrauma behandelt! Vor lauter Angst, dass er noch zusammenbricht, umschlinge ich ihn von der Seite, um ihn bestmöglich zu entlasten, bis er seine Waffe auf den Tisch wirft und sich seufzend auf das weiche Sofa fallen lassen kann. Und jetzt? Wo sind Jamal und die anderen? Und wieso schmunzelt dieser gestörte Mann jetzt?!
"Was?", blaffe ich. Das ist überhaupt nicht lustig! "Du siehst süß aus, wenn du besorgt bist." "Azad, ich schlage dich gleich!" Wie kann er in diesem Moment noch schwärmen? "Gleich, bitte. Es wäre lieb, wenn du den ersten Wandschrank im Essbereich öffnest." Azad nickt verdeutlichend zur Wand mit den schwarzen Holztüren, zu denen ich eile. Die erste Tür ist doch die Linke, oder? Ich öffne sie, finde ein ganzes Lager an medizinischen Utensilien. "Bring bitte zuallererst eine Flasche NaCl mit Infusionsbesteck und Ständer." Ich habe noch nie einen Zugang gelegt. Woher soll ich das wissen? Ich schaue mit großen Augen zu ihm. Ich muss handeln! Warum bin ich aber so emotional plötzlich? Ich habe oft während des FSJ und Praktikums leidende Menschen gesehen und es hat mich nicht überfordert oder ist mir nahegegangen! Ich reiße mich zusammen, nehme all das Aufgesagte und auch Kompressen, Antiseptikum und ganz spontan, weil es mein Blickfeld kreuzt, Wundnahtstreifen, trotte angestrengt zu ihm und lasse alles aufs Sofa fallen. Handschuhe! Gott, wie blöd bin ich eigentlich? Wäre das eine Situation im Medizinstudium, hätte ich mich bis auf die Knochen blamiert. Ich renne wieder zurück zum offenen Schrank, reiße eine komplette Packung Nitrilhandschuhe in S raus sowie mehrere NaCl-Spülspritzen. Mein Herz schlägt zu schnell und zu fest. Azads Gesicht ist mit Schrammen bedeckt. An seiner geschwollenen Unterlippe klebt getrocknetes Blut. "Ein gutes Spiel, zum Reinkommen, Schneeflocke. Wir beginnen mit der Anamnese." "Azad", warne ich ihn, doch er lacht nur leise auf, beginnt aber augenblicklich zu husten. Mir wird heiß.
"Sag mir jetzt endlich, was passiert ist." Ich zerreiße das schon ramponierte Hemd an seinem Arm auf, taste eines der hervorstechenden Venen an seiner Armbeuge ab. Ich habe einen Spritzenschein. Ich kann das. "Eigentlich ein gewöhnlicher Tag", setzt er an, als ich die Handschuhe anziehe und seine Armbeuge desinfiziere. Eigentlich hätte ich mir auch meine Hände desinfizieren müssen! "Weiter." Ich reiße das Infusionsbesteck aus der Verpackung, drücke den Einstichdorn durch die Membran der Infusion und drehe an der Rollklemme. "Du machst das sehr gut, Sch-," "Rede, habe ich dir gesagt!" Ich drehe durch mit diesem Mann! Er lässt sich ja nicht einmal von den Schmerzen beim Lachen abbringen. Und mein gestörter Körper kribbelt deshalb! Die Infusion ist fertig, die Rollklemme wieder zugedreht. Jetzt fehlt nur noch der Zugang. Ich habe das noch nie gemacht. Blut habe ich das eine oder andere Mal abgenommen - an mir selbst. "Nimm die grüne Kanüle. Ich muss mein Auto reinigen lassen." Scheiße, wie viel Blut hat er verloren und wieso kann er so entspannt sein? "Wie viel Blut hast du verloren?" "Eine gute Menge. Sobald es zum Adrenalinabfall kommt, wird mir schwindelig. Aber in deinem süßen Outfit wird mein Herz noch lange und schnell pumpen." Ich bringe ihn um! "Die nächste Verletzung wird durch meine Hände folgen!" Seine Augen rollen nach hinten, als er den Kopf in den Nacken legt. Scheiße! Azad! Mein Herz! "Avin", stöhnt er auf. Meine Augen weiten sich, als er seine Hüften fürs neue Aufsetzen anhebt. Was zum?! Will mich dieser Mann komplett verarschen? Ich bringe ihn um! "Mach mich nicht verrückt. Ich kann meine Schulter nicht richtig bewegen und über dich herfallen." Genug! Ich rede nicht mehr mit ihm. Dieser Mann spinnt! Arbeiten. Einfach pragmatisch arbeiten. Ich mache mit meiner amateurhaften Arbeit weiter, kann direkt neu desinfizieren, weil mehr als 15 Sekunden vergangen sind und lege endlich den Stauschlauch um seinen Oberarm.
Der Rest liegt bereit. Der Einstichwinkel liegt bei 45 Grad und dann muss ich ihn abflachen. Die Vene sticht jetzt stärker hervor. Der Schlauch kann ab - etwas, was viele nicht tun und was im Labor des Öfteren zu anderen Werten geführt hat, als auf Station erwartet. Ich überwinde den Widerstand. Ich bin drin. Jetzt nur noch abflachen, Mandrin durchschieben, Kanüle raus und zuschrauben, bevor Blut austritt. Okay! Das war richtig - glaube ich. Den Müll schmeiße ich auf den Tisch, schließe den Anschlusskonnektor an, nachdem ich die Verschlusskappe wieder abnehme und kann endlich mit dem Aufrollen der Klemme die Flüssigkeit ablaufen lassen. Ich habe es geschafft! Meine Hand zittert zwar immer noch, als ich die Infusion an den Ständer hänge, aber ich kann endlich durchatmen. "Perfekt, Schneeflocke. In deinen Händen kann man sich nur sicher fühlen." "Ich bringe dich um. Warte einfach nur ab", flüstere ich zittrig. Ich zerreiße das kaputte Hemd weiter, bis ich den Ärmel zu seinem Handgelenk runterziehen kann. "Hast du dir etwas gebrochen?" "Ich weiß es nicht. Fühlt sich gerade nicht so an." "Messer durch die Schulter?" "Als wäre es mein erster Tag", schmunzelt er. Krank. Einfach nur krank. Ich nehme mir die Spülspritze zur Hand, halte sie verdeutlichend hoch, weil er der Erfahrene von uns ist und reiße sie nach dem finalen Nicken aus der knisternden Verpackung, um die Wunde zu spülen. "Das muss genäht werden." "Ich habe die Ehre, von meiner privaten Ärztin genäht zu werden." Ich soll nähen?! Im Leben nicht! "Ich habe das noch nie-," "Irgendwann musst du es tun. Keine Angst." Aber ... oh Gott. Es kann so vieles schiefgehen!
Die Leukoplast-Pflaster beruhigen mich, weil ich weiß, dass sie auch wirklich halten. "Noch nicht." Azads Hand legt sich auf meine. "Es wäre mir eine Ehre, wenn du mir hilfst, meinen Körper zu waschen. Mein Blut klebt mein Hemd an meinen Rücken." Oh, ja! Natürlich. Stimmt. Wie konnte ich das vergessen? Ich nicke. Hat er starke Schmerzen? Hat er Hunger? Unsinn! Bin ich komplett dumm? In dieser Lage hat er keinen Hunger - und ich auch nicht mehr. Er ist verletzt. Stark verletzt. Ich ziehe ihm die Schuhe aus, taste seine Beine nach potenziellen Brüchen ab, aber außer Schrammen finde ich nichts. Ihm hätte weiß Gott alles passieren können. Wieso habe ich das nicht bedacht? Ich fühle mich ein kleines bisschen schuldig. Er hat sogar an Blumen gedacht und ich dachte, er hätte mich vergessen. Ich hätte mir mehr Sorgen um ihn machen sollen. Das ist gerade belastend für mich. Ich spüle und desinfiziere weitgehend alle Wunden, die ich mit wasserfesten Bandagen abklebe. Azad besitzt sogar diese schicken, transparenten Bandagen, die keine extra Wundauflage brauchen und atmungsaktiv sind, weil sie so dünn wie die eigene Haut sind. Man könnte meinen, es wäre nichts auf seiner Haut, als ich das Material glattstreiche. "Das Essen kommt gleich. Du hast sicherlich sehr starken Hunger." Wenn ich wieder daran denke, wie ich alleine frustriert in der Küche saß und jetzt den Grund vor Augen habe, steigen mir ungewollt einige Tränen beim Nicken auf. "Tut mir leid." Wenn er nur wüsste, wie emotional es mich macht, dass er meine Wange hält. Ich kann nicht anders, als mich an sie zu schmiegen. Ich habe das gerade zu nötig. "Mir auch", murmele ich.
Azad versteht nicht, was ich meine. Absolut verständlich. Es ist mir unangenehm, es zuzugeben, jetzt in dieser Situation. "Ich dachte, du hast mich vergessen. Ich war sauer." Auf seinen schönen, verletzten Lippen tritt sofort ein sanftes Lächeln auf. "Ich vergesse mich, aber niemals dich. Entschuldige dich nicht." Ich hasse das Gefühl der Scham und Reue, die in mir heraufkriechen, sobald ich nicht mehr in der Irrationalität meiner Wut gefangen bin. Ich hätte mehr Geduld haben sollen. Ich weiß doch, wie schwer sein Leben ist. Ich kann mein Trauma nur schwer lenken, wenn ich wieder emotional bin. Und jetzt gerade bin ich es wieder. Ich bin kurz davor, zu weinen, lenke mich daher mit dem Sortieren der ganzen Sachen auf dem Tisch und Sofa ab, um mir heimlich die Tränen wegzuwischen. "Oben im Schrank sind Nadel und Faden, Schneeflocke. Die Wunde an der Schulter ist zu tief, um sie abzukleben. Es ist keine Arterie getroffen worden, also ist keine Klemme notwendig." Ich hätte auch keine Arterie finden können. Großer Gott, was hat er schon alles durchgemacht? "Da findest du auch die Nadelhalter und Hautpinzette." Keine Ahnung, wovon er da spricht. Ich greife einfach wahllos nach sterilen Dingen, halte sie hoch, wenn ich keine Ahnung habe und darf dann mit den richtigen Sachen zurück. "Ich werde dich nicht betäuben", warne ich ihn vor. Ich habe absolut keine Ahnung von Anästhesie und ich riskiere es auch nicht. Azad hebt beschwichtigend die Hand. "Ist nur eine kleine Wunde an der Schulter." "Nur!", spotte ich. Das Ding blutet immer noch!
"Also, Schneeflocke. Sagt dir die Einzelknopfnaht was?" Ich nicke. "Gut. Schon mal gesehen, wie es jemand gemacht hat?" "In einem Video." Und das ist auch eine gute Weile her. Azad nickt lächelnd. "Dann spiele ich den Mentor. Hol den Nadelhalter raus." Ich tue es, halte den Griff dann in seine Richtung, als seine Hand schon deutend danach greifen will. Er zeigt mir, wie ich sie halten soll, um eine gute Kontrolle über alle Richtungen zu behalten. Daumen und Ringfinger in die Ösen. Zeigefinger auf den Steg, Mittelfinger in die Kurve der Öse des Mittelfingers und der kleine Finger seitlich über dem Ringfinger auf der Öse hausend. In der Zwischenzeit hat er schon die Nadel für mich aus der sterilen Verpackung griffbereit gemacht. Die Hautpinzette halte ich anscheinend richtig. Okay ... und jetzt? "Setz die Nadel am Ansatz der Wunde an, heb' mit der Pinzette die Haut an und zieh die Nadel nach dem ersten Einstechen zu dir. Du nähst in deine Richtung." Ich nähe in meine Richtung. Ich habe absolut keine Ahnung, was das heißen soll, aber ich erfahre es gleich, sobald ich mich überwinde, die Nadel durch seine Haut zu drücken. Scheiße! "Ich habe mir die Hände nicht desinfiziert und die Handschuhe nicht gewechselt." "Passt schon. Mir passiert nichts." Okay ... ich hoffe es. Okay, ich mache das jetzt. Ich stehe auf einem Bein, während das andere auf dem Sofa kniet, starre die Wunde an, die ich jetzt zunähen muss. Ich hebe schonmal die Haut an und jetzt nähere ich mich mit der hakenförmigen Nadel seiner Haut. Augen zu und durch! Ich lasse mir keine Zeit, damit er keine Schmerzen hat. Jetzt muss ich nur noch durch die andere Seite durch und jetzt ... habe ich keine Ahnung mehr. Und Azad ist still. Er hat weder gezuckt noch gezischt.
"Was jetzt?", murmele ich. Wieso hat dieser Typ keine Schmerzen dabei? "Du wickelst den Faden zweimal um den Halter, dann greifst du mit ihr das kleine Ende des Fadens und ziehst es zusammen, bis der Knoten an der Wunde ankommt." Okay. Das hört sich nicht schwer an. Zweimal um den Halter, dann das kleine Stück des Fadens nehmen und durchziehen. Ich beobachte mit aller Vorsicht, wie ich den ersten Knoten langsam zuziehe. Geschafft! Ich habe es tatsächlich gemeistert! Oh Gott. Ich will gar nicht lächeln, aber ich bin gerade verdammt stolz auf mich. "Ich habe es geschafft", gebe ich lebendiger von mir, als ich in seine Augen sehe. Azad lächelt sanft. Seine Grübchen stechen hervor. "Perfekt, Schneeflocke." Seine Hand tätschelt meine Hüfte. "Du musst jetzt noch weitere Knoten hintereinander machen. Noch vier Stück. Dabei wickelst du den Faden jetzt nur noch einmal um den Halter und in die entgegengesetzte Richtung. Immer in die andere Richtung des Knotens davor." Oh ... ich habe mir nicht gemerkt, in welche Richtung ich genäht habe. Egal ... das klappt schon. Ich bin mir sicherer. Mir gelingt der Knoten wieder und wieder. Beim fünften Knoten bin ich sogar schneller fertig. Ich schneide den Faden durch, lasse gut einen Zentimeter noch dran und darf von vorne beginnen.
"Tut dir das nicht weh?" Er brummt nur verneinend. "Psycho", murmele ich. "Das stimmt. Heute bin ich zum Glück zu müde, um dir mit meinem Zustand Angst zu bereiten. Wie geht es dir?" "Gut und dir?" Ich halte inne. Bin ich heute wirklich so dumm? Ich schaue schon entgeistert, als er wissend schmunzelt. "Mir geht es prächtig. Ich werde von der hübschesten Ärztin weltweit in einem verführerischen Zweiteiler behandelt. Sie riecht wie ich es mir im Paradies vorstelle und ihre Wärme macht mich verrückt." Er ist verrückt. Und das Verrückteste ist, dass ich es mag. Ich mag die Aufmerksamkeit. Sie tut mir gut, vor allem nach diesem Missverständnis. Ich hätte nicht so voreilig urteilen dürfen. Azad ist doch sonst so aufmerksam. Es sollte mich besorgen, wenn es plötzlich anders ist. In seinem Ausnahmezustand hat er trotzdem Blumen für mich dabei. Es klingelt nach der fünften Einzelknopfnaht an der Tür. Azad nickt mir zu, um mir zu versichern, dass dort keine bösen Überraschungen lauern. Es ist das Essen. Jamal hält den Wagen vor der Tür, lächelt mich freundlich an, als er ihn zu mir schiebt. "Sollte noch etwas sein, melden Sie sich bei uns." Ich nicke. "Danke." So langsam kommt mein Appetit auch wieder. Ich rolle den Silberwagen in unser chaotisches Wohnzimmer, schiebe den Couchtisch ein wenig zur Seite. "Iss." Ich nehme die Haube vom Teller, sehe Steak, Kartoffeln, Salat und irgendeine Soße. Das ist definitiv seins. "Willst du nicht mit mir essen?" "Ich kümmere mich erst um deine Wunde." Aber aus der Position tut mir der Rücken weh. Daher lasse ich mich auf seinem Schoß nieder.
"So will ich all meine zukünftigen Untersuchungen haben. Auch in dieser Dienstkleidung." Ich weiß, dass er grinst. Azad ist innerlich sicherlich am Kreischen, weil ich mich um ihn kümmere. "Aber bist du so vor Jamal getreten?" Jetzt muss ich schmunzeln. Das habe ich komplett vergessen. "Bin ich", grinse ich und er seufzt. "Ich glaube, wir müssen mich an ein EKG anschließen." "Ruhe, alter Mann. Ich muss deine Wunde versorgen." "Nur zu, Schneeflocke. Mein Körper gehört dir." Und mir gefällt es. Sehr sogar. Der Satz hat eine gefährliche Wirkung auf mich, aber ich konzentriere mich voll und ganz auf die Wunde. Das Nähen macht echt Spaß. Ich lasse ungefähr einen Zentimeter Abstand jeweils - wenn nicht, weniger. Dabei bemerke ich auch, dass ich bei jeder Naht schneller werde. "Dir tut das überhaupt nicht weh?" "Ich komme klar. Das Piksen ist nichts." Stimmt. Immerhin kam er schon verletzt rein. Ich setze mich neu auf. Nach einer Weile tut es in den Hüften weh, so zu sitzen. Jetzt stört mich auch noch sein Gürtel und der Stoff seiner Hose. "Kannst du mal gemütlicher sein?" Der alte Mann antwortet nicht, als ziehe ich warnend an der Naht, die ich gerade durch einer der letzten Stichstellen gezogen habe. Azad zieht scharf die Luft ein und ich reagiere sofort japsend, als ich ihm reagierend ins Gesicht schaue. "Tut mir leid", murmele ich ernüchtert. Das wollte ich nicht ... aber wieso schaut er so neutral? Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen, knote blind die Naht zusammen, während ich sein Gesicht studiere. Was war das dann eben? Ich rutsche auf seinem Schoß zurück ... oh mein Gott. "Das ist nicht dein Ernst." "Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders." Dieser gestörte Mörder!
"Wie kannst du in dieser Lage eine Erektion haben?", gebe ich verärgerter von mir, als ich wahrscheinlich sollte. "Die Schnüre an deiner Brust sind aufgegangen. Ich sehe lila Spitze, die deine vollen Brüste umschmeicheln und kriege den Gedanken nicht aus dem Kopf, wie du mein Gesicht gegen sie presst. Außerdem weißt du, dass ich auf Schmerzen stehe und wenn du sie mir zufügst, kann ich nicht anders." Er lächelt entschuldigend. Ist er völlig gestört? Statt an sein Leben und seine Gesundheit zu denken, hegt er Sexfantasien, während ich ihn versorgen muss! "Iss dein Essen!", meckere ich ihn an. Dieser Mann ist unglaublich! "Was immer du willst, Schneeflocke." Und er ist so unbeschreiblich zu mir! Ich kann es mir nicht erklären, aber ich liebe diese Momente. So krank und skurril das Ganze ist, mag ich es. Ich muss lächeln, ich bin glücklich und sogar zufrieden. Meine Mundwinkel heben sich bestimmt bis zu zehnmal, während der finalen Züge an seiner Wunde, weil meine Hormone wieder verrücktspielen. Auf einmal bin ich so glücklich. Auf einmal verspüre ich Harmonie in diesem Chaos. Ich kriege das Lächeln nicht von meinen Lippen, als ich seine Schulter mit dem hauchdünnen, klebenden Verband verbinde und ihm in die Augen sehe. "Fertig." "Ich bin stolz auf dich, meine kleine Ärztin." Azad tätschelt mir wieder lächelnd meine Hüften. In meinem Bauch bricht ein Sturm aus Schmetterlingen aus. Er ist stolz auf mich. Er nennt mich seine kleine Ärztin. Ich will ihn würgen und gleichzeitig küssen, weil er mich so emotional damit macht!
"Dann können wir essen und deinen alten Mann waschen, oder?" Ich nicke, verkneife mir mein Lächeln. Noch nie habe ich mich so sehr darauf gefreut, eine Person zu waschen. "Gut." Seine Finger kreisen auf meinen Hüften, kitzeln und hinterlassen ein sanftes Kribbeln auf meiner so plötzlich sensiblen Haut. "Dann gehen wir erst an die Vorspeise. Schau, was es ist." Ich gehe von seinem Schoß runter, decke sein Steak wieder zu und hebe die kleinere Haube an. Die lachsfarbene Brühe ... "Das sind Ramen." Und sie sehen aus, wie ich sie immer mache. Ich schaue überrascht zu ihm. "Mein Rezept?" Er nickt stolz. Oh Gott! "Da war ich mir sicher, dass es dir schmecken wird. Es sind aber handgemachte Ramen und ein kleines bisschen mehr an authentischen Gewürzen der traditionellen Küche drin." Oh Gott! Ich bin glücklich. Ich freue mich. Mais, panierte Hähnchenbrust, Schnittlauch und als Beilage Frühlingsrollen mit Sweet-Chili-Soße. Ich verschiebe ungeduldig den Tisch, helfe Azad auf den Boden, damit wir keine Rückenschmerzen beim Essen kriegen. Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Sogar die entsprechenden Löffel zum Trinken der Brühe sind dabei. "Hier." Ich drehe mich zu Azad auf meiner rechten Seite, der die Ramen mit den Essstäbchen und die Brühe im Löffel darunter vor mich hält. Und schon wieder lächele ich. Das sind die kleinen Gesten, die ich brauche. Die ich will. Die ich wirklich liebe. Ich hoffe, meine Augen fühlen sich nur schwerer an und füllen sich jetzt nicht mit Tränen. Ich öffne den Mund, halte die Hand unter die Ramen, als er sie vorsichtig in meinen Mund gibt, darf ein wenig auf ihnen kauen, bevor ich die Brühe angereicht bekomme.
Das Essen verläuft beruhigend still. Es lässt mich entspannen und herunterkommen. Es ist gleich Mitternacht und wir sitzen im unordentlichen Wohnzimmer, füttern uns abwechselnd mit den ganzen Speisen, bis wir satt sind. Wir lächeln, kichern und lachen, berühren uns, aber reden tun wir kaum. Nur, um zu wissen, ob es dem anderen schmeckt oder was wir in Zukunft probieren müssen. Ich mag das. Ich fühle mich gut dabei. Die Sorgen sind alle weg. Es ist das gleiche Gefühl, das ich schon bei unserer Ankunft in Dubai am Meer verspürt habe. Pure Zufriedenheit. Ich fühle mich ausgeglichen. Es ist, als wäre ich wieder im Meer mit ihm. Mir geht es gut. Wirklich gut. Ich bin glücklich. Die Kätzchen spielen um uns herum, springen über unsere Schöße, bis wir uns dann erheben und ich ihn ins Bad stütze. "Morgen muss ich zum Röntgen." "Osteoporose ist nicht zu unterschätzen in deinem hohen Alter." "Was wäre ich nur ohne meine allwissende Schneeflocke?" Allwissende Schneeflocke. Der Titel gefällt mir. Ich beiße ihm grinsend in sein Handgelenk, in der Hoffnung das Lächeln minimieren zu können, ohne Erfolg. Ich ziehe Azad auf den heruntergeklappten Toilettendeckel. Er wollte den Zugang nicht gezogen bekommen, sondern gleich eine Ringerlösung angehangen kriegen, daher habe ich es abgeklebt. Er wird schon wissen, was er braucht. Jetzt aber darf ich ihm die letzten Reste seines weißen Hemdes ausziehen und ihm aus seiner Hose helfen. Seine Erektion ist abgeschwollen ... nein, doch nicht. Dieser Mann ist unglaublich!
"Lass mich das machen", wendet Azad ein, als ich ihm die Hose über die Knöchel ziehen will und nach seinen Socken greife. "Passt schon", erwidere ich. "Ich weiß doch, wie sehr du Füße hasst." "Tust du. Ich muss nicht hinschauen." Dieser blauäugige Mörder ist verletzt und kann gerade mal so gehen. Sich vorzubeugen, kommt in seiner Lage nicht infrage. Demonstrierend schaue ich ihm in die Augen, ziehe ihn bis auf die Boxershorts aus und helfe ihm dann auf, um ihn in die Wanne zu stützen. Azad holt tief Luft, als seine verwundete Haut die kalte Wanne berührt. Sein Körper wirft dunkle Schatten auf die weiße Keramik. Sein linker Arm ist von getrocknetem Blut bedeckt und ich sehe schon Ansätze des Blutflusses auf seinen Nacken und Rücken. Ich lasse mich wieder auf seinem Schoß nieder, genieße das kühle Gefühl an meinen Knien und Ansätzen meiner Oberschenkel, als ich mich komplett ausbreiten kann. Für einen Moment schauen wir uns stumm in die Augen, lassen alles Revue passieren und atmen einmal tief durch. Der Tag brachte mehr Strapazen als geplant, obwohl er so schön begonnen hat. "Ich habe falsch von dir gedacht", setze ich an. Es fällt mir schwerer, als ich es mir ansehen lasse, diese Worte von mir zu geben. "Ich dachte wirklich, es fängt wieder von vorne an. Wenn du kaum Verlässlichkeit in deinem Umfeld hast, verkleinert sich der Kreis dieser Hoffnung auf ein Minimum. Ich kann mich nicht mehr freuen, sobald etwas geplant wird, weil ich so gut wie jedes Mal enttäuscht wurde." "Ich verstehe dich." Und das erleichtert mich. Ich muss mich nicht rechtfertigen. Kein: Ja, aber. Kein: Das kannst du aber nicht verallgemeinern.
"Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen." Wieder etwas, was mich mehr erleichtert, als er es mir ansieht. Mach dir keine Sorgen. Ein Satz mit tiefergehender Bedeutung für mich. Was ich früher alles dafür gemacht hätte, nur um eine Person zu haben, die genau das sagt und auch wirklich vertritt. Er weiß nicht, wie glücklich es mich macht, dass er immer mehr und mehr zu dieser Person wird. Dass ich immer mehr und mehr Vertrauen zu ihm aufbauen kann. Gott, ich bin heute viel zu emotional. Es wird Zeit, Azad zu waschen, damit er die aufsteigenden Tränen nicht bemerkt. Ich glaube, heute werde ich eine gute Runde im Bett weinen, während er schläft. Es wäre nichts, was ihn wecken würde, zumal ich überwiegend stumm weine. Ich weiche sein Haar auf, sehe sofort das verfärbte Wasser an der weißen Keramik herunterfließen. Je mehr ich seine Kopfhaut massiere, desto intensiver färbt es sich. "Hast du dir den Kopf aufgeschlagen?" "Jetzt, wo du es ansprichst, fühlt sich meine Kopfhaut schon beansprucht an." Oh Gott. Ich spüre gerade nichts, aber ich will auch nicht in einer potenziellen Wunde fingern, spüle daher vorsichtiger sein geschmeidiges Haar aus und wische mit meiner nassen Hand über sein ramponiertes Gesicht. Zum Glück sind es nur einige Schrammen und keine ernsthaften Verletzungen. Es wäre zu schade um sein schönes Gesicht. Dennoch bin ich mir sicher, dass sich sein linkes Jochbein verfärben wird. "Tut das weh?", frage ich, als ich den Knochen abtaste. "Ja, aber es gefällt mir." Idiot. Ich verdrehe meine Augen belustigt.
Ich lasse das Duschgel komplett weg. Einzig und allein meine Hände reinigen seine straffe Haut Hals abwärts. Seine Schulter wurde getroffen. Die Intention dahinter trifft mich erst jetzt. Ihm hätte alles Mögliche passieren können. Azad hätte getötet werden können. Erstochen, erschossen, totgeschlagen. Man hätte ihn als Geisel nehmen und foltern können. Wieso ist mir das nicht in den Sinn gekommen? Es war doch offensichtlich. Aber ... die Angst. Ich kann mir deshalb nicht allzu böse sein. Er ist - Gott sei Dank - wieder bei mir. Ich kann mich um ihn kümmern. Ich werde ihn pflegen. Dafür sorgen, dass seine Haut wieder heilt und es so schonend wie möglich gestalten. Trotz des kleinen Missverständnisses hat er es sogar verletzt geschafft, einen schönen Geburtstag für mich zu gestalten. Ich hatte ein wunderschönes, harmonisches Essen. Meine Geschenke haben mich zum Weinen gebracht. Wir können zwar nicht draußen am See auf einer Decke liegen und reden, aber das können wir nachholen. Ich kenne seine Antwort jetzt schon. Was immer du willst, Schneeflocke. "Was bringt dich so verträumt zum Lächeln, Schneeflocke? Ich hoffe doch, es ist kein anderer Mann." Und schon muss ich sanft kichern. "Sollte es so sein, stelle ich mir vor, wie du ihn umbringst." Mein Gott, mein Lächeln kommt mir so stark vor. Als hätte es die Energie, das ganze Haus zu beleuchten. Und mit seinen leuchtenden Augen und seinem sanften Lächeln würde es das Haus wohl für eine Woche versorgen. "Das freut mich. Sagst du mir, was dich so schön lächeln lässt?" Du. Tatsächlich. Ich hätte nicht gedacht, dass mich ein Mann so glücklich machen kann, nach all den Jahren voller unterdrückter Misandrie.
Ich lasse meine Hände auf seinen Schultern ruhen. Ich weiß nicht, ob er es ebenfalls spürt, aber sobald ich ihm in die Augen sehe, habe ich das Gefühl, dass sich alles langsam um mich herum dreht und Stück für Stück schwindet. Es ist ein angenehmes, leicht berauschendes Gefühl. Ich mag es. Ich mag es, dass er mich glücklich macht, denn genau das verdiene ich. Meine Hand gleitet durch sein nasses Haar, fährt darauffolgend über seine bärtige Wange, um sie zu halten. Mein Azad. Mit ihm kam die Freiheit. Er behandelt mich so, wie ich es mir immer ersehnt habe. Wie ich es verdient habe. Ich genieße von Mal zu Mal immer mehr seiner warmen Berührungen, die in letzter Zeit erschreckender Weise öfter angenehmes Kribbeln in mir entfachten als das gewöhnte Erschaudern. Ich kann dank ihm in Ruhe schlafen. Die unangenehmen Träume sind kaum noch vorhanden. Ich schrecke nicht mehr auf, wenn es an der Tür klopft. Ich muss mein Handy nicht mehr bereithalten und einen kleinen Raum aufsuchen, um die Polizei zu rufen, auf die zu oft kein Verlass war. Ich kann mich in seinen Armen fallen lassen, selbst wenn es ihm nicht gutgeht. Ich fahre ehrfürchtig über seine verletzte Stirn, gebe ihm vor meinem geistigen Auge einen Kuss auf sie, wofür ich gerade zu befangen bin. Ich will einen Schritt weitergehen. Ich fühle mich danach. Ich sehne mich nach mehr. Ich will täglich den Beweis seiner Wärme auf mir spüren.
Daher rutsche ich ein mutiges Stück weiter auf, wohl wissend, dass er bei dem gesenkten Blick auf seine Lippen versteht, was mein Ziel ist. Es ist, als würde mich eine Kraft an ihn ziehen. Ich will seine Hände immer um meine Rippen spüren wie jetzt. Ich will immer in seinen Armen liegen und einschlafen, egal wie heiß mir wird und ich deshalb erwache. Ich mag ihn ... und ich glaube, ich fühle viel mehr für ihn. Ich will es tun. Meine Lippen spalten sind, unwissend, wie sie gleich agieren sollen. Ich spüre die Wärme seines Mundes an meinen Lippen. Durch meinen Körper zieht ein heißer Strahl, als ich meine Lippen befeuchte und sie fast seine treffen, doch als ich sie dann sanft auf seine lege, spüre ich im ersten Moment nichts. Ein kleiner Moment und dann entfacht all das Unentdeckte, all das Unterdrückte. Es ist ein Gemisch, heißer Süße, sanfter Erleichterung und befreiendem Wohlfühlen. Als wäre ich endlich zu Hause nach einem schlimmen Tag. Als würde ich endlich etwas zu essen bekommen. Ich fühle mich bei seinen sanften Lippen auf meinen so, wie ich es mir seit mehr als fünf Jahren gewünscht habe. Das Gefühl der Befreiung, wofür ich fünfmal täglich über Tage, Wochen, Monate und Jahre gebetet habe, darf ich jetzt willkommen heißen. Ich steigere mich hungriger in den Kuss, stelle mich auf die Knie, in der naiven Hoffnung, den Drang meiner Lippen zu mildern. Stattdessen will ich nur mehr. Ich möchte gar nicht aufhören, den sanften Druck an ihnen zu spüren. Ich möchte gar nicht aufhören, Azads Geschmack zu inhalieren.
Meine rechte Hand zieht sanft an seinem Haupthaar, die linke umschließt seinen Unterkiefer, schaffen damit eine neue Ebene für den Hunger unserer Herzen. Azad fällt aus seiner Passivität, umschmeichelt meinen Körper mit seinen großen Händen, hält mich, sichert mich. Ich werde an ihn gepresst, darf ein raues, kleines Stöhnen in meinem Mund willkommen heißen. Das ist mein erster Kuss und obwohl ich absolut keine Erfahrung habe, bin ich diejenige, die ihre Zunge in seinen Mund gleiten lässt, seinen Mund, seine Wärme, seinen Geschmack nur noch intensiver spüren und erleben möchte. Mein atemloses Keuchen erscheint mir so leidenschaftlich, so durchsetzend. Azad lässt mir die Führung, schweigt und genießt, während seine Hände über meine Hüften und mein Haar fahren, mich das fühlen lassen, was er sonst mit seinem schönen Mund aussprechen würde. Und ich tue das genaue Gegenteil mit dem Kuss. Ich lasse ihn das spüren, was ich so lange unbemerkt mit mir herumgetragen und unterdrückt habe. Wenn er nur wüsste, wie erleichternd es ist. Es macht mich süchtig. Ich möchte gar nicht aufhören, riskiere sogar einen Asthmaanfall, weil ich mich nicht von diesem nonverbalen amourösen Akt losreißen möchte. Ich will es immer und immer wieder erleben, beende den Kuss aber dennoch jetzt, weil ich mir die Unersättlichkeit aufteilen will. Mir rauscht das Blut durch die Ohren. Ich habe es tatsächlich getan. Azad ist sprachlos. Er scheint nicht ganz realisieren zu können, dass es passiert ist. Ich hingegen verstehe es langsam. Vor allem jetzt, wo er strahlend lächelt. So fühlt sich Vertrauen an. So fühlt sich Liebe an.
"Jetzt kann ich in Frieden sterben."
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Und? Was sagt ihr? Wie fühlt ihr euch?
- Helo
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