Kapitel 39

"Steh auf." Ich wiederhole mich schon zum dritten Mal und das ist viel zu geduldig und großzügig von mir. "Gleich", brummt Azad um 04:33 Uhr. "Jetzt." Ich habe ihm schon die Decke weggezogen, aber er ist immer noch das Riesenbaby, das nicht aufstehen will. "Wann kriegst du wieder deine Tage?" "Ich schlage dich gleich." Sein Brummen sagt mir, dass er nicht sonderlich beeindruckt von meiner trockenen Drohung ist. "Wäre mir lieber, als geweckt zu werden." Genug. Ich habe keine Geduld mehr, also ziehe ich ihn an seinen schweren, warmen Armen auf und muss ihn ernsthaft aus dem Bett schleifen! "Du Riesenbaby." Ich habe keine Kraft für 110 Kilo um fünf Uhr morgens. Ist er immer so warm oder liegt es am Wetter? Ich schleppe diesen dramatischen Mörder ins Bad, schalte das kalte Wasser an, um es ihm ins Gesicht zu klatschen. Endlich wird er wacher. "Ein Kuss würde ausreichen, um mich zu wecken." "Ein Messer sicherlich auch." Oh nein ... er lächelt lüstern. "Das bewirkt tatsächlich Wunder, Schneeflocke." Er braucht mich gar nicht so anzusehen! Ich drehe sein Gesicht wieder zum Waschbecken. "Mach jetzt." Ich habe die Gebetswaschung schon genommen, als ich mit dem ersten Ton meines Weckers aufgewacht bin. Wenn es weiterhin so anstrengend bleibt, ihn zu wecken, muss ich härtere Geschütze auffahren. Dass er nicht einmal erwacht, wenn die Kätzchen auf ihn herumspringen, ist bemerkenswert. Ich wache unter jedem Springen aufs Bett auf.

Azad ist nach dem Gebet sofort wieder eingedöst, während ich wach im Bett liege. Ich will heute ausgehen. Warum, weiß ich nicht. Mir ist einfach danach und daher will ich, dass es heute stattfindet. Ich drehe mich auf meine rechte Körperhälfte, um ihn zu mustern. Er schläft immer mit einer Hand unter seinem Ohr und warum auch immer finde ich das süß. Er schläft immer, mit dem Blick auf mich, gerichtet ein. Ich mag das. Das gefällt mir sehr. Mit mir soll genau so umgegangen werden. Ich will wie eine Prinzessin von ihm verehrt und behandelt werden, aber irgendwie ... ich habe immer noch diese kleine Angst in mir. Ich denke manchmal immer noch daran, dass er es nur vorspielt, auch wenn ich nichts auf seinem Handy finde. Das sagt überhaupt nichts. Er könnte ein Zweithandy haben. Eine zweite Nummer. Ich kenne das alles doch. Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als ich mich ihm prüfend nähere und die Arme vor meiner Brust verschränke. Er ist der Sonnenschein von uns beiden und selbst im Schlaf kann ich es spüren, auch wenn er streng wirkt. "Idiot", murmele ich. Wahrscheinlich träumt er davon, wie ich ihn fessele und mit einem Messer bedrohe. Seine Fetische werde ich niemals verstehen. Außerdem werde ich niemals verstehen, wie ein Mann so perfekt sein kann. So ruhig, so robust und stoisch. Ich würde gern wissen, wie er ist, wenn er gerade dabei ist, jemanden zu foltern, so beunruhigend sein Zustand danach auch war. Schließlich sind Erzählungen nicht mit dem realen Miterleben zu vergleichen.

Mein Zeigefinger zuckt in dem Moment, als mein Blick auf seine schönen Lippen fällt. Nach dem Erwachen sind sie geschwollener, aber das ist normal. Nur sieht es bei ihm erschreckend gut aus, weil sie dann rötlicher wirken. Sie fühlen sich so schön an. Er muss sich nicht jeden Abend die Lippen mit Vaseline bestreichen, damit sie nicht nach dem Gesichtswaschen am nächsten Morgen trocken und rissig werden. Sie sind verdammt weich ... ich will gar nicht aufhören, sie zu berühren, genau wie seine rasierten Wangen. So gefallen sie mehr. Seine Muskelspiele sind dann viel leichter zu bemerken und zu bewundern. Er ist 27 ... das Alter, das ich bei meinem Idealmann immer besonders attraktiv fand. Ich weiß nicht wieso, aber dass er fast 30 ist, hat etwas sehr Anziehendes an sich. So reif, so erwachsen, so erfahren und wissend. Meine Fingerkuppen wanden über seine Wange hinab zu seinem Hals, dann zur Narbe. Ich stelle mir vor, wie jemand seinen Kopf von hinten festgehalten hat und schnell ein Messer gezogen hat. Wer hat ihm geholfen? Wer hat ihn gerettet? Ist die Person jetzt tot? Hoffentlich. Meine Finger wandern weiter hinab zu seinem Bauch, wo ich erst jetzt unter der dunklen Tinte eine Narbe spüre. An der Stelle, wo die Leber ist. Das ist heftig. So viele Narben. So viele Geschichten.

Ich rutsche weiter auf, schaue noch einmal zögernd zu seinen geschlossenen Augen, als ich dann einen kleinen Kuss auf die Narbe an seinem Hals setze ... und noch einen. Ich weiß nicht wieso, aber ich muss noch einen dritten Kuss geben und dann noch einen vierten, weil ich dann so den Anfang und das Ende geküsst habe. Mich überkommt der Drang, mehr auf ihn zu achten. Je mehr Narben ich auf seinem Rücken ertasten kann, desto stärker wird dieser Gedanke. Ich mache mir keine Sorgen um Menschen, aber das heißt nicht, dass ich sie nicht wenigstens ein bisschen schützen kann. Ich schmiege mich gänzlich an seinen warmen Körper. Es hat sich gelohnt, so lange mit Männern und Intimität zu warten, denn keiner würde an ihn herankommen. Es wäre eine Verschwendung an Energie gewesen, mich mit weniger ansprechenden Typen abzugeben, nur um meine Bedürfnisse zu stillen. Es fühlt sich gut an. Wirklich gut. Mir gefällt das Gefühl seiner Muskeln an meinem Oberkörper. Es sagt mir zu, das Gefühl des Schutzes durch ihn vermittelt zu bekommen, selbst wenn er schläft - seine Waffe liegt auf seinem Nachtschrank. Ich muss sofort an meine erste Intimität mit ihm denken. Nie im Leben hätte ich gedacht, dass mein erstes, sexuelles Zusammensein mit Waffen zusammenhängen wird. Er hat einfach das Fenster zerschossen! Ich glaube es manchmal immer noch nicht.

Ich öffne tief durchatmend meine Augen, bin überrascht, dass ich noch in seinen Armen liege, weil ich mich sonst immer hin und her wälze, bis ich einschlafe und eine Bauchschläferin bin. "Wach?" Oh ... ich schaue zu ihm hinauf. "Wie lange bist du schon wach?" "Gute 20 Minuten. Ich kann mich nicht daran erinnern, so eingeschlafen zu sein." Meine Lippen zucken. Am besten wäre es, wenn ich ihm das Kissen aufs Gesicht presse. "Wieso arbeitest du nicht?" "Ich werde von einer schönen lila Tulpe, so kalt wie der Schnee, ans Bett gefesselt." "Wirst du nicht." "Doch, doch. Nachdem ich eingeschlafen bin, hat sie sich um mich geschlungen. Wie soll ich da nur weg?" "Hast du jetzt ernsthaft die Arbeit geschwänzt?", frage ich ungläubig, was er mir tatsächlich lächelnd bestätigt. "Wie hätte ich mich denn aus deiner Gewalt befreien können?" "Deine Arme sind um mich geschlungen." Langsam werde ich wirklich verlegen deshalb. Mir wird warm, weil er mich liebevoll neckt. "Du liegst in meinen Armen und hast die Arme um meinen Oberkörper gelegt. Außerdem war bis gerade noch dein Bein um meine Hüfte geschlungen." Ach du Scheiße. "Unwillkürlich." "Es hat aber für willkürliche Reaktionen bei mir gesorgt." Ich mache Anstalten, mich sofort wegzudrehen, wenn mich dieser blauäugige Mörder davon nicht abhalten würde. "Nicht doch, Schneeflocke. So einen schönen Morgen hatte ich noch nie." Alter Schleimer.

Das Problem ist, dass er mich wirklich nicht loslässt. Nein, er drückt mich sogar fester an sich, weshalb ich warnend murre und sein Grinsen an meiner Stirn spüre. "Bis gerade warst du noch zahm." "Ich war am Schlafen, du Nekrophiler." "Ich war auch am Schlafen, als du dich an mich geschmissen hast." Ich bin nicht mit ihm gleichzusetzen! "Schön, alter Mann." "Ich höre schlecht. Wiederhole dich bitte." Ich will wirklich zum Wiederholen ansetzen, aber mein erstes Wort wird zu einem spitzen Schrei, weil er sich auf mich rollt und erdrückt! "Azad!", ächze ich. 110 Kilo sollten nicht auf meinem Brustkorb liegen! Gott, ist er schwer! "Kannst du es wiederholen?" Ich ziehe bei seinem Raunen an meinem Hals die Luft ein. Meine nackten Schultern werden von Schauder überzogen. "Gänsehaut?" Dieser blauäugige alte Mörder! "Ich steche dich gleich ab!", zische ich, als ich seinen Nacken warnend packe, doch dieser Mann brummt nur zufrieden gegen meine Haut, lässt mich wieder erschaudern und wagt es wirklich, sein Becken gegen meins zu bewegen! "Ich liebe deine Hände, Schneeflocke. Sie dürfen alles an meinem Körper machen." "Sie werden dich häuten." "Wenn du mich zu deinen Lederhandschuhen machst, lege ich mich freiwillig unter dein Messer." Dieser Mann ist krank! Und er lässt sich nicht von mir runterschieben! Stattdessen ... stattdessen spüre ich seine warmen Lippen an meinem Hals und ... ich ... ich neige nur ein wenig den Kopf nach links. Meine Lider geben nur nach, weil ich noch müde bin. Mehr nicht.

Ich erlaube mir das Seufzen nur, weil ich aufgrund seines Körpergewichts schwerer atme. "Ich will heute ausgeführt werden." "Was immer du dir wünschst, Schneeflocke. Noch etwas?" Ich summe verneinend, verdrehe dann genießend meine Augen, als er mich genau unter meinem Ohr küsst. Genug! Verführung am frühen Morgen steht nicht auf dem Plan. Ich bin diejenige, die sich jetzt auf ihn rollt, kann endlich wieder frei atmen und mich im Bad frisch machen ... und endlich bemerken, dass das Pochen zwischen meinen Beinen nachlässt. Ich atme tief durch, erschrecke mich nur leicht, als er durch die Tür kommt. Warum er mich aber nur mit halb zusammengezogenen Augenbrauen ansieht, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sich meine Augenbrauen deshalb auch zusammenziehen. "Was?" "Ist alles in Ordnung?" Ich nicke, zeige auf meine Zahnbürste. "Das war gerade nicht zu viel für dich, oder?" Oh ... wenn er nur wüsste. Ich bin dennoch angetan von seiner Vorsicht. "Passt schon, alles gut." "Gut", flüstert er und stellt sich zu mir. "Sollen wir dann erst in die Stadt und nach einem Kleid für dich suchen?" "Kann auch eins von mir nehmen", sage ich, als ich meine Zahnbürste anfeuchte und einen Klecks Zahnpasta draufschmiere. "Je mehr Kleider, desto besser. Ein weiteres Kleid wird dir nicht schaden. Ich habe sogar eins im Sinn." "Ziehst du das dann an?" Ich schmunzele beim Ansetzen meiner Bürste. "Ich denke nicht, dass ich mit meinem Oberkörper in deine Kleider passe." Ich habe es bei manchen Kleidern schon unnötig schwer mit meinen Brüsten, da würde jedes Kleid bei seinem Umfang reißen.

Nach dem Frühstück fahren wir schon los. Vor und hinter uns die schwarzen, gepanzerten Geländewagen voller bewaffneter Männer mit Kampferfahrung. Die Sonne scheint, ich habe ein schönes Kleid und schöne High Heels an und es läuft wieder Freak Like Me. Seit unseren Flitterwochen höre ich es viel öfter und wähle es bewusst aus, statt auf den Shuffle-Player zu hoffen. Es hat zwar keiner von uns beiden ausgesprochen, aber es ist für mich unser Lied. Es ist älter, ein Klassiker, bringt gute Laune mit sich und erzählt von Freaks ... wie passend. Ich muss deshalb schmunzeln. "Ich will auch schmunzeln, Schneeflocke." "Solltest du nicht auf die Straße schauen?" "Ich schaffe sowohl das als auch meine Frau zu beachten." "Belasse es bei der Straße", erwidere ich belustigt. "Du bist sehr schlagfertig, Schneeflocke. Bist du zu allen so?" "Wenn es sein muss." "Bei anderen Männern hoffe ich es doch." Ich grinse. Er ist heute ziemlich lustig, das muss ich ihm lassen. "Du hattest keine anderen angestrebten Beziehungen, oder?" "Macht dein Gedächtnis nicht mehr mit?" "In der Akte stand nichts." Ich lache leise in mich hinein, als ich aus dem Fenster schaue. "Ich dachte, die Hochzeitsnacht war selbsterklärend." Wie locker ich darüber reden kann, obwohl ich in dem Moment kurz vor dem Zusammenbruch stand.

Es bleibt eine Weile still. Wahrscheinlich muss Azad wieder an das Geschehene denken. Ich tue es immerhin. Es stört mich, dass ich mich so verwundbar gezeigt habe. Manchmal weiß ich nicht, ob ich mich dafür hassen soll, so schnell meine Offenheit zu bereuen oder ob ich doch gegen meine verstärkte Verschlossenheit angehen soll. Manchmal tut es mir leid, dass ich durch meine Verschlossenheit rücksichtslos und harsch werde, aber dann gibt es wiederum Momente, in denen ich meine kognitiven Fähigkeiten infrage stelle, wenn ich mich doch einer Person öffne. Ich ... keine Ahnung. "Du hast oder hattest keine Erfahrungen, meintest du, aber gab es denn niemanden, der dich kennenlernen wollte?" "Keine Ahnung." Bestimmt. Ich bin weder hässlich noch abstoßend, wenn ich nicht gewollt beleidigend wirken will. "Also muss ich mich um keinen kümmern, der sich dir gegenüber schlecht benommen hat?" Ach, so ist das gemeint. Ich schmunzele wieder. "Nein." Wäre es so, hätte ich seine Dienste in Anspruch genommen - so nachtragend, wie ich bin. "Gut. Bei mir übrigens auch nicht." Und schon wieder schmunzele ich. "Nur, damit du nicht eifersüchtig wirst." "Bin ich nicht." "Die Gala-" "Ich schlage deinen Kopf gegen das Lenkrad, wenn du es wagst, weiterzureden", warne ich ihn, als ich zu ihm schaue. Warum grinst er jetzt so? "Wusstest du, dass mir das schon einmal passiert ist?" Meine Augenbrauen heben sich überrascht. Jetzt bin ich gespannt, was passiert ist.

Azad schaut einen Moment zu mir, ehe er blinkt und zum Erzählen ansetzt. "Aras und ich saßen im Auto und haben auf einem Seitenstreifen auf einer Landstraße gehalten. Wir hatten uns Shawarmas geholt und waren doch zu hungrig, um zu warten, bis wir zu Hause waren. Du musst wissen, dass wir davor bei einem Gespräch mit zwei weiteren Großfamilien waren und es ein wenig heikel wurde, weil wir nicht einschlagen wollten. Warum sollten wir weniger Prozent vom Goldexport erhalten als die?" Er schnaubt, als wäre das Thema aktuell. "Jedenfalls war einer der beiden nicht begeistert davon. Sein Gotteskomplex war größer als sein Bauchumfang. Aras war noch nicht fertig mit dem Essen und ich habe die Fenster heruntergefahren, damit der Geruch verfliegt und ehe ich mich versah, tauchten von jeder Seite zwei Männer auf, die meinen Kopf gegen das Lenkrad rammten und Aras gegen das Cockpit. Sein Shawarma war danach blutig." Oh Gott. Ich ziehe die Nase kraus. "Nur das?" Meine Frage scheint ihn zu belustigen. "Leider, Schneeflocke. Ich hätte auch viel lieber noch einen Stich in den Oberarm von einer Schönheit namens Avin bekommen, aber sie war leider nicht dabei." Vollidiot! "Ich meine damit, ob sie euch eine Waffe an den Kopf gehalten haben, die Reifen zerstochen oder euch entführt haben." "Nein, das war nur eine kleine Warnung. Jedoch hat einer der Hurensöhne doch nachträglich in einen Reifen geschossen und meine Felge damit beschädigt." Warum wirkt es so, als würde ihn die beschädigte Felge mehr ärgern, als die Tatsache, dass er verletzt wurde?

"Lange Rede, kurzer Sinn, alle vier wurden getötet und der fette Bastard nach einem Jahr von Aras vergiftet." Ich nicke. Dass Aras auch tötet, habe ich komplett außer Acht gelassen. "Happy End, würde ich behaupten." "Wahrlich, Schneeflocke. Es hat mich überrascht, kein bisschen geblutet zu haben." "Dein Kopf scheint wohl nicht durchblutet zu sein." "Seitdem ich endlich verheiratet bin, fließt das Blut wirklich vermehrt nach unten." Dieser schamlose, alte Mörder! Ich schaue warnend zu ihm, als er in die Parklücke fährt. "Durch den Weg meines Herzes natürlich, Schneeflocke." Ich glaube ihm kein Wort! Mir egal, wie charmant er mich anlächelt und wie süß seine Grübchen hervorstechen. "Ich würde dir gern die Tür öffnen, wenn du mich lässt." "Und wenn nicht?" "Dann werde ich heute voller Trauer einschlafen." Er bringt mich heute beunruhigend oft zum Schmunzeln. "Alter Schleimer." "Ich hoffe doch sehr, du kümmerst dich um deinen alten Mann, Schneeflocke." Langsam tun meine Wangen vom ganzen Anheben weh. Das Problem ist auch, dass mein Schmunzeln kaum nachlässt, als er aussteigt und als er mir dann die Tür öffnet, habe ich tatsächlich mit meinen Mundwinkeln zu kämpfen. Ich lege meine Hand in seine große, lasse mich aufziehen und hinter mir die Tür schließen, als er dann seine Hand auf mein Kreuz legt und mich in die edle Boutique führt, die mehr LEDs aufweist, als wir wahrscheinlich in unserer Plattenbauwohnung hatten.

Um uns herum sind mehrere Schaufensterpuppen in den verschiedensten Kleidern. Hinter und über ihnen leuchtet warmes Licht. "Herr Dastan! Das ist sicherlich Ihre schöne Frau." Die kurzhaarige, kleine Frau schüttelt dem nickenden Azad erfreut die Hand, woraufhin sie sie mir reicht. "Ich werde Ihnen die besten Kleider vorstellen, meine Liebe. Ich bin Leyla. Latifa, hol den beiden was zu trinken!", ruft sie der blondgefärbten potenziellen Tochter hinter ihr zu, die ungefähr 25 sein müsste, ehe sie uns in die Lounge bringt und uns mit ihren hellbraunen Augen freudig ansieht. Sie wirkt wie die süße Tante, die gern viel mit ihren Neffen und Nichten unternehmen will. "Ich habe mich ein wenig von Ihrem Ehemann beraten lassen. Er hat gewisse Wünsche geäußert, aber auch angemerkt, dass seine Frau sehr wählerisch ist", grinst sie. Ich nicke schmunzelnd. "Was mein Mann gesagt hat, ist nicht von Relevanz." Und ein weiteres Mal schmunzele ich, als ich seine Finger gegen meine Haut drücken spüre. Leyla lacht herzlich. Ihre rötlichen Wangen stechen hervor sowie die kleinen Lachfältchen an ihren Augen. "Haben Sie denn gewisse Vorzüge?" "Nicht zu freizügig, elegant. Es muss nicht unbedingt bodenlang sein, aber gern enger an der Taille." "Gut! Sie entspannen und ich führe mit meiner Tochter die Modelle vor." Ich bin gespannt. Die Cola ist eiskalt, als ich die Dose öffne - so schmeckt sie mir am besten. Dann ist die Kohlensäure extrem stark, sodass ich gar nicht bemerke, wie süß sie doch eigentlich ist.

"Zu schade, dass es kein Bibsi ist", schmunzele ich. Ein Schielen zu Azad reicht, um zu wissen, dass auch er amüsiert ist. "Ich kaufe uns einen Vorrat, sobald wir hier fertig sind, Schneeflocke." Leyla und ihre Tochter kommen mit je einem Kleid in der Hand zurück. Das von Latifa ist lang und rot und das von Leyla kurz und lila. Wenn ich ehrlich bin, gefallen mir beide und das überrascht mich, weil ich doch wählerischer bin. Beide sind an der Taille enger geschnitten. Das bodenlange Rote hat einen Schlitz, der ungefähr wenige Zentimeter über dem Knie anfängt. Ich mag solche Kleider und mir gefällt der auffällige Korsettstil. Im Gegensatz zum blauen Kleid, das ich auf der Gala trug, sind mehr offensichtlichere Details vorhanden. Mit den dünnen Trägern wird alles abgerundet. Das schulterfreie lila Kleid wird an der Taille von einem elastischen Bund enger gezogen. Der satinierte Stoff schimmert wunderschön im Licht und obwohl das Kleid so schlicht ist, wirkt es durch die Ballonärmel erst richtig besonders. Mit meinem feinen, goldenen Gürtel würde es echt schön aussehen. "Und?", fragt Azad mich. Ich würde am liebsten beide haben wollen, aber ich will nicht gierig wirken, auch wenn er es niemals so betrachten würde. Es ist eine Sache des Wohlfühlens und der Gewohnheit. "Wir haben mehrere Kleider, wenn diese hier nicht Ihrem Geschmack entsprechen." Leyla wendet sich schon zum Gehen an, als ich sie aufhalte. "Ich mag beide." "Wir nehmen dann beide", lässt Azad meinen unausgesprochenen Wunsch in Erfüllung gehen. Das ging wirklich schneller als gedacht.

"Ich hätte nicht gedacht, dass du sofort die ersten beiden Kleider nimmst, Schneeflocke." "Gleichfalls." Im Gegenteil. Ich dachte sogar, dass ich gar keins finden werde und jetzt sind es zwei gleichzeitig geworden. "Wann fahren wir los?" "Gegen 20:00 Uhr. So kannst du den Sonnenuntergang miterleben." Er hat es wirklich nach meinen Interessen geplant. Das freut mich ... wirklich sehr. Ich denke die ganze Zeit an nichts anderes. Immer und immer wieder frage ich mich, wie es wird. Ich will mich schon um 14:00 Uhr fertigmachen, obwohl es zu früh ist, egal wie viel Zeit ich mir nehmen werde. Azad hingegen kann sich mit seiner Arbeit ablenken. Meine Katzen tapsen wild umher, mir fällt immer noch kein Name für sie ein und ich sitze unbeholfen und mit kaum einem Funken an Geduld herum, putze bis 17:10 Uhr, bis ich mich dann endlich fertig mache. Die Routine beginnt: Haare glätten, Hautcremes einziehen lassen, Eyeliner, den Lidschatten der Quad Goals Palette auftragen, meine Bodylotion zwischen meinen Brüsten auftragen und jetzt fehlt mir nur noch ein Kleid. Lila oder rot? Das rote ist schön, aber lila ... lila ist doch bedeutsamer oder nicht? Schließlich verbindet Azad mich mit dieser Farbe. Neben diesem Kleid nehme ich noch meinen feinen, mehrreihigen Goldgürtel und meine weißen Riemchensandalen, die ich mir hoch zu meinen Waden schnüre. Ich hätte kein Problem damit, wenn die Absätze noch ein ticken höher wären und es noch Plateau gäbe.

Jetzt bin ich eigentlich fertig. Es ist aber noch zu früh. Wir haben erst 19:24 Uhr, aber ich habe keine Geduld und Azad arbeitet mir viel zu lange, daher gehe ich ohne zu klopfen in sein Büro. Sein Blick hebt sich sofort vom Bildschirm und innerhalb weniger Sekunden bemerke ich, dass der Anrufer nicht mehr so wichtig ist. Gut so. Ich bin von Relevanz. "Ja", raunt Azad leiser. Seine Lider sinken kaum einen Zentimeter und doch ist es so faszinierend, wie deutlich sich sein Blick verändert hat. Von konzentriert, aufmerksam und pragmatisch zu lustvoll und begehrend und mir gefällt es. Er soll mich so betrachten, auch wenn ich sanft erschaudere. "Lass es so unterschreiben und schick die Umsätze an die Finanzabteilung." Er redet mir zu viel. Daher laufe ich langsam auf ihn zu, wohl bemerkend, dass sich seine Pupillen weiten. Mir gefällt das Farbspiel. Das helle Blau seiner Augen rückt immer weiter in den Hintergrund, je näher ich zu ihm komme. Azad dreht sich in seinem Stuhl zu mir, sodass ich perfekt zwischen seinen Beinen zum Stehen komme. "Perfekt." Ob es an seinen Partner gerichtet ist oder an mich, weiß ich nicht. Schmunzeln tue ich dennoch. Auch, als ich seine Hand davon abhalte, über meine Hüfte zu fahren. "Ich will los." Er hat genug telefoniert. Ich nehme ihm das Handy ab, lasse ihn aber noch eine vernünftige Verabschiedung formulieren, ehe ich seine komplette Aufmerksamkeit habe.

"Was immer du dir wünschst, Schneeflocke." Ich hätte erwartet, dass er noch ein wenig spielen will, aber er erhebt sich ... ziemlich nah an meinem Gesicht. Ich spüre seine Nähe zu nah an meiner. Sein Parfüm ist zu dicht an meiner Nase und doch ist es so angenehm, egal wie stark sich mein Bauch zusammenzieht. Meine Hände sind kurz davor, seinen Bauch zu streifen, weil ich sie aus Reflex angehoben habe ... aber ich will nicht zögernd wirken. Ich darf ihn berühren. Im Gegensatz zu mir ist er bequemer damit. Mir gefällt das Gefühl seiner Bauchmuskeln unter dem Hemd und vor allem mag ich es, über seine Taille zu fahren. Der Moment hat ein so plötzlich berauschendes Gefühl. Als würde alles um mich herum schweben und sich drehen. Sein Geruch ist mir so vertraut sowie die Wärme, die ich durch sein Hemd wahrnehme. "Ich muss durch, wenn ich meine Ehefrau ins Restaurant fahren will." Dieser gerissene Mörder! Ich will mich nicht bewegen. Ich bin zu gefesselt und zu angetan, aber ich will es ihm auch nicht zeigen, egal wie langsam ich atme. "Sofort. Ich habe Hunger." Ich kann die Stimmung zu meinen Gunsten lockern und wecke auf seinen schönen Lippen ein zartes Lächeln. "Was immer sich meine Ehefrau wünscht." Daraufhin beugt er sich vor, um mir einen Kuss auf den Scheitel zu geben, nur um mich dann mit einem gewissen Kribbeln im Bauch zurückzulassen.

Das Restaurant ist belebter, als ich angenommen habe. Es wird sehr viel geredet und genau das stört mich. So kann ich mich nicht in Ruhe mit Azad unterhalten, wenn ich es möchte. Es wimmelt nur von reichen Leuten in Anzügen und teuren Kleidern. Hier sitzt keine einzige Person im T-Shirt oder Jeans. Ich sehe sogar tatsächlich eine Frau in meinem Alter mit einem Mann im Alter meines toten Großvaters sitzen. Wie lustig. "Komm." Ich schaue wieder zu Azad, der seine Hand auf mein Kreuz legt und dem schwarz gekleideten Mitarbeiter vor uns folgt. Es hängt ein gigantischer Kronleuchter zentral, dessen Lichtintensität durch die antiken, goldfarbenen Wandleuchten gestärkt wird. Der Boden ist mit dunkelbraunen Hochglanzfliesen ausgelegt und die Decke cremeweiß. Es sieht gut aus, aber ansprechender ist die bepflanzte Terrasse, zu der wir geführt werden. An einem See! Und die weißen Balustraden, umwebt von roten Rosen! Das ist schön. Ich liebe diesen Stil. Auf unserem weiß gedeckten Tisch stecken zwei lila Tulpen in einer kristallinen Glasvase. Die breiten Gläser haben eine Goldumrandung. Das gefällt mir. Und mir gefällt es noch mehr, dass hier kein einziger ist. Wahrscheinlich ist es für die Älteren zu frisch. Uns werden sofort zwei schwere, dunkelbraune Karten mit Goldprägung gebracht. Das Essen war zu erwarten. Pasta, Fisch, Steak, Hummer, Salate. Ich will fast die Karte weglegen, als ich dann plötzlich Orient lese. Also gibt es doch Dinge, die ich mag. Na gut. Dann kann ich wieder auf meinen Standard zurückgreifen, nur weiß ich nicht, ob es ein Dönerteller sein soll oder Shawarma.

"Was nimmst du?", fragt er mich. "Bin mir nicht sicher. Entweder Shawarma oder Dönerteller." "Probier doch etwas Neues, Schneeflocke. Wie wäre es mit Steak?" Ich bin nicht sonderlich angetan davon. Alle haben davon geschwärmt, aber als ich es dann probiert habe, musste ich nachwürzen. "Schmeckt nach nichts." "Hier schon. Ich bestelle dir welches mit. Dazu Kartoffeln und ein guter Salat." "Wenn es nicht schmeckt, töte ich dich." "So einen Nachtisch habe ich am liebsten." Idiot! Ich verdrehe meine Augen, kann gar nicht glauben, dass ich mir etwas anderes andrehen lasse. Azad hebt seine große Hand, woraufhin sich ein Kellner zu uns gesellt. Entweder stand er die ganze Zeit hinter mir in der Ecke oder er ist erstaunlich schnell. "Zur Vorspeise Linsensuppe und für den Hauptgang zweimal das Wagyu Steak. Ihres Medium, meins Medium Rare. Wenn Sie dahaben, bitte Pepsi. Für den Nachtisch melden wir uns noch." So ein Nobelrestaurant bietet Pepsi an? Meine Augenbraue hebt sich, egal wie schlüssig es auch ist, weil hier Helalkost angerichtet wird. Der Kellner geht und ich werde das Gefühl nicht los, dass sich hinter Azads beginnenden Schmunzeln ein gleich angesprochener Grund befindet. "Sag." "Du gefällst mir, Schneeflocke. Da kann ich nicht anders, als zu lächeln." Meine Augen verdrehen sich als Tarnung. Ich darf nicht lächeln.

"Hör auf zu schleimen." "Das ist meine tiefste Passion. Das kann ich nicht so leicht unterbinden. Wie gefällt es dir hier?" "Mir gefällt es hier draußen." Das Wasser ist schön, auf ihm schwimmen Seerosen und Schwäne, es ist angenehm warm und wir sind isoliert von der lauten Geräuschkulisse. "Das freut mich. Du siehst sehr schön aus in diesem Kleid. Lila ist wirklich deine Farbe." Meine Farbe. Ich hatte nie eine Farbe. Klar, der Stein meiner Kette ist Lila und auch der Nagellack, den ich so oft trage und mein ehemaliges Zimmer, aber so grau, wie mein Leben war, hatte ich das Gefühl, dass ich selbst der Farbe entspreche. "Meine lila Tulpe, die sich nicht öffnet und ich mich dennoch stundenlang ihren verschlossenen Blüten hingebe." Er ist wirklich ein alter Schmeichler und so sehr ich mir auch nicht anmerken lassen will, wie sehr es mir eigentlich gefällt, muss ich doch verlegen lächeln. Idiot. Ich schmeiße ihn gleich in den See. "Warst du zu all deinen Affären so?" "Du bist doch keine Affäre." "Ich meine all deine Affären, du alter Mann." Er schmunzelt. "Nein, Schneeflocke." "Lüg nicht." "Wir haben nicht lang und intensiv geredet." Aber intensiv gefickt, denke ich mir, als ich meine Augen verdrehe. "Bist du einfach auf sie zugegangen und hast gesagt, dass du ficken willst?" Ich verstehe nicht, wieso er so überrascht seine Augenbrauen hebt. "Nicht unbedingt. Ich habe gespürt, dass sie sich hingezogen gefühlt haben. Immerhin bin ich ein anschaulicher Mann." "Nicht wirklich", lüge ich matt und streiche mein Kleid glatt. Ich habe ihn lange nicht mehr verunsichert. "Du findest mich nicht hübsch?" Deine Lippen sind schöner als der Rest der männlichen Bevölkerung. "Nein." "Schade, Schneeflocke. Ich finde deine Schönheit bewundernswert und süchtig machend." "Bist nicht der Erste, der das behauptet." Doch, ist er.

"Sag, wer es vor mir gewagt hat." Ich hebe die Augenbraue. Azads Ton ist viel fester und ernster. Ist er wirklich jetzt eifersüchtig? Sein Zeigefinger tippt ungeduldig auf den Tisch, sein Kiefer zuckt in Abständen. "Spielt keine Rolle." "Tut es sehr wohl." Es schwingt tatsächlich Wut in seiner Stimme. Und leider fühle ich mich bei der Ruhe, die er ausstrahlt, unwohl. Wir sind allein hier. Nicht einmal ein Kellner ist hinter mir. Durchatmen. Ich muss tief durchatmen und es kommt mir so vor, als hätte ich die Luft über eine Minute eingehalten. "Passt schon. Wechsel' das Thema." "Ich tue dir nichts, Avin." Er hat es verstanden und warum auch immer, macht mich das ein klein wenig emotional. "Sobald du mich nicht freundlich siehst, musst du dich nicht vor mir fürchten. Dafür jeder andere aber." Er beugt sich vor, um meine Hand nehmen zu wollen. Ich lasse sie in seine Handfläche fallen, rutsche selbst weiter vor. "Ich werde dir nie ein Haar krümmen." Seine Lippen setzen einen sanften Kuss auf meinen Handrücken, ehe er meine Finger spreizt. "Aber ich breche jedem all die Knochen, die du dir wünschst." Daraufhin folgt ein Kuss auf die Kuppe meines Zeigefingers. "Wenn du jemanden tot sehen möchtest, gehe ich dem nach, wie ein Diener." Mein Unterleib zieht sich zusammen ... das ist krank. Aber das massierende Gefühl, als seine Lippen sanft an der Kuppe meines Mittelfingers saugen, will ich über Stunden spüren. Es ist wie ein prickelnder Strahl, der durch meine Körpermitte zieht. "Du musst eine Sache nur anblinzeln und ich werde sofort handeln, meine schöne lila Tulpe." Ich atme tief ein, als er sanft auf meinen Finger beißt.

"Du hast die komplette Kontrolle über einen Mann, der alles kontrolliert."

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