Kapitel 28

Ich fühle mich wie eine richtige Hausfrau beim Auffüllen der großen Handtasche. Getränke, Essen, Taschen- und Feuchttücher, Sonnencreme und, und, und. Der Pilot steht schon bereit auf uns, damit wir nach Oman fliegen. "Haben wir irgendetwas vergessen?", frage ich Azad. "Hast du deine Fußkettchen an?" Meine Augen verdrehen sich. Wäre das Kleid nicht bodenlang, hätte er sie gesehen. "Ich meine Wichtiges." "Die sind wichtig. Sehr wichtig für meine Gesundheit." Was ein Dramatiker. "Etwas, was in die Tasche soll." "Dein Asthmaspray?" Oh mein Gott, wie konnte ich das nur vergessen? Ich will schon hoch, da schiebt er mir mein verziertes Asthmaspray zu. Oh. "Lag im Badezimmer. Ich finde es wichtig, dass es immer in deiner Nähe ist." Das ist auch richtig so. Ich bin ihm dafür dankbar. "Aber süße Steinchen. Man würde eher Stacheln und Nadeln von dir erwarten, aber weiße und pinke Kristalle sind auch schön." Ja, das sind sie. Ich nicke bestätigend, presse meine Lippen aufeinander. "Und du willst ganz sicher keine Sonnenbrille?" "Sehr sicher." Mir stehen keine Sonnenbrillen, warum auch immer. Normale Brillen gehen, aber Sonnenbrillen sind zu einnehmend für mein Gesicht. Bei ihm hingegen ist es ja schon eine medizinische Notwendigkeit. "Ich habe vorsichtshalber Schmerztabletten eingepackt, falls du doch Kopfschmerzen kriegst." "Danke, Schneeflocke." Jetzt, wo ich an seine Kopfschmerzen denke, muss ich an meine denken. Ich hatte sie lange nicht mehr. Gott sei Dank. Ich hasse Kopfschmerzen über alles.

Ich binde mir meine Haare zu einem hohen Zopf. Wenn ich schwimmen sollte, dann heute auf jeden Fall, weil meine Haare fettig sind. "Sind da viele in diesem Wasser?" "Nein, wir fahren allein und entfernt von der Touristengruppe." Gut, gut. Ich wäre dann startklar. "Können los." Aber er scheint mich noch anschauen zu wollen, so wie es den Anschein hat. Seine Augen wandern mein Gesicht hinab zu meinen Schultern und ich vermute auch zu meinen Schlüsselbeinen in diesem langen, schulterfreien, geblümten Kleid. "Steht dir." "Danke. Steh jetzt auf." "Was immer du willst, Schneeflocke." Ich schultere die Tasche und nehme die Tüte in die andere Hand, als Azad dann auf mich zukommt und mir beides abnimmt. "Deine Schulter wird sonst wehtun." Da hat er recht. Hat er sich eigentlich eingecremt? Er wirkt nicht wie jemand, der sonderlich auf Hautschutz achtet, so glatt seine Haut auch ist. Die Nacht war angenehm. Wir haben gestern nicht sonderlich viel geredet, weshalb er ein wenig gearbeitet hat und ich mich mit Dijan unterhalten habe, aber es war nicht unangenehm, als wir gemeinsam im Bett lagen. Nur lag ich nicht eingekuschelt an seine Brust, aber das wollte ich auch nicht. Bei dem Wetter wäre das auch zu viel, egal wie klimatisiert das Haus auch ist. Im Auto spiele ich wieder Freak Like Me ab. Seitdem ich es mit ihm bei unserer Ankunft gehört habe, habe ich einen Ohrwurm davon und will es ständig hören.

"Dein Lieblingslied?" Irgendwie schon. "Ist eins meiner Favoriten." Aber aktuell ist es mir noch mehr ans Herz gewachsen. "Ich hoffe, es erinnert dich immer an mich, Schneeflocke." Tut es und ich weiß nicht, ob ich es bedauern soll oder nicht. Durch den schönen Moment am ersten Abend hier in Dubai habe ich wirklich eine Bindung zum Lied. Ich fühle mich so schwerelos und glücklich, wenn ich es höre. Ich verbinde es sofort mit dem Sommer, der Abendkühle, Autofahrten und Ruhe. Alles, was ich davor schon mit dem Lied assoziieren konnte, aber jetzt ist es anders. Ich habe es wirklich erlebt und gespürt. Eine Sache, die ich immer wollte und von der ich niemals gedacht hätte, dass es wahr wird. Echt schön. Wirklich schön. Ich atme tief durch. Um diese Uhrzeit ist viel los auf den Straßen Dubais. Ich sehe so viele Luxusautos wie noch nie. Bugattis, Aston Martins, Maseratis, so viele Lamborghinis und Porsches, dass es mir schon vorkommt, als wären sie der Standard hier. Wer von ihnen auch so einen Privat-Jet besitzt? Gehört der Privatplatz hier nur Azad oder landen dort auch andere Privat-Jets? Die Hitze überwältigt mich, als ich aussteige. Im Auto war es so erfrischend kühl, dass ich mich glatt wieder reinsetzen möchte, aber ich weiß, dass es im Flugzeug auch so sein wird. Ich begrüße die drei Flugarbeiter und setze mich wieder auf meinen Platz vor Azad, der meine Tasche und die Tüte neben sich abstellt.

"Gefällt es dir bis jetzt in Dubai?" Ich mag solche Fragen irgendwie nicht, weil ich nie weiß, was ich antworten soll, zumal ich oft zu unzufrieden bin. "Es ist nett hier." "Aber gefällt es dir?" "Bis jetzt ist es okay." Dubai ist bis jetzt nichts Besonderes, aber die Aktionen mit Azad waren schön. Seine Mundwinkel zucken amüsiert. "Für dich ist alles okay, oder? Bin ich auch okay?" "Bis jetzt schon." "Das freut mich. Was möchtest du heute essen?" Seine Frage macht mich stutzig. "Wir haben doch essen." "Aber wenn dich das nicht sättigt?" Aber ... wir haben genug essen. "Wir können zu Hause dann kochen. Du musst nicht jedes Mal Geld ausgeben." Das tut er schon oft genug. "Das Geld spielt keine Rolle. Wenn du Lust auf etwas Bestimmtes hast, hole ich es dir. Willst du wieder frittiertes Hähnchen?" Das könnte ich wirklich jeden Tag essen, aber ich verneine es. "Wir kochen heute einfach, wenn wir noch Hunger haben." Das könnte auch sicherlich die Bindung zwischen uns stärken. Wir könnten uns besser kennenlernen. Am Abend zu kochen hört sich schön an. Azad lächelt sanft. "Was immer du dir wünschst, Schneeflocke." Ich hoffe, ich werde nicht müde, wenn wir wieder zu Hause sind.

"Wann möchtest du eigentlich deine Eltern besuchen?" Gute Frage. Keine Ahnung. Als ich zum ersten Mal das neue Haus gesehen habe, musste ich es mir verkneifen, Azad anzuschreien. Ich hoffe, er hat alle Leichenspuren gründlich beseitigt. "Keine Ahnung." "Bist du niemand, der seine Familie schnell vermisst?" "Sehe ich so aus?", frage ich trocken. Ich vermisse nicht. Ich vermisse niemanden. Ob das mit der emotionalen Distanz kommt, weiß ich nicht. Es ist aber wahrscheinlich. "Ich kann dir leider viel zu selten die Emotionen ablesen. Aber würdest du nicht irgendwann deine Mutter vermissen?" "Nein." Ich sehe den Hauch an Verwirrung in seinen Zügen. Wo ist das Problem? Mein Kopf schüttelt sich fragend. "Nicht einmal deine Mutter?", wiederholt er ungläubig. "Immer noch nein." "Aber sie ist doch deine Mutter." "Und?", erwidere ich patziger. Langsam nervt er mich. Ist er etwa einer der Personen, die sagt, dass Familie alles ist und egal, was auch immer sie tun, dass es die Familie ist? Dann kann er zu Dijan und mit ihr diesen Bullshit besprechen, wenn beide zu wenig Selbstwertgefühl haben und alles zulassen, was ihre Familie ihnen antut, nur weil es die Familie ist. Nicht mit mir. "Hat sie denn etwas getan, dass du so denkst?" "Muss sie etwas getan haben, damit ich sie nicht vermissen muss? Ich bin nicht abhängig von ihr. Das ist alles. Ich habe nirgends behauptet, dass ich sie hasse. Ich habe nur gesagt, dass ich sie nicht vermisse. Ich vermisse niemanden. Wo ist da jetzt das Problem?", frage ich am Ende schroff. Er soll meine Geduld nicht überlasten.

Azad wirkt sichtlich verdutzt von meiner kühlen Art. Wenn er nicht weiterredet, wäre ich ihm dankbar, denn er hat absolut keine Ahnung, wie ermüdend es wurde. Er lebt in seiner Bilderbuchfamilie mit dunklem Hintergrund, also hat er kein Mitspracherecht. Ich bin froh, dass ich weg von meiner Familie bin, weil ich so endlich meine Ruhe habe. Ich hatte oft Momente, in denen ich durchdrehen wollte, vor allem wegen des Junkies. Vielleicht ist das der Grund, wieso diese emotionale Distanz herrscht. Ich habe meine Mutter kein Stück davon spüren lassen, aber der Grund, warum ich kein Heimweh habe oder sie oder sonst wen aus der Familie vermissen würde, ist die Vergangenheit. Irgendwann ist ein Teil der Psyche von der eigenen Mutter abgeneigt, wenn man mitbekommt, wie oft sie noch mit dem Zerstörer der Kindheit in Kontakt steht. Wie oft sie mit ihm redet, auch wenn sie ihm nur droht und sagt, dass er nie wieder zu uns in die Wohnung kommen wird. Es wird trotzdem geschrien. Sie bietet ihm trotzdem Angriffsfläche und egal wie oft ich versucht habe, es ihr zu erklären, wollte sie es nicht verstehen. Aber es ist nun mal eine Mutter. Ihr Kind ist Teil ihrer Seele und ohne Hilfe kommt man nur schwer aus dem Teufelskreis. Aber das interessiert mich nur halb. Halb, weil ich auch an mich denke. Ich habe keine Lust und Kraft mehr, mich durch alles zu schlagen. Ich will endlich meine Ruhe und die nehme ich mir auch.

Azad redet zu unseren beiden Gunsten nicht weiter. Wir landen schnell und werden von einem Typen, den Azad offensichtlich kennt, zum Ort des heutigen Tages gefahren. Wir stehen an einem Steg. Tiefblaues Wasser und Berge. Ich mag die Kombination. Wir sind aber nicht die einzigen, die aufs Wasser fahren. "Nehmen wir dieselbe Strecke?", frage ich ihn, den Blick immer noch aufs Wasser gerichtet, als er sich zu mir stellt. "Nein. Wir haben unsere eigene Strecke für mehr Privatsphäre." So stark kann unsere Privatsphäre nicht gestört werden, wenn wir nur sitzen und gucken werden, aber na ja. Was auch immer. Je ruhiger, desto besser. "Du kannst auch dort im Wasser schwimmen." Oh, ich habe eigentlich nicht mit so einem Gewässer gerechnet, wenn ich ehrlich bin. "Am Ende beißt mich ein Hai." "Keine Sorge. Hier ist es sicher." "Zu tief." "Wir fahren erst ein Stück und dann, wenn wir an der klaren Stelle des Wassers ankommen, wirst du weniger Angst haben. Ich bin bei dir." Das nimmt mir nicht wirklich die Sorgen ab, aber ich belasse es dabei. Ich habe gerade nicht sonderlich viel Lust, mit ihm zu reden, weil ich immer noch ein klein wenig genervt von der Konversation im Jet bin. So genervt, dass ich seine Hand nicht nehme, als die mittelgroße Yacht vor uns zum Stehen kommt. Am Ende lasse ich ihm den Vortritt, damit ich weiß, wohin ich muss.

Wir laufen in die Yacht hinein, woraufhin wir am Ende des Gangs über die Treppen wieder oben bei einer großen Menge an Sitzmöglichkeiten rauskommen. Hier stellt er unsere Sachen ab und kurz darauf fahren wir los. Redebedarf habe ich nicht, aber ich habe auch keine Lust zu lesen, also sitze ich einfach nur dort und schaue aufs Wasser, das mich ab und zu trifft und meine Lust erweckt, doch hineinzuspringen. Bei der Hitze hier ist das auch mehr als nur verständlich. "Hast du eigentlich etwas in Dubai gefunden, was du dir gerne anschauen möchtest?" Ich verneine es kopfschüttelnd. "Will nur ans Meer." Ich bin überrascht, dass ich keine schlechte Laune habe. Ich hasse kurzfristige Reiseankündigungen. Ich hasse es über alles. Ich muss mich darauf vorbereiten, ich muss ordentlich packen, ich muss die Zeit wissen und, und, und, aber dieses Mal habe ich einfach so beschlossen, wegzufliegen. Verrückt. Vielleicht liegt es aber daran, dass ich die Kontrolle über alles habe, es nach meinen Bedürfnissen gestaltet wird und vor allem keine Familienmitglieder um mich herum sind, die zu jeder Zeit etwas über meinen Körper sagen müssen. "Wenn du etwas hast, sagst du es mir aber, oder?" "Tue ich." Wenn ich Lust habe und die habe ich gerade nicht. Azad atmet tief ein, lässt die aufgestaute Luft seufzend wieder raus und schaut dann zu mir. Ich erwidere seinen Blick aber nicht. Das Wasser und die Gebirge sind interessanter.

"Du wirkst distanzierter." "Bin ich." "Was habe ich falsch gemacht?" "Misch dich nicht in meine persönlichen Empfindungen ein." Punkt. "Wo habe ich das getan?" "Erinner' dich an das Gespräch im Flugzeug." "Aber ... ich habe nur gefragt." "Du hast geurteilt." "Ich wollte es nur verstehen." "Nicht jeder muss ein perfektes Familienleben haben und nicht jeder muss so stark an seiner Familie hängen, dass sie sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen kann." "Okay. Tut mir leid, wenn ich dich damit irgendwie verletzt habe." "Du verletzt mich nicht." Er soll aufhören zu reden. Meine Kapazitäten sind für heute beschränkt. "Okay", erwidert er leiser. Die Fahrt vergeht still. Ab und zu ist es mir unangenehm, das kann ich nicht leugnen. Nach einer Auseinandersetzung möchte ich mich am liebsten gar nicht bewegen, essen oder trinken, weil es alles Aktionen sind, die ich meiden will, wenn die Gegenpartei noch in meiner Nähe ist. Azad hat sich in der Zwischenzeit schon das T-Shirt ausgezogen und sitzt mit Sonnenbrille im Schatten neben mir. Das Wasser reflektiert die grelle Sonne, weshalb auch ich öfter den Blick senken muss. "Kannst du mich eincremen?" Ich schaue von meinem ausgewählten Punkt auf, aber ich blicke nicht zu ihm, sondern auf seine freiliegenden Hände. "Bitte." Von mir aus. Ich nehme die große Tube aus der Tasche und deute ihm mit einer Gestik an, sich umzudrehen. Das wird das erste Mal sein, dass ich seinen vernarbten Rücken berühre. Der sollte wirklich stark eingecremt werden.

Ich zögere einen langen Moment, als ich dann endlich die Creme verteile. Seine Haut ist warm und weich. Ich beneide ihn dafür, dass er wirklich ganz feine, kaum merkbare Rückenhaare hat. Sein Narbengewebe ist Fest und Rosa. Man spürt die Erhebungen ganz deutlich. Wie haben sich die Schmerzen angefühlt? Hat er in dem Moment überhaupt etwas durch das Adrenalin gespürt? Wann haben die Schmerzen eingesetzt? Wie lang war der Heilungsprozess? Hat er Einschränkungen? Ich habe bis jetzt nichts davon gesehen, aber wer weiß, wie viel doch beschädigt wurde. Vielleicht kann er sich nicht zu stark strecken, nicht zu weit vorbeugen oder seinen Hals nicht zu stark rotieren. Ich trage wieder eine gute Menge der Sonnencreme auf, verteile sie dieses Mal an seinen Schultern, am Nacken und an den Armen. Wie geschmeidig seine Haut doch ist. Ich mag die Muskeln. Mir gefällt es, wie angespannt sein Trizeps ist, weil er sich abstützt. "Hast du dich schon eingecremt?" "Ja." "Überall?" Ich antworte nicht. Das ist ein Annäherungsversuch und ich bin mir nicht sicher, ob ich es zulassen soll. "Vielleicht." "Vielleicht?", wiederholt er verwundert. Ich summe nur, fahre wieder über seinen Nacken. Dieses Mal fühlt es sich geschmeidiger an. Meine Hände gleiten über seine Schultern zu seinem Hals, aber nur um den Rest der Creme dort zu verteilen, egal wie verlockend das Angebot ist, ihn zu erwürgen. "Möchtest du mir etwas sagen?" Ich necke ihn mit einem sanften Zudrücken, lasse meine Hände ihren Weg wieder zurück zu seinem Rücken finden und die dritte Ladung Sonnencreme verteilen. Er hat erstaunlich viel Masse.

Azad zuckt unter meiner Hand zusammen, die über seine Rippen fährt. Ich muss mir mein Prusten wirklich verkneifen. "Kitzelig?" "Ein bisschen, Schneeflocke. Sei doch bitte ein wenig sanfter mit deinem Ehemann." "Sonst erleidet er noch in seinem hohen Alter einen Herzinfarkt." "Richtig und das wollen wir doch nicht." Wie auch immer. Ich beuge mich vor, als ich seine Rippen und zum Teil seinen Bauch eincreme, dabei spüre, wie er seine Muskeln anspannt. Ein kleines bisschen genieße ich es, seine Bauchmuskeln zu spüren, aber ich lasse mir nichts anmerken. "Den Rest kannst du eincremen." "Danke dir, aber bist du überall eingecremt? Sicher, dass du deinen Rücken ausreichend geschützt hast?" Das ist meine Problemstelle. Entweder kann ich ihm diesen Schritt gewähren oder ich riskiere Hautkrebs. Ich verdrehe meine Augen. Nur dieses eine Mal und nie wieder. Ich drücke ihm wortlos die Tube in die Hand und drehe ihm dann den Rücken zu. "Wieso hast du deinen Badeanzug nicht eigentlich schon angezogen?" "Wusste nicht, ob ich hier schwimmen gehe oder nicht. Dann will ich ihn nicht unnötig anhaben und es würde scheiße unter dem Kleid aussehen." "Also mir wäre es nicht aufgefallen." "Dann bist du blind." Ich höre, wie er den Deckel zuklappt und seine Hände aneinander reibt. "Oder ich habe einfach nur Augen für dein hübsches Gesicht. Wäre das keine Möglichkeit?" Was ein Schleimer. "Nein."

Seine Hände legen sich auf meine Schultern an und üben einen sanften Druck aus, der sich ... ganz okay anfühlt. "Kann es sein, dass du verspannte Schultern hast?" "Schon", murmele ich abgelenkt. Es gab nur zwei Personen, die bis jetzt so gute Punkte an meinen Schultern treffen konnten und das waren mein Orthopäde und meine Physiotherapeutin. Gott, das fühlt sich so unbeschreiblich gut an. Ich will liegen und ihn zwingen, niemals aufzuhören. "Das spürt man." Dann locker mich auf, murmele ich in meinen Gedanken. Ich bin gerade viel zu entspannt, um zu antworten. "Vielleicht kommen deine Kopfschmerzen daher." "Du hast selbst in meiner Neuro-Akte geschnüffelt?", murmele ich. Es ist mir gerade so egal. Hauptsache, er hört nicht auf. "Du hast mir erzählt, dass deine Kopfschmerzen das eigentliche Problem für den Besuch bei deiner Neurologin sind oder waren. Aber ja, das stand auch in deinen Patientenakten." "In meinen Patientenakten?", wiederhole ich scharf. "Ja. Neurologie, Orthopädie und Physiotherapie." Krank - und es tangiert mich nur für einen kleinen Moment! Das liegt an seinen Fingern, die mich nicht mehr eincremen, sondern wirklich massieren. Er ist gerissen, dieser blauäugige Mörder. Und er kann unfassbar gut massieren. Ich lasse es nur dieses eine Mal zu und dann nie wieder. Nur einmal, weil ich es verdient habe und er meine Verspannungen lösen kann, wenn er weitermacht.

"Wie lange möchtest du in Dubai bleiben?" "Mir egal", murmele ich. "Wir können auch über Wochen bleiben. Ich müsste aber dann öfter hier arbeiten." "Von mir aus." Solange er nicht aufhört, mich zu massieren, ist es mir egal, wie lange er arbeitet. "Nächsten Monat findet eine Gala statt und ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest." Eine Gala. Eine Gala ist in meinen Augen eine Hochzeit mit reichen Menschen - und darauf habe ich keine Lust. "Muss es sein?" "Es würde mich freuen." Es würde ihn freuen. Muss er immer so nett und zuvorkommend sein und mir all meine Wünsche erfüllen, sodass ich jetzt Schuldgefühle kriege und mich gezwungen sehe, mit ihm auf diese Gala zu gehen? Ich seufze. "Wenn es sein muss." "Darf ich dein Kleid aussuchen?" "Wir schauen." "Das ist kein Nein. Damit kann ich arbeiten." Er schafft es auch immer, aus meinem Negativen etwas Positives zu ziehen. Er ist wirklich das Optimistische in meinem Pessimistischen. Oh! Er trifft einen Punkt. Ja, genau da. "Hör nicht auf", murmele ich. Gott, tut das gut! Das habe ich gebraucht. "Willst du dich nicht hinlegen?" Doch, will ich. Ich krabbele auf allen vieren ein wenig zurück, ziehe die Handtücher aus der Tasche, um sie als Kissen für mein Gesicht zu verwenden und darf seine Hände wieder genießen. Das tut so, so unfassbar gut. "Wenn du deine Arme aus den Ärmeln ziehst, kann ich das Kleid ein bisschen am Rücken runterziehen und dich an weiteren Orten massieren." An weiteren Orten. Nicht zweideutig denken, nicht zweideutig denken! Ich will unbedingt meinen gesamten Rücken von ihm massiert bekommen. So sehr, aber dann sieht er so viel Haut, aber ...

Also schön! Dieses eine Mal lasse ich es zu, aber dann nie wieder! Ich schlüpfe aus den Ärmeln des schulterfreien Kleides, lasse es von ihm ein wenig runter zupfen, aber dann darf ich seine Finger zwischen meinen Schulterblättern spüren. Am liebsten würde ich schnurren, aber das gönne ich ihm dann doch nicht. "Wenn ich ehrlich bin, irritiert es mich, makellose Rücken zu sehen." Ich werde aufmerksam. "Hast du deshalb Komplexe?" "Nicht wirklich. Also ... ich weiß nicht, ob man es als Komplexe betiteln kann. Mein Rücken ist offensichtlich nicht sonderlich schön, aber außer dir wird ihn ja niemand mehr sehen, wenn ich mal nicht mit meinen Geschwistern irgendwo schwimme oder trainiere." Also hat er gewisse Selbstzweifel? "Ich finde die Narben gar nicht schlimm. Sie haben einen gewissen Touch." "Einen gewissen Touch?" Ich nicke. "Schon. Ich finde sie sexy." Fuck. Ich ... ja, ich finde, Narben haben etwas Anziehendes, aber ich wollte nicht so direkt sein. Und ich wollte nicht kundgeben, dass ich etwas an ihm sexy finde, so offensichtlich es bei seiner Gesamterscheinung auch ist. Ich hoffe, er neckt mich nicht. Bitte nicht necken, Azad. Bitte nicht necken. Das ist mir gerade echt unangenehm, weil es so ... es ist ein weiterer Schritt, den ich ihm gewähre. Ich habe mich ungewollt ein kleines Stück geöffnet.

"Danke." Damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Eher mit einem weiteren, einschleimenden, charmanten Satz, der mich versteckt schmunzeln lässt. "Gerne", murmele ich. Es wird still zwischen uns und ich werde das Gefühl nicht los, dass er nachdenkt. Verständlich. Es wirkt so, als hätte ich ihn damit ziemlich überrascht, daher könnte sein Gedankengang in zwei Richtungen gehen: Entweder ist er verblüfft von der Tatsache, dass ich, als trockene, kühle und eher schwer zu beeindruckende Frau, es sexy finde oder es überrascht ihn, dass man seine Narben als sexy betitelt, wenn man seine Bemerkung mit in die Theorie einbezieht. Er bezeichnet meinen Rücken als makellos und empfindet genau das als irritierend, weil seine Narben laut eigener Aussage nicht sonderlich schön sind und er nur das gewöhnt ist. Außerdem interpretiere ich die darauffolgende Aussage als unterschwellige Unsicherheit. Die Narben werden ja nur von mir und im unwahrscheinlicheren Falle von seiner Familie gesehen. "Haben deine Geschwister jemals etwas zu den Narben gesagt?" "Nein. Fast alle meiner Brüder besitzen ebenfalls solche Narben. Mich hat es aber am schlimmsten erwischt, muss ich gestehen." Das sieht man leider auch. Solche Narben habe ich bei Patienten mit Bissverletzung im Gesicht oder starken Verbrennungen gesehen. "Die Attacke schien wohl sehr schlimm gewesen zu sein." "Das war sie, Schneeflocke, aber die Medizin war damals auch nicht sonderlich gut. Sie entwickelt sich ja täglich weiter." Das stimmt. Jeden Tag kommen sicherlich bis zu 70 Erkenntnisse dazu.

"Hat es einen gewissen Grund, wieso du Narben attraktiv findest?" Mich überkommt der Drang, ihn an mich zu drücken. Ich will ihm nichts unterstellen, aber ich habe das Gefühl, dass ihn die Narben doch ein wenig mehr stören, als er zugibt. "Es ist nicht so, dass ich sie im Generellen attraktiv finde. Bei dir sieht es gut aus. Nicht, dass ich Narben sonst hässlich finde. Ich finde sie normal und bei dir eben ... es hat was." "Danke." Gerne. Ich lasse die Mundwinkel kurz nach oben zucken, auch wenn er es nicht sieht. Kurz darauf spüre ich eine kurze Erfrischung durch Sonnencreme auf meinem Rücken, die er auch unter dem Kleid weiter unten auf meinem Rücken verteilt. "Ich gucke öfter auf meinen Rücken, als mir lieb ist." Oh ... Azad öffnet sich tatsächlich. Nicht, dass er davor nicht schon offen war, aber das ist gerade ein intimes Geheimnis. "Verständlich." "Findest du?" "Klar." "Mir kommt es manchmal neurotisch vor. Als würde ich mich dadurch verrückt machen, je öfter ich es mir ansehe." "Ich schätze, es ist eine Sache der Gewöhnung. So etwas braucht seine Zeit, vor allem mit dieser überwältigenden Geschichte dahinter. So etwas kann man nicht von heute auf morgen verdauen. Ich habe immer noch Hass in mir." Und schon wieder rutscht es mir einfach so raus. Ich wollte es ihm gar nicht sagen. "Ist es immer noch schlimm?" Ach, was soll's? "Er taucht manchmal in meinen Träumen auf. Ich habe letztens geträumt, dass meine Mutter ihn hereingelassen hat und er vor meiner Tür stand, am Grinsen und verspotten." Und was für einen Hass ich in dem Moment gespürt habe. Es war unglaublich. Es war so real. Selbst im Traum habe ich es mir unterdrückt, meine Mutter anzuschreien.

"Verständlich. So etwas braucht seine Zeit, vor allem mit dieser überwältigenden Geschichte dahinter. So etwas kann man nicht von heute auf morgen verdauen." Mir entweicht ein seichtes Lachen. "Leider." "Ja, leider", erwidert er leiser. "Wie hast du dich immer gefühlt, mit deinem Bruder-," "Er ist nicht mein Bruder." Er wird niemals mein Bruder sein, egal wie oft er sagt, dass ich seine Schwester bin und dass er mich liebt und wie sehr ich ihn damit doch verletze, dass ich ihn abweise, vor der Tür hocken lasse und die Polizei rufe. Ich glaube ihm kein Wort. Das tut er nur, um in die Wohnung zu gelangen. Ich habe es doch bei meiner Mutter gesehen, die er manipuliert hat. Hinter der Haustür spielt er den zahmen Hund, den perfekt angepassten Schuh, schwört auf Gott und die Welt, dass er sich ändert, benimmt sich höflich und respektvoll, aber sobald er in der Wohnung ist, spricht er schroff, laut und herablassend mit meiner Mutter - und jedes Mal hat es meinen Hass entfacht. Ich hasse ihn. Ich verachte ihn. Wenn er sterben würde, wäre es mir egal und ich würde keinen Moment dafür verschwenden, sein Grab aufzusuchen und für ihn zu beten. "Wenn er dich um Vergebung-," "Nein. Ende der Diskussion." Mit einem Familienmenschen kann man nur selten über so etwas reden. Aber er ist doch dein Bruder. Aber er ist doch immer noch Teil deiner Familie. Familie ist alles. Blut ist dicker als Wasser. Ihr könnt mich alle kreuzweise mit euer einseitigen, zum Teil manipulierten Sichtweise.

"Gibt es eine Sache, die für dich am schlimmsten war?" "Ich weiß es nicht. Alles war schlimm für mich. Am schlimmsten war das letzte Geschehen. Prägend war das der Moment, an dem er mir mehrfach auf den Hinterkopf geschlagen hat." Ich weiß nicht, ob ich gewimmert und geschrien habe oder es nur Teil meiner Einbildung ist. "Wie kam es dazu?" "Er stand hinter mir und ich hatte mir eine Kleinigkeit zu essen gemacht und er war verdammt aufdringlich und wollte auch etwas haben und ich habe ihm mehrfach gesagt, dass er abhauen soll, wurde lauter, woraufhin er die Geduld verloren hat. Ich weiß nicht, wie ich auf dem Bett gelandet bin, aber ich weiß, dass er drei- bis viermal mit seiner Faust auf meinen Kopf eingeschlagen hat. Zum Glück lag mein Oberkörper auf der Matratze." "Hast du Verletzungen davongetragen?" Ich schnalze verneinend mit der Zunge. Nur psychische Verletzungen. "Und dann hat sich das mit dem unangenehmen Gefühl der Männer hinter dir gebildet." Ja. Manchmal will ich mich umdrehen und die ahnungslosen Männer anschreien, weil sie hinter mir vorbeilaufen. "Hat er dich oft geschlagen?" "Früher gab es schon solche Momente. Nicht viele. Er hat mir einmal den Handrücken aufgerissen mit seinen ekligen Nägeln. Ich dachte, die Narbe bleibt für immer, aber das ist zum Glück verheilt." "Stört es dich, wenn ich dir Fragen dazu stelle?" "Ich komme klar." Ich rede nur nie selbst darüber. "Ich bewundere deine Stärke. Du lässt dir nichts anmerken und hast es tapfer gemeistert. Ich bin stolz auf dich." Er ist stolz auf mich. Für einen winzigen Moment spüre ich meine Tränendrüsen arbeiten.

"Danke", murmele ich. Innerlich bitte ich ihn, mich öfter zu loben und mir öfter zu sagen, dass er mich bewundert und stolz auf mich ist. So sehr ich auch stolz auf mich bin und mich für meine Stärke liebe und bewundere, brauche ich diese Worte doch von wem anders. Ich brauche sie, weil ich sie sonst nie von wem anders gehört habe. Ich wollte gehört werden, ohne gehört zu werden. "Es wirkt fast so, als würdest du genau das brauchen. Jemand, der dich unterstützt." Wenn du nur wüsstest. "Schadet niemanden." Seine Hände fahren zu meinen Schultern und drücken sie einmal, woraufhin eine Hand langsam über meine Schulterblätter kreist. "Es würde dir auch nicht schaden, dich mir zu öffnen, Avin. Ich finde, unser Gespräch ist eine gute Basis." So leicht geht das nicht. "Die Basis ist nicht das Endergebnis." "Man baut doch auf einer Basis auf oder nicht?" "Schon, aber eine Basis ist eine Basis und nicht etwas sonderlich Sicheres." "Mit deiner Schlagfertigkeit hättest du das Jurastudium in Erwägung ziehen können." Hatte ich sogar. Ich bekam sogar eine Zusage, aber es ist nun mal die Medizin, die mich seit meiner Kindheit fesselt. Unter seinen kreisenden Fingern könnte ich wirklich einschlafen. "Aber nichtsdestotrotz gewährst du mir einen Schritt in den Weg deines Herzes." "Was macht dich da so sicher?", murmele ich. "Du liegst mit dem Rücken zu mir. Ich habe kein Erschaudern, kein Zucken und keine Aggressionen feststellen können." Das ... er hat recht. Oh mein Gott, das ist mir gar nicht aufgefallen!

Mich überwältigt dieser Fakt tatsächlich. Ich habe ihm freiwillig den Rücken zugedreht und Zugang dazu gewährt. Statt Wut und Aggressionen spüre ich absolute Entspannung und Sorglosigkeit. Wirklich kein Gedanke war in meinem Kopf, der mir Angst gemacht hat, dass er mir etwas tut. Das ist ... das ist unbeschreiblich. Ich habe mich wirklich fallen lassen. Ich habe mit dem Zulassen des Eincremens Azad wirklich mein Vertrauen geschenkt. "Katzen zeigen ihren Bauch nur, wenn sie einem vertrauen." "Bist du meine Katze? Die Krallen hättest du schon mal." Ich finde die Frage süß. Ich mag sie. "Den Biss habe ich auch." "Den nehme ich gerne, Schneeflocke." Noch immer tanzen seine Finger auf meinem Rücken und tatsächlich will ich sie nicht entfernen. Im Gegenteil: Ich möchte gar nicht, dass er aufhört. Das ist ein echt intimer Moment. Erst jetzt nehme ich unsere Umgebung wieder wahr: die Gebirge, das rauschende Wasser, die grelle Sonne, das leichte Wiegen unseres Untergrundes. Es ist schön. Sehr schön sogar. Ich spüre Zufriedenheit in mir. Ich mag den Moment, Azad. Kaum zu glauben, dass ich so schöne Gefühle genießen darf. Mein letzter Asthmaanfall kommt mir wie eine gefühlte Ewigkeit vor. Die Psychosomatik lässt nach, mein Körper und meine Psyche dürfen durch die Sonne, das Meer und seine Hände und Stimme langsam wieder ihren Einklang finden.

Nach so vielen Jahren der Dunkelheit erhellen blaue Sonnen den Weg meines Herzes.

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