Kapitel 21
"Drei Finger ab", sagt meine Mutter dem Schneider. Zur Verdeutlichung hebt sie ihre drei dicken, kleinen Finger, woraufhin er die Stelle misst und markiert. Gerade halte ich den weißen Stoff für das Standesamt-Xeftan an mich. In fünf Stunden darf ich auch Essen. Azad ist am Arbeiten, aber was genau er macht, weiß ich nicht. Wir schreiben nicht sonderlich viel. Er fragt mich immer nach meinem Wohlergehen, ob ich einen Arzt aufsuchen muss und ob ich etwas brauche. Sehr nett von ihm. Meine Blutergüsse heilen auch ab. Es dauert nicht mehr lange und die grün-gelblichen Flecken an meinen Knien werden zu einer vergessenen Erinnerung. Azad hat auch einen Innenarchitekten vor drei Tagen hier hinbestellt, der mit meinen Schwestern und Eltern über die Einrichtung ihres zukünftigen Hauses besprochen hat. Mein Vater ist nach wie vor dagegen und hat schon eine Anzahlung für Azads Vater parat, auch wenn ich weiß, dass dieser es nicht annehmen wird. Ich kann den schönen Stoff ablegen. Der Schneider und meine Mutter besprechen noch einzelne Details für meine Xeftans und schon sind wir fertig für heute. "Meine schöne Tochter wird bald heiraten." Meine Mutter sieht mich stolz an. Ihre Augen glänzen von den Tränen in ihnen. Ich hoffe, sie hat sich ein bisschen von dem traumatischen Erlebnis erholt. Ich lächele leicht, verschanze mich aber dann wieder in meinem Zimmer. Meine Oase, die ich bald nicht mehr haben werde.
Werde ich keine Möbel mitnehmen können? Ich liebe mein Regal und meine Regalbretter, aber wenn der Flur und die äußere Architektur des Hauses meinem Geschmack entsprechen, sollte ich eigentlich nichts zu befürchten haben. Wenn ich ehrlich bin, habe ich schon ein wenig Bange, was die Heirat angeht. Ich weiß nicht, was mich erwarten wird. Wie oft wird seine Familie uns besuchen? Wie verbringen sie ihre Abende? Ich kann nicht zu lange bei ihnen bleiben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich die Kapazität dafür habe. Aber ein paar weitere Male muss ich sie sehen, sonst werde ich mir die Namen und Gesichter nicht einprägen können, außer von Dilnia. Wenn man vom Teufel spricht: Sie schreibt mir gerade.
'Hiiiiiiii' Ich schmunzele bei ihrem Satz.
'Hast du Zeit?'
'Ja', antworte ich.
'Guuuuut. Wollen wir in die Stadt? Ein bisschen shoppen?' Ich habe ja immer noch das Geld meiner Schwiegermutter. Ich habe bis heute nicht gezählt, wie viel es ist. Ich will es gar nicht wissen.
'Klar, gerne.'
'Perfekt! Wann soll ich dich abholen?'
'Du kannst schon losfahren, von mir aus.'
'Oki, bis gleich!!' Mich bringen die vielen roten Herzen am Ende ihres Satzes zum Schmunzeln.
Ich brauche keine zehn Minuten, bis ich fertig bin, weil ich meine Hautpflege schon vorhin gut aufgetragen und einziehen lassen habe. Dijan wollte auch mit mir in die Stadt, aber natürlich musste ihre Mutter es ihr wieder verbieten. Ich bete, dass sie schnell heiratet. Ich heirate ... ich kann es immer noch nicht glauben! Noch bereue ich es nicht und wenn ich ehrlich bin, wage ich es zu bezweifeln, es zu bereuen. Ja, die Ehe wird lebensbedrohliche Konsequenzen mit sich tragen, aber es interessiert mich aktuell nicht, so lebensmüde es sich auch anhört. Das ist mir lieber als noch weitere Jahre mit dem Junkie zu leben, durch das Geschrei von meiner Mutter und ihm geweckt zu werden, jedes Mal die Polizei rufen zu müssen und das von Tag für Tag. Woche für Woche. Ich habe keine Kraft mehr. Hoffentlich spricht mich Azad nie mehr darauf an. Hoffentlich muss ich ihn nie wieder aus Angst anrufen, damit er mir hilft. Ich mag es nicht, andere nach Hilfe zu fragen, weil ich es hasse, mich auf andere zu verlassen. Deshalb tue ich es nicht. Die meisten Versprechen wurden sowieso nie gehalten. Als die Polizei den Junkie nach dem Verstoß des Platzverweises nicht mitgenommen hat, obwohl sie es mir immer gesagt haben, hat es mir gezeigt, wie nutzlos diese Gesetze vor dem Übel sind. Deshalb hasse ich es auch, wenn sich andere auf mich verlassen. Ich bin eine verlässliche Person und vom Gefühl her bin ich die einzige Zuverlässige, die ich kenne. Und weil ich niemanden habe, auf den ich mich verlassen kann, bin ich nur widerwillig die, auf die man sich verlassen kann.
Als Dilnia unten auf mich wartet, gebe ich meiner Mutter Bescheid und trete in den versifften Aufzug. Welcher ekelhafte Bastard hat hier drin gekifft? Nichts stinkt so sehr und ekelt mich mehr an wie kiffende Versager und Trinker. Da sind Raucher noch im unerwünschten Grenzbereich. Ein Glück kann ich schnell aus dem Aufzug treten. Vor der Tür steht ein schicker roter Mercedes-Benz. Das Modell kenne ich sogar. Das ist ein CLA 180 Coupé. Echt schön. Und schon wieder erinnere ich mich daran, endlich nach einem Gebrauchtwagen zu schauen. "Hi!" Dilnia zieht die Begrüßung so niedlich in die Länge. Ein klein wenig wie Dijan. Ich schmunzele deshalb. "Hi", grüße ich sie zurück, als ich mich anschnalle. "Also! Was willst du dir kaufen? Ich habe einen echt schönen Schal gesehen und ich will ihn haben." Wenn ich ehrlich bin, habe ich absolut keine Ahnung, was ich mir holen will. Um meinen Lieblingsduft muss ich mich wahrscheinlich mehrere Jahre nicht mehr kümmern. Immerhin. "Ich schaue, was es so gibt", murmele ich. "Ist alles in Ordnung?" Ich bestätige es. "Aber du wirkst so ruhig." An der roten Ampel schaut Dilnia schmollend zu mir. Sie trägt heute aufgemalte Sommersprossen quer auf den Wangen und ihrem Nasenbein verteilt. Es steht ihr. Ich habe während meiner Abiturzeit einmal versucht, mir Sommersprossen mit Henna zu machen und es war eine traumatische Vollkatastrophe. "Alles gut. Ich bin oft so." "Okay. Nerve ich dich, wenn ich viel rede? Ich kann nicht anders. Ich muss immer erzählen, was mir passiert ist." "Damit habe ich kein Problem", beruhige ich sie schmunzelnd. Dilnia ist eine der wenigen Personen, die mir sympathisch ist.
"Dann bin ich erleichtert. Hat dir deine Mutter eigentlich Bescheid gegeben, dass wir heute bei Azad das Fasten gemeinsam brechen?" Nein. Schön, dass ich das auch mal mitbekomme. "Nein, hat sie nicht." Ich habe nicht damit gerechnet, dass Azad uns zum Essen einlädt. Er hätte es mir mitteilen können. "Und Azad auch nicht?" "Nein, er auch nicht." Dilnias Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Aber zu mir meinte er, dass er dir Bescheid gegeben hat." Jetzt ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Wann bitte? Ich zücke mein Handy auf dem ich keine Benachrichtigung und keine rote Zahl sehe ... aber als ich auf die App gehe, sehe ich eine ungelesene Nachricht. Schon heute Morgen. Schneeflocke, heute bist du und deine Familie zu Gast in deinem zukünftigen Haus. Oh. "Schon gut. Er hat mir doch geschrieben", murmele ich. Wie kann ich diese Nachricht nicht sehen, wenn mir sonst kaum einer schreibt außer Dijan, wenn ihre Familie sie nicht schon wieder für eine Sache knechtet und sie ihrer Freiheit beraubt? "Super! Ich freue mich richtig auf dieses Essen. Dilvin möchte dich dringend näher kennenlernen." Dilvin ... es sagt mir überhaupt nichts, aber spätestens heute weiß ich Bescheid. Ich weiß, dass es auch eine Suzan gibt. Wenn ich mindestens eine von den anderen Schwestern sehe und sie von den Schwägerinnen auseinanderhalten kann, dann werde ich mit den Geschwistern klarkommen ... zumindest mit den Schwestern.
"Und wie läuft dein Leben so?" Ach ... nicht sonderlich anders als sonst, nur ruhiger und mit einem blauäugigen Mörder verlobt. Das Alltägliche. "Ganz okay." Dilnia verzieht das Gesicht, als hätte ich ihr den Geruch vom Proteus mirabilis oder vom E. coli erklärt. "Hört sich nicht sonderlich gut an, aber es sollte nichts sein, was ein wenig Shoppen nicht ändern könnte. Azad hat zurzeit einen neuen Lieblingsduft. Er trägt immer ein kleines, oranges Fläschchen mit sich. Das riecht richtig gut!" Das ist mein Duft. Es schmeichelt mir, dass er es mit sich trägt. "Das riecht wie deins irgendwie." Mein Mund öffnet sich, aber zuerst verzieht es sich zu einem Schmunzeln. "Es ist auch meins." "Wie? Er trägt dein Parfüm? Ist das kein Frauenduft?" "Unisex, soweit ich weiß." Dilnia summt verstehend. "Das riecht echt gut. Und es ist total süß von ihm, dass er immer so eine kleine Reisegröße bei sich hat." Das ist es tatsächlich. Ich lächele sanft. Alter Charmeur. "Ich wusste gar nicht, dass er so romantisch sein kann. Sonst ist er nur am Arbeiten, am Bauen und ... und so weiter." Und so weiter. Dilnia braucht es gar nicht so zu umschreiben. Immerhin war ich ja live dabei. "Und so weiter", wiederhole ich vielsagend. Meinen Blick richte ich auf meine Nägel, um mich in der unangenehmen Stille abzulenken, die gerade eintritt. Wie es wohl Dilnia belastet, so ein Leben zu führen? Irgendwie wird es sie ja auch treffen oder etwa nicht?
"Wie ist es für dich?" "Was meinst du?" "So ein Leben zu führen, als Familienmitglied der Mafia." Ein kurzer Blick zur Seite reicht, um zu sehen, dass Dilnia kein bisschen mit dieser Frage gerechnet hat und auch ziemlich überfordert wirkt. "Äh ... wie meinst du das?" Obwohl überhaupt nichts witzig ist, muss ich schmunzeln. "Dilnia, ich weiß Bescheid. Tu nicht so. Ich bin mit dem lebenden Beweis verlobt." Wahrscheinlich ist die rote Ampel gerade ihr Feind. Sie klimpert mit ihren Gelnägeln auf dem Lenkrad herum, wartet ungeduldig darauf, dass die Ampel grün schlägt. Dabei weiß sie gar nicht, dass der erste Autofahrer nicht auf die Schwelle gefahren ist, die das Signal weiterleitet und wir so lange an dieser roten Ampel stehen bleiben, bis jemand den Fahrer aufmerksam macht und er ein Stück weiter vorfährt. Das kann lange dauern. Ich lehne mich entspannt zurück, schaue mir seelenruhig die Ampel und die Autos vor uns an, bis Dilnias kurzer Geduldsfaden reißt. "Es ist einsam." Ich schaue wieder zu ihr, sehe nichts mehr von der Anspannung, sondern pure Betrübtheit. "Hätte ich nicht so viele Geschwister, wüsste ich gar nicht, was ich zu tun hätte. Ich hatte keine richtige Schulzeit. Die Leute auf der Privatschule sind verdammt komisch, Avin. So spießerhaft! Klar, ich bin auch reich, aber die waren so geschmacklos reich und ..." Sie seufzt resigniert, kaut daraufhin auf dem Nagel ihres Daumens.
"Man weiß anfangs nicht, wie man damit umzugehen hat. Wie reagiert man, wenn man zum ersten Mal Schüsse hört? Wie reagiert man, wenn zum ersten Mal der Vater oder Bruder verletzt nach Hause kommt? Ich kann von Glück sprechen, dass mir noch nie so etwas passiert ist." Ich nicke mitfühlend. "Mit der Zeit wird es einem doch irgendwie egal, obwohl es nicht so sein sollte. Ich kann mir aber nicht jedes Mal den Kopf darüber zerbrechen, weißt du? Irgendwann wird es zur Gewohnheit und außerdem besprechen die Männer es sowieso immer untereinander, sodass wir nicht zu viel mitbekommen. Es ist einsam, weil ich außer meiner Familie niemand anders habe. Ich bin so froh, dass ich Schwägerinnen habe und als ich mitbekommen habe, dass Azad heiraten möchte, habe ich Tränen vor Glück bekommen." Oh, wie süß! Dilnias blauen Augen füllen sich schon wieder mit Tränen. Um uns herum hupt man schon, weil der Vordermann nichts versteht. "Ich hatte deshalb auch sehr viele Beziehungen. Nichts von wirklicher Bedeutung oder irgendwelchen Gefühlen. Ich wollte einfach nur Leute kennenlernen. Es war mir auch immer egal, wenn ich erwischt wurde. Das war wenigstens eine Erfrischung in dieser ganzen Eintönigkeit." Eine Erfrischung in der Monotonie. Ich könnte ein ganzes Buch darüber schreiben. Ich nicke verstehend. Das Hupen um uns herum wird langsam ziemlich penetrant. Dilnia stößt jetzt auch dazu.
"Mann! Wie lange bleibt diese Ampel noch rot?" "Der Typ muss ein Stück vorfahren, aber das wird jetzt geklärt." An uns läuft ein Fahrer vorbei, um den roten Kombi auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Kurz darauf können wir auch schon wieder losfahren und steigen wenig später aus dem Auto, gehen zum Aufzug des Parkhauses und enden wenig später im großen Center. "Ich muss mir unbedingt diesen Schal holen. Da ist auch schon der Laden. Danach können wir machen, was du willst. Versprochen!" Dilnia zieht mich zum Louis Vuitton Store hinein. Anscheinend ist sie hier sehr oft, so zielsicher sie nach links steuert und sich den brauen, seidigen Schal zur Hand nimmt. "Jetzt kann ich in Ruhe sterben. Setz dich, ich gehe kurz bezahlen." Das tue ich auch für die kurze Zeit. Hier sind nicht sonderlich viele drin, also hätte ich auch ruhig stehen können. Wie viel der Schal genau kostet, weiß ich nicht. Ich höre nur die 300 raus, aber das reicht mir, um mich zu empören. Ist es wirklich so teuer, weil es qualitativ hochwertig ist oder nur aufgrund des Namens? Ich bin mir sicher, dass es zweiteres ist. Dilnia hält mir stolz ihre orange Tüte hin und zieht mich überglücklich raus aus dem Laden. "Ich liebe deren Frühlingskollektionen. Die haben immer so süße Sachen!" Finde ich persönlich jetzt nicht, aber gut. Es ist ja ihr Geschmack.
Ich merke, wie unterschiedlich Dilnia und ich sind. Im Laden brauche ich nicht lange, bis ich etwas finde, was mir gefällt, während sie sich alles dreimal an ihre Brust halten muss, um zu entscheiden, ob es zu ihrem Hautton passt. Eigentlich will ich mir nichts holen, aber dann erinnere ich mich wieder an die potenziellen ... Flitterwochen? Soll ich das so nennen? Klar, wir sind verheiratet, aber irgendwie fühlt es sich komisch an, diesen Urlaub wirklich als Flitterwochen zu titulieren. Werden wir denn wirklich Urlaub machen? Azad hatte so etwas angesprochen, aber wer sagt denn nicht, dass es aufgrund seines Terminkalenders doch nicht hinhaut? Ich sollte ihn fragen, bevor ich mir eines dieser süßen Kleider hier nehme.
'Wie steht es eigentlich mit dem gemeinten Urlaub?' Es gefällt mir sehr, dass er meine Nachricht sofort liest und direkt zu tippen beginnt.
'Sie ist so sicher wie unser Gelöbnis. Wieso fragst du?'
'Nur so.'
'Sicher? Es scheint, als hättest du darüber nachgedacht.'
'Schon.'
'Und?'
'Ich wollte nur sichergehen, bevor ich mir ein Kleid kaufe. Es kann ja sein, dass es doch nicht klappt.' Wäre ja nicht das erste Mal, dass ich enttäuscht werde.
'Ich halte immer mein Wort, Schneeflocke. Kauf dir so viele Kleider, wie du möchtest. Ich schicke dir das Geld dafür.'
'Passt schon.'
'Ich bestehe darauf.'
'Ich aber nicht. Ich habe genug Geld bekommen.'
'Ein bisschen mehr wird dir nicht schaden.'
'Genug.'
Ich packe mein Handy wieder ein. Es ist nett von ihm, mir Geld zu geben, aber ich habe mehr als genug von seiner Mutter erhalten, um mir vermutlich für jeden Tag im Monat ein Outfit zu finanzieren. Ihre Großzügigkeit reicht mir. Das lila geblümte Kleid ist echt süß. Ich mag Kleider eigentlich, aber dadurch, dass ich nie einen Anlass hatte, sie zu tragen, habe ich mir nie welche geholt. Ich nehme es mir. "Das ist echt voll süß. Darin werden deine Brüste perfekt aussehen." Dilnia verzieht missmutig ihre Lippen, weshalb ich schmunzeln muss. "Welche Körbchengröße trägst du?" Meine Augenbrauen heben sich belustigt. Arme Dilnia. "85C." Sie nickt. "Cool. Das Drei- oder Vierfache von mir. Ich trage -75A wahrscheinlich." Ich seufze nur, als ich meinen Arm um sie lege und mit ihr die anderen Abteilungen aufsuche. Sie scheint meine kleine Assistentin spielen zu wollen, so viele Sachen, sie mir anbietet. "Das ist doch auch voll süß und schau mal dieser Rock!" Mir bleibt keine Zeit, um zu reagieren, weil Dilnia mir alles in die Hand drückt und nach weiterer Kleidung schaut. "Diese Bluse musst du dir holen! Die wird sich richtig gut an deinen Brüsten machen!" Ich hoffe so sehr, dass sie nicht dabei an Azads Gelüste denkt und ich ärgere mich tief im Inneren darüber, dass seine blauen Augen in meinen Gedanken aufblitzen, die mich mustern, während ich diese geblümte Bluse trage. Ironischerweise sind die Blumen sogar blau. "Die gibt es auch in Pink und in Grün." Und noch ironischer ist es, dass es nur in Blau gut aussieht. Was solls? Ich nehme es einfach.
Dilnia und ich haben gut viel Zeit beim Einkaufen vertrödeln können. Gute drei Stunden, um genau zu sein. Aber ich finde es gut, dass sie mich genötigt hat, alle Sachen anzuprobieren. Nur bei der Unterwäsche habe ich mich geweigert. Ich wollte gar nicht in die Abteilung, aber Dilnia hat für ihren zierlichen Körperbau erschreckend viel Kraft und so habe ich jetzt auch Unterwäsche geholt, bei der ich immer wieder den Fakt verdrängen muss, dass sie vermutlich weiß, wofür es bestimmt ist ... sollte ich mich dazu entscheiden. Und wieso zur Hölle habe ich mir blaue Unterwäsche ausgesucht?! Ach, ist doch jetzt egal! Fakt ist, dass ich jetzt wieder zu Hause bin und mich nach dem Gebet langsam für das Essen bei Azad fertig machen muss ... oder auch nicht? Wieso sollte ich mich denn noch weiter fertig machen? Jeans und T-Shirt. Reicht doch oder etwa nicht? Es ist dieselbe Jeans und dasselbe weiße T-Shirt, die ich damals beim Schießen anhatte ... oder vielleicht doch etwas anderes. Ich stöbere mal in meinem Schrank und ausgerechnet jetzt stechen mir all meine blauen Oberteile ins Auge. Ich nehme einfach mein lila Jäckchen und ziehe es mir über das T-Shirt. Sieht doch jetzt komplett anders aus. Nur noch Haare zu einem tiefen Zopf binden und warten, aber so lange warten muss ich anscheinend auch nicht, da wir schon früher losfahren. Warum auch immer. Das tun wir sonst auch nie.
Der Weg dahin füllt mich mit einer komischen Nostalgie. Keiner weiß und keiner wird von dem Essen von Azad und mir wissen, deshalb spiele ich die Unwissende auf den Weg dahin. Schon verrückt, das Ganze. Es kommt mir so vor, als wäre erst gestern alles dazu gekommen. Das Kennenlernen, die Treffen, die Entscheidung, das Versprechen. Es dauert nur noch einige Monate, bis ich studieren kann. Ich sollte die freien Monate wirklich nutzen und entspannen, denn wenn das Studium losgeht, werde ich alles andere können, als zu entspannen. Wohin soll der Urlaub überhaupt gehen? Ich schreibe Azad am besten an, bemerke aber noch beim Antippen der App, dass er mir geschrieben hat. Bin ich blind und taub oder stimmt etwas mit meinem Handy nicht, dass ich die Nachrichten nicht sehe?
'Gib mir bitte Bescheid, wenn ihr losfährt.' Das hat er vor einer halben Stunde geschrieben.
'Sind auf dem Weg.' Und sofort färben sich die Haken blau.
'Gut. Hast du großen Hunger?'
'Kaum.'
'Dann bin ich beruhigt, Schneeflocke.'
'Welchen Urlaubsort hattest du im Sinn?'
'Es beruhigt mich, dass du auch manchmal an uns denkst. Ich führe dich an alle Orte, die du dir wünschst.'
'Mir reicht einer.'
'Hast du einen Favoriten?'
'Nein. Kenne keine Urlaubsorte.' Außer die der Klassenfahrten und Italien konnte mich nicht beeindrucken.
'Was möchtest du denn gerne machen?' Gute Frage.
'Keine Ahnung. Meer reicht mir.'
'Ich habe ein Haus nahe des Meers in Dubai.' Natürlich hat er das. Was hat er denn nicht?
'Wenn es keine Umstände macht.'
'Du machst mir keine Umstände, Schneeflocke. Wie lange möchtest du bleiben?'
'Keine Ahnung. Solange es deinen Terminkalender nicht umstrukturiert.'
'Du machst mir immer noch keine Umstände. Wir bleiben so lange du möchtest.' Es fühlt sich echt schön an, sich nicht an andere passen zu müssen. Endlich einmal.
'Danke.'
Als ich wieder aufsehe, fahren wir gerade am schönen See vorbei, den ich so liebe. Wir sind also gleich da. Das schreibe ich Azad am besten. An den Toren stehen Sicherheitsmänner und das ist der Grund, wieso ich peinlich berührt den Blick senke. Ich hoffe so sehr, dass meine Eltern oder Schwestern keine Fragen dazu stellen. Meine Mutter und Schwestern sind ganz vernarrt in das große Anwesen. Verständlich. Es ist eine wunderschöne Villa mit reichlich Platz für sicherlich fünfzig Autos, wie es den Anschein hat. Jeder Bruder und jede Schwester scheint wohl ein hübsches Auto zu fahren. Da passen wir mit unserem älteren Audi ja blendend hinein. Azad wartet schon unten an der Treppe auf uns. Mein Herz schlägt zwar nicht schnell, aber mein Bauch zieht sich zusammen. Es ist mir immer noch nicht geläufig, ihn zu sehen, wenn meine Familie dabei ist. Meine drei Schwestern quetschen sich vor mir aus dem Auto. Ich lasse mir fast mehr Zeit als mein Vater, als ich aussteige. Dabei mustere ich seine Haltung. Wie gerade er steht, die Arme hinter dem Rücken, ein sanftes Lächeln, als meine Mutter auf ihn zugeht und umarmt. "Bi xêr haten." Wie schön sich seine Stimme auf Kurdisch anhört. Meine Mutter freut sich sehr über seinen Willkommensgruß und erwidert ihn voller Liebe, als wäre sie seine Oma. Meine Schwestern scheinen da genauso offen zu sein wie sie, aber ich bin da reservierter. Ich nicke nur halb, ehe ich die Treppen aufsteige. Nur verstehe ich nicht, wieso sich mein Bauch wieder zusammenzieht, als ich an ihm vorbeilaufe. Warum ich aber erschaudere, weiß ich seit meiner Kindheit.
Das Haus ist voller Leben. Im Wohnzimmer wird laut geredet und gelacht. Im Flur huschen einige Bedienstete und Frauen herum, die entweder Schwägerinnen oder Schwestern sind. "Kommen dein Bruder und deine Schwägerin noch?" Azads plötzliche Stimme zu meiner rechten lässt mich minimal zucken. Ich habe ihn nicht bemerkt. "Sie sind auf dem Weg." "Und deine Freundin?" Meine Augen verdrehen sich halb. "Weit weg von deinem Zwillingsbruder." "Ich habe meinen Namen gehört?" Wenn man vom Teufel spricht. Aras hebt seine Arme für eine Umarmung an, die ich nur halbherzig erwidere. Nur aus Höflichkeit, weil er auf mich zukommt. "Ich habe gehört, dass du mich nicht an deine Freundin lässt." "Mit dieser Artikulation nicht einmal, wenn dein Leben auf dem Spiel steht!", keife ich. Als Strafe kneife ich ihn sogar, aber er nimmt es gelassen. Sein Grinsen bleibt, als wir uns voneinander trennen, woraufhin er zu Azad schaut. "Entschuldige uns. Ich muss meine Schwägerin entführen." Das sorgt für ein strenges Zusammenziehen der Augenbrauen meines Zukünftigen, aber ich bin gerade zu lethargisch, um irgendetwas anzusetzen. Daher lasse ich mich an meinen Schultern zu den Treppen führen. Aufsteigen werde ich nicht. Ich war schon gerade kurz davor, einen Hustenanfall zu bekommen. "Also liebste Schwägerin. Du bist jetzt schon meine absolute Lieblings-," "Komm zum Punkt", unterbreche ich ihn trocken. Mir gefällt es, dass er sich seufzend die Hände reiben muss.
"Wie viel muss ich dir geben, damit ich die Nummer deiner Freundin kriege?" Und schon verdrehen sich meine Augen. "Machst du das immer so? Dir alles erkaufen? Sie ist keine käufliche Dame und ihr gefallen solche Praktiken auch überhaupt nicht." Und schon wieder entkommt dem blauäugigen Zwillingsbruder ein kleines Seufzen, als er zur Seite schaut. "So meinte ich das gar nicht", murmelt er. "Natürlich nicht. Wie hätte man es auch anders deuten können als wie eine halbe Nutte?" "Avin!" Aras Augen weiten sich. "Ich mein ja nur", erwidere ich gelassen. Es stört mich ungemein, dass er eine so anmaßende Ader besitzt. Wenn er ein wenig bodenständiger wäre, wenn er mehr wie sein jüngerer Zwillingsbruder wäre, dann würde ich es ihm eventuell gewähren. "Du weißt, wie man Leute beeinflusst und sie einschüchtert, ohne viel zu machen. Das muss ich dir lassen", merkt er mit gehobenem Zeigefinger an. Wie er meint. Ich bin nur ehrlich. "Bist du fertig?" Ich muss Dijan immer noch den Lipgloss zurückgeben, argh! Ich vergesse es jedes Mal! "Wie kann ich dich überzeugen, mir ihre Nummer zu geben?" Zieht er gerade wirklich verzweifelt die Augenbrauen zusammen? Ich kann da gar nicht anders, als zu schmunzeln. "Bist du nicht in der Lage, sie dir zu besorgen?" "Doch, aber ich weiß doch, dass du ein großes Mitspracherecht hast und es würde doch komisch kommen, wenn ich aus dem Nichts ihre Nummer habe." Berechtigtes Argument. "Fang an, weniger arrogant zu sein." Aras tritt zurück, hält sich die Brust, als hätte ich ihn angeschossen. "Arrogant?" Seine Augenbrauen heben sich. Ich nicke. "Du hast etwas Großspuriges an dir. Das mag sie überhaupt nicht." "Ich bin so wie immer." "Das ist ja das Problem", erwidere ich schmunzelnd, woraufhin er sich wieder empört, aber nichts sagen kann. Damit ist das Gespräch für mich vorbei und ich kann wieder gehen ... nur treffe ich auf den jüngeren Zwillingsbruder.
"Hast du gelauscht?" "Nein." Komisch. Sonst spricht Azad auch immer von sich aus elaboriert. "Kann es sein, dass du lügst?" "Niemals, Schneeflocke." "Ich glaube dir kein Wort, du blauäugiger Mörder." Ich will an ihm vorbei ins Wohnzimmer, als nun er anscheinend an der Reihe ist, mich an den Schultern wieder zu den Treppen zu ziehen. Wenigstens ist Aras nicht mehr hier. "Was willst du?" "Möchtest du das Schlafzimmer sehen?" Meine Augenbrauen ziehen sich bei der Frage zusammen. Woher kommt das plötzlich? "Passt schon", gebe ich mit offensichtlicher Verwirrung von mir. Wieso hat er gelauscht und warum wirkt er so ungeduldig? "Kann ich sonst was für dich tun?" "Was hast du getan?" Mein Ton rutscht ganz von alleine ins Kühle. Was will er wiedergutmachen? Azad reagiert ähnlich verdutzt auf meinen Ton wie sein Zwillingsbruder. "Nichts." "Was wird das hier dann?" "Ich habe dich vermisst." ... oh. Manchmal komme ich mir mit meiner Art echt dumm vor, weil ich alles so schlecht und misstrauisch betrachte. Azad nickt betreten, als er sich über seinen Nacken fährt. Das schwarze Hemd steht ihm. "Du hast es echt drauf, Leute zu verunsichern, Schneeflocke. Ist irgendetwas vorgefallen, dass du auch auf WhatsApp so kühl bist?" Oh ... er meint mein Naturell. "Nein, ich bin immer so." Ob es eine Beruhigung oder eine temporäre Belastung für ihn ist, weiß ich nicht. "Okay. Möchtest du ein wenig am See spazieren?" Dazu sage ich nie nein. Ich gehe nur schnell alle im Wohnzimmer begrüßen, ehe ich mir wieder meine Schuhe anziehe und mich von Azad führen lasse.
Es ist jedes Mal ein wunderbares Gefühl, durch das Gras zu den Steinen am See zu laufen. Obwohl ich sehr wählerisch bin und mich oft vieles nicht zufrieden stellt, ist das der Ort, an dem ich nichts zu bemängeln habe. Überhaupt nichts. Selbst die unregelmäßig angeordneten, großen Steine, auf denen wir Platz nehmen, sind perfekt. Ich genieße es voll und ganz hier und freue mich schon im Sommer, auf dem warmen Stein hier Platz nehmen zu dürfen. "Dir gefällt dieser Ort sehr, stimmt's?" Ich nicke. "Es ist meine kleine Oase." "Das ist sie tatsächlich. Wirklich deine." Ich nicke, summe leise. Hier will ich jeden Sonnenuntergang genießen. Vielleicht wird dieser Sommer ja endlich mal einer, der mir positiv in Erinnerungen bleibt, statt als der 24. Sommer der Monotonie einzugehen. "Ich habe das gesamte Grundstück gekauft." "Ist mir bewusst." Was soll ich mit dieser Information anfangen? "Nein, Schneeflocke. Du verstehst mich falsch. Der See und das gesamte Grundstück waren nicht in meinem Besitz." Moment ... will er mir sagen, dass er den See gekauft hat? Ich drehe mich ungläubig zu ihm. Nein ... oder? "Hast du ... du hast den See gekauft?" Azad nickt, als wäre es ein normaler Wocheneinkauf, den er mir bestätigt. "Oh mein ..." Ich schaue zum See und wieder zurück zu ihm. "Warum?" "Du magst den See doch." "Ja, aber ... ich hatte doch sonst auch immer Zugang dazu! Dafür musst du doch kein Geld ausgeben!" Oh mein Gott, wer weiß, wie viele hunderttausend das gekostet hat!
"Falsch, Schneeflocke. Du hattest nur temporären Zugang zum See. Nur solange, bis die Stadt keine anderen Pläne hätte oder eine andere Person das Grundstück gekauft hätte. Sieh es als Hochzeitsgeschenk." Hochzeitsgeschenk ... das ist ein megalomanisches Hochzeitsgeschenk. Ich ... ich bin überrumpelt. Es ist wirklich nett von ihm, aber ... wow. Ich atme einmal tief durch und weil ich nichts darauf erwidern kann, schaue ich verstummt auf den See. "Ich habe den See nach dir benennen lassen." Jetzt hat der See auch noch einen Namen, wow. Das ... ich bin wirklich baff. "Dankeschön", murmele ich. Wie blöd ich mir gerade vorkomme, ist nicht in Worte zu fassen. Er macht alles für mich, kauft mir sogar einen ganzen See, den er nach mir benennt und ich schreibe anscheinend so trocken und kalt, dass ich ihn damit verunsichere. Armer Azad. Vielleicht bringt uns ja der Urlaub näher. "Möchtest du etwas?" Ich komme mir langsam immer schuldiger vor, weil ich kaum etwas dazu beitragen kann. Ich will mich aber auch nicht zwingen, aber gerade habe ich verdammt großen Mitleid mit Azad, weil er sich wirklich bemüht ... aber was ist, wenn das nur ein Schein ist? "Nein, Schneeflocke. Mir reicht es, wenn du mit mir interagierst." Das hört sich so schön an. Zu schön, um wahr zu sein. Würde Dilnia mich nicht irgendwie vorwarnen, wenn es so wäre? Ich setze mich langsam auf, schlinge meine Arme um ich. Mir ist plötzlich nicht mehr so warm, wie vor dem ernüchternden Gedanken.
"Können wir wieder rein?" "Welcher Gedanke macht dir Angst?" Wenn du nur wüsstest. Selbst hier zu sitzen, bietet eine potenzielle Gefahr. Wie soll ich mich dann im Urlaub richtig entspannen? Was ist, wenn er im Urlaub erst sein richtiges Gesicht zeigt? Da, wo mir keiner helfen kann? Ich stehe wortlos auf. Mein Blick ist auf einen losen Punkt auf dem Boden gerichtet, sodass ich es nicht kommen sehe, gegen seine Brust zu laufen. Es geht alles so schnell. Sein Körper vor mir. Seine Hände an meinen Oberarmen. Die Wärme, die durch meinen ganzen Körper rauscht. Sein herbes Parfüm, das mir so angenehm in die Nase steigt. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Einerseits will ich mich von ihm lösen und gehen, aber andererseits fühlt es sich so schön an. So geborgen. In seinen Augen liegt so viel Sorge. Sorge, die ganz mir gewidmet ist. Ich könnte alleine deshalb weinen. Ich bekomme endlich die Aufmerksamkeit, die ich verdiene in all den Jahren, in denen ich nur tue und mache. Ich lehne meine Stirn wortlos an sein Brustbein, lasse zu, dass sich seine Hand auf meinen Hinterkopf legt. Es fühlt sich schön an. So unbeschreiblich schön. So fühlt sich wohl Liebe an, wenn man sie zulässt. "Sei bitte kein Fehler, Azad." "Bin ich nicht, Avin. Ich biete dir alles, was du nicht haben durftest." Wie schön es sich anhört, so ein Versprechen zu hören ... aber selbst jetzt kann ich mich nicht darauf verlassen. Ich will nicht, aus Angst, dass ich wieder enttäuscht alleine bleibe. Ich möchte nur einmal wieder Zufriedenheit und Ruhe in meinem Leben spüren.
Ich möchte nur einmal das bekommen, was ich so lange und so oft gegeben habe.
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