Kapitel 15

Ich komme mir wie ein Arschloch vor, weil ich ihn meide. Ich komme mir wie eine Idiotin vor, weil ich nur halbherzig reagieren kann, wenn er vor meiner Arbeitsstelle auftaucht. Ich will nicht apathisch sein, wenn er mit mir spricht, aber ich kann nicht anders, als seine Treffen abzulehnen, weil ich nach Hause muss. Es herrscht das blanke Chaos. Ich werde den Samstag auch nicht freiwillig aushelfen, weil dieser verfickte Junkie durch den Koksentzug aggressiv wird und die Spannung zwischen meinen Eltern deshalb nur weiter zunimmt. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich bin komplett angespannt. Jeder kleinste Krach macht mich rasend. Wenn ich das Gegacker meiner verfickten Kollegin höre, will ich durchdrehen und sie so laut und heftig beleidigen, dass sie weint. Ich bin gestresst. Ich schlafe nicht richtig, weil dieser verfickte gottlose Junkie mitten in der Nacht wie ein unzivilisierter Spastiker den Kühlschrank lautstark plündert und in seinem Rausch irgendetwas vor sich hin grummelt. Ich hasse ihn. Ich wünsche ihm den Tod. Ich will, dass er mitten in der Nacht einen Schlaganfall erleidet, damit ich mich nach dem Morgengebet bei Allah für den Tod endlich bedanken kann. Meine Gedanken füllen sich mit immer mehr Negativität und ich meide es deshalb, mit meiner Mutter zu reden, weil ich sie sonst nur mit meiner barschen Wahrheit verletzen würde. Ich bin am Ende. Ich führe meine Gebete immer unkonzentrierter aus, weil mich plötzlich immer die Welle an Wut einhüllt. Meine Gedanken drehen sich nur um diesen Junkie und wie ich ihn am liebsten verletzen würde. Wenn ich meine Mutter und ihm im Wohnzimmer streiten höre, während ich bete, kann ich direkt von vorne anfangen. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr.

Ich halte das nicht mehr aus. Ich will meine Mutter anschreien, weil sie ihn reinlässt. Ich will sie für alles beschuldigen, weil sie Mitschuld hat, aber ich will sie nicht verletzen und ich will ihr nichts vorwerfen, wenn ich verstehe, dass das eine toxische Beziehung ist. Sie ist gefangen in diesem Strudel und ich weiß nicht, wie ich ihr sonst helfen soll, außer ihr immer wieder zu sagen, dass sie ihn nicht hereinlassen soll. Dass sie ihn ignorieren soll. Sie soll Musik hören, damit sie das Klopfen an der Tür nicht hört. Sie soll sich daran gewöhnen und lernen, dass er nicht immer reinkommen darf, aber ich werde immer müder davon. Seit Jahren sage ich es ihr. Ich versuche es ihr zu erklären, aber sie kriegt es nicht hin. Was soll ich noch tun? Ich rufe immer die Polizei, ich rede mit ihr. Ich lasse diese Ratte nie rein, wenn ich die Möglichkeit habe, aber sie hat nicht einmal die Disziplin oder feste Psyche, ihn vor der Tür stehenzulassen. Manchmal wünsche ich mir, sie wäre länger im Krankenhaus geblieben, nur damit ich länger meine Ruhe haben darf. Nur einmal in diesen ganzen Jahren, in denen es schlimmer geworden ist, in denen ich älter geworden bin und immer mehr verstanden habe, was los ist. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich bin müde. Ich bin kaputt. Ich kann nicht schlafen. Mein Leben ist eine Aufeinanderreihung von Unzufriedenheit. Mein Vater klagt wieder über Schmerzen und möchte reisen, um Ruhe zu finden bei dem Stress. Meine Mutter will nicht, dass er verreist und hat Angst, dass sich wieder ein Tumor entwickelt haben könnte. Mein Tremor setzt wieder ein.

Ich schnalze gereizt mit der Zunge, als meine rechte Hand zuckt. Meine zweite Fraktion ist dadurch verrutscht, aber ich habe keine Kraft, eine neue Platte anzuzüchten. Es wird sowieso vereinzelte Kolonien geben. Ich setze die Platte nach Beenden der dritten Fraktion wieder auf den Deckel, muss bei der Bewegung zucken, aber wenigstens kontaminiere ich nichts. Ich bemühe mich, so einhändig wie möglich zu arbeiten, aber auch das hält meinen Arm nicht davon ab, zu zucken. Solange die muskuläre Anspannung aufgrund seelischer Belastung bleibt, wird es nicht aufhören. Wird er mich heute wieder abholen? Ich würde mich freuen, wirklich! Aber ich kann verstehen, wenn er sich in seinem Tun nicht geschätzt fühlt. Ich bedanke mich zwar immer und ich bemühe mich, seine Fragen nicht allzu elliptisch zu beantworten, aber man merkt mir auf hundert Metern an, dass ich keine Kraft und Lust habe. Ich will nicht einmal später in die Patho gehen, weil mir die Energie fehlt. Ich will nicht nach Hause, aber ich will auch für den Fall der Fälle zu Hause bleiben. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Das fünfminütige Färben der Präparate kommt mir heute so lang vor. Die zwei Minuten wollen nicht vergehen, damit ich die Lugolsche Lösung abspülen kann. Nur noch fünfzehn Minuten und ich kann gehen. Ich ignoriere diese verdammt penetrante, neugierige Laura neben mir. Ich habe noch nie in meinem Leben jemand so aufdringliches gesehen wie sie. Sobald ich mit meiner Chefin rede, springt ihr großer Kopf auf und sie muss mich fragen, was ich gefragt habe. Ich konnte mich oft genug beherrschen, aber ich habe oft genug bemerkt, wie meine Wut doch durch meine Fassade gerissen ist, falls sie mich doch zu sehr genervt hat.

Ich mache nach dem Mikroskopieren Schluss. Ich bleibe nicht länger. Ich muss raus hier. Sofort! Ich bin mit einem Arm aus dem Kittel und schon mit einem Arm in der Winterjacke. Die ganze Woche bin ich in derselben schwarzen Jogginghose zur Arbeit erschienen. Nur das T-Shirt habe ich gewechselt, weil es beim Essen gestern dreckig wurde. Ich renne schon fast die Treppen hinunter, weil ich es nicht mehr aushalte in diesem Gebäude. Ich will weg. Ich will am liebsten nie wieder hier hinkommen und der Drang, mich krankschreiben zu lassen, wird wirklich von Mal zu Mal größer. Das Problem ist, dass ich zu Hause keine Ruhe haben werde. Zu Dijan kann und werde ich nicht, weil ich ihre komische Familie hasse und ich weiß, dass es ihr selbst unangenehm ist, weil sie nicht vorhersehen kann, wann bei ihr der nächste Streit ausbricht. Wenn wir irgendwo sicher sind, dann bei ihr im Auto, wenn der Junkie doch wieder bei uns ist. Außerdem hat sich ihre verfickte Tante wieder in ihr Leben eingemischt, nur weil sie mit ihren Kommilitonen in der Bibliothek bis nach 20:00 Uhr gelernt hat. Hoffentlich fährt die alte verzweifelte Schachtel auch mal endlich zur Hölle. Ich will mir den Kopf nicht auch noch mit der Wut gegen die Ungerechtigkeit in Dijans Leben füllen und zum Rauchen bringen. Ich brauche einfach nur frische Luft.

Es fühlt sich so erleichternd an, als ich seine eisblauen Augen sehe. Er weiß nicht, wie sehr ich das gerade brauche, auch wenn ich es nicht ausdrücken kann. Ich könnte hier und jetzt wieder weinen, aber ich reiße mich zusammen. "Alles in Ordnung?", ist seine erste Frage. Ich sehe nicht viel anders aus als sonst. Wenn, dann ist es nur mein Blick, der entweder betrübt oder aggressiver wirkt. Ich nicke. "Alles wie immer." Das ist nicht gelogen. Es ist leider ein Fakt. Am liebsten würde ich mich wieder in seine Arme schmeißen wie am Samstag in der Halle, aber ich stehe wie angewurzelt von ihm. Sein Leben wirkt so perfekt. Es wirkt so strukturiert, so perfekt routiniert und angepasst an seine Bedürfnisse. Ich beneide ihn dafür, dass er ein so kontrolliertes Leben hat und die Macht besitzt, es so laufen zu lassen, wie er es will. Wie sehr ich ihn dafür beneide. So sehr. "Hast du was gegessen?" Ich nicke, obwohl es gelogen ist. "Was denn?" Er tritt einen Schritt näher zu mir, weckt in mir damit nur noch stärker das Flehen, von ihm gedrückt und bestärkt zu werden. "Zwei einfache Toasts. Hab heute Morgen noch Frühlingsrollen zum Frühstück gegessen", lüge ich. Ich lag heute wie gelähmt in meinem Bett und musste mich zwingen, das Morgengebet zu verrichten. Ich musste mich zwingen, heute im Labor zu erscheinen. Ich will weg. Weg von dieser Arbeit. Weg von meinem Heim. Weg von dem Ort.

Er mustert mich prüfend und ich lasse es zu. Mein Blick ist kühl, aber das sollte ihm bekannt sein. Ich fühle mich nicht nervös. Nein, ich fühle gerade nichts und wieder nichts. Alles kommt mir gerade so trist vor, nur das strahlende Leuchten seiner Augen nicht. Sein Blick wirkt wieder so arrogant und streng durch das leichte Zusammenkneifen seiner Lider. Die Sonne scheint und der arme Mann muss damit klarkommen. "Geht es dir besser als die letzten Tage?" Meine Lungen füllen sich mit Luft, als hätte ich die ganzen Stunden davor keinen Atemzug zu mir genommen. Die Frage tut mir gut, auch wenn mir die Antwort darauf nicht gefällt. Nein. Leider nicht, nein. "Mir ging es nie schlecht", erwidere ich nur neutral und setze den ersten Schritt an, um hier endlich wegzukommen. "Du lügst." "Tue ich nicht. Wieso sollte ich?" "Wieso erzählst du mir nicht einfach, was dich bedrückt?", stößt er jetzt resigniert hervor. Er bleibt stehen und ich damit automatisch auch. "Avin, ich bemühe mich wirklich. Ich will, dass du dich bei mir wohlfühlst und dich mir anvertraust. Wieso kannst du mir nicht sagen, was los ist?" "Du sagst mir doch auch nicht alles, bis wir zu einem gewissen Punkt anlangen", stoße ich trockener vor, als gewollt und ich bereue es sofort. Mir geht es nicht gut. Ich hätte nicht reden sollen. Ich bin geladen und reizvoll. Ich will nur gehen. Es tut mir leid. Ich wollte dich nicht irgendwie treffen und verletzen.

Er atmet tief ein. Seine Miene verändert sich von besorgt zu neutral, wenn nicht sogar leicht erzürnt. Er hat das Recht dazu. Ich weiß, dass es sich nicht schön anfühlt, abgewiesen zu werden und ich hasse es ja selbst, aber ich kann mich gerade noch so zusammenreißen! Ich fühle mich so, als würde ich an meinen unterdrückten Gefühlen allmählich ertrinken. Ich spüre das Kratzen schon wieder im Hals, weil der Stress meinem Asthma nicht guttut. "Wie du willst. Komm." Er geht los. Es versetzt mir ein ungutes Gefühl im Magen. Ich bin mir so sicher, dass er mich auch dieses Mal eigentlich mit Schneeflocke ansprechen würde, aber er sich gerade doch ein wenig verletzt fühlt. Durchatmen, Avin. Tief durchatmen. Es ist alles gut. Mein Gesicht verzieht sich weinend, aber ich verbitte mir jeden emotionalen Ausbruch hier und jetzt und aus Angst, dass er es sehen könnte, schaue ich einmal zurück zum Gebäude. Die winzigen Tränen schaffen es doch über meine Lider, doch ich verwische sie sofort wie meinen eigentlichen psychischen Zustand. Ich gehe ihm niedergeschlagen nach, bin froh, dass er schon am Auto wartet, damit er nicht allzu viel von meinem Zustand mitbekommt. Ich will gar keinen Streit und ich will unsere Verbindung keiner Diskrepanz aussetzen. Ich will mich doch nur vor Enttäuschungen schützen, auch wenn ich weiß, dass Angst uns oft zu Irrationalem verleitet. Ich seufze leise.

Am liebsten würde ich ihn fragen, wie sein Tag war, aber ich spüre die Angespanntheit im ganzen Auto. Sie erdrückt mich. Sie lässt mich nur noch schlechter fühlen. Ich will nicht nach Hause. Ich will viel lieber bis tief in die Nacht hier im Auto sein, selbst wenn wir nicht miteinander reden. Ich brauche ein Ventil, an dem ich den Frust ablassen kann, aber dafür muss ich erst vertrauen können und ich weiß, dass es ein steiniger Weg meines Herzes ist, dieses Vertrauen passieren zu lassen. Hat er auch jemanden in der Familie, der so verkorkst ist? Ich kann es mir nicht vorstellen. Dafür wirkt er zu edel. Ich weiß, dass man es niemanden ansehen muss, aber ... trotzdem. Keine Ahnung. Ich weiß nichts und doch denke ich so viel. Ich habe so viele Sachen im Kopf und doch habe ich keinen klaren Gedanken, keinen richtigen Ansatz. Ich weiß nicht, wie ich handeln soll. Ich weiß gar nichts. Ich weiß nur, dass ich müde bin. Jede Ampel kommt mir gerade so nutzlos vor, weil sie alle plötzlich grün sind. Ich ärgere mich über den reibungslosen Verkehr und dass niemand über den Zebrastreifen laufen muss, damit er anhält. Wir sind gleich da. Gleich ist er weg und ich muss warten, bis ich ihn wieder sehen kann, wenn er sich nicht von mir distanziert für wenige Tage. Ich erkenne die Hochhäuser meiner Siedlung. Bei der Tatsache, was mich erwartet, wird mir schlecht. Ich wünsche mir, dass die Kinder wieder auf der Straße spielen, sehe aber nur enttäuschenderweise einige Mädchen, die am Rand Fahrrad und Roller fahren und einige Jungs, die auf der Wiese Fußball spielen.

Ich bin da. Ich muss aussteigen und ich tue es auch. "Danke fürs Abholen und Fahren", zwinge ich mich. "Immer wieder gern, Schneeflocke." Das Einzige, was mir heute guttut ... aber es wird mich trotzdem nicht vor dem Stress im elften Stock bewahren. Ich schließe die Tür auf, höre das routinemäßige Schnurren seines Motors, als ich im Aufzug bin und leider auch das routinemäßige Schreien, als ich vor meiner Haustür stehe. Die Nachbarn sind es gewöhnt. Bei ihnen läuft es nicht gerade besser und manchmal ist es bedauerlicherweise mein einziger Trost in dieser Plattenbausiedlung. Ich habe nicht erwartet, dass er direkt vor mir steht, als ich die Tür aufschließe. Wie ein arbeitsloser Alkoholiker steht er im weißen Unterhemd und grauen Baumwollshorts vor mir. Ekelhaft. Ich beachte ihn nicht weiter, lasse nur passiv-aggressiv die Tür zuknallen und bringe meine Converse ins Zimmer, nachdem ich die Sohle reinige. "Ich habe kein Geld! Woher soll ich es holen? Woher?" Es beginnt wieder. Du bist selbst schuld, wenn du ihn reinlässt. Warum heulst du noch herum?, schnauze ich meine Mutter in Gedanken an, ermahne mich aber sofort. Ich erinnere mich daran, dass es ein toxisches Verhältnis ist und bitte sofort um Vergebung. "Beluma, ya rabb", murmele ich. "Frag sie", höre ich den Köter kleinlauter von sich geben. Schwanz kriegst du!, belle ich jetzt in Gedanken. Ich gebe ihm kein Geld. Er kriegt keins. Ich habe mich zwei-, dreimal von meiner Mutter einlullen lassen und 3000 Euro hingeblättert, weil sie mir leidtat und ich es nur für sie getan habe, aber danach habe ich immer den Anruf beendet und ihr die Tür vor der Nase zugeknallt. Ich werde sicherlich nicht so dumm und naiv wie sie sein. Niemals.

"Sie gibt dir nichts! Vergiss es! Such dir endlich einen Job! Mach etwas! Flüchte doch, wenn sie dich nicht in Ruhe lassen! Wieso machst du nichts? Wieso tust du mir das an?" Ich sitze stumm auf meinem Bett. Ich könnte jetzt Musik hören und alles unterdrücken und ignorieren, aber ich bin wie gelähmt. Es tut mir nicht gut. Mein Unterarm und meine Hand zucken. "Nur noch dieses eine Mal. Dann ist es vorbei. Ich schwöre es bei Allah!" Wie gern ich wollen würde, dass Allah jetzt sein Leben nimmt für das inflationäre Missbrauchen seines Namens. Ich kann nicht fassen, wie respektlos dieser Junkie damit umgeht. "Ich habe keine Zeit!", blafft er jetzt. "Ich habe keine Zeit! Ich muss gehen! Die warten! Die stehen vor der Tür, jetzt gib mir endlich das Geld! Ich will hier nicht mehr bleiben! Ich will euch alle nicht sehen!" "Wieso stehst du gottloser Bastard dann immer wieder wie eine Ratte vor unserer Tür?!", blaffe ich leise. Dieser versiffte Junkie! Ich will seinen Tod. Ich will seinen Tod. Ich will, dass er stirbt. Bitte, Allah. Bitte lass ihn endlich sterben. Bitte, ya Allah. Schick den Todesengel. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr. Ich will nur noch, dass er stirbt. Ich will, dass er vor meinen Augen verreckt. Ich verstehe nicht, wieso wir das verdient haben. Meine Eltern haben uns alle gut erzogen. Wie viele Prüfungen denn noch? Ich will nicht mehr, Allah. Ich kann nicht mehr.

Ich zucke bei dem lauten Knallen an meiner Tür zusammen. "Mach die Tür auf!", brüllt er. Mein Bauch zieht sich zusammen. Ich stehe auf, ohne zu wissen, was ich tun soll. Mein Körper füllt sich mit Adrenalin. Die Müdigkeit, die ich bis gerade noch besaß, verschwindet augenblicklich aus mir. "Avin, ich brauche Geld. Ich schwöre, du kriegst es wieder." "Halt deine Fresse und verpiss dich, du verfickter Junkie!" Ich werde wieder sauer. Ich werde wieder von der Wut empfangen, die meine Glieder zittern lässt. "Halt deine Fresse und mach die Tür jetzt auf!", bellt er. Ich will ihn töten. Gott, wie gerne ich ihn töten will! Ich will, dass sein Leben endet. Ich würde das Medizinstudium an den Nagel hängen, wenn ich wüsste, dass ich damit sein Leben beenden könnte. Sein aggressives Rütteln und Hämmern an meiner Tür lassen mein Herz einen Moment aussetzen. Ich habe immer noch die Cola-Glasflasche auf meinem Nachttisch stehen und ich nehme sie mir zur Hand, auch wenn ich nicht weiß, was ich damit tun soll. Meine Hand zittert. Ich bin überfordert. Ich bin wütend. Ich will, dass es aufhört. "Geh jetzt endlich!", schreit meine Mutter. Ich höre, wie sie verzweifelt auf ihm einschlägt und wie sie ihn von meiner Tür wegzerrt. Ich gehe einen weiteren Schritt zu meiner Tür. Ich muss hören, was passiert. Sie schreit ihn aus tiefstem Herzen an. Ich muss gleich achten, wie es ihr geht. Ich muss aufpassen, dass sie nicht schon wieder vom Krankenwagen abgeholt werden muss.

"Ich brauche das GELD!", brüllt er. Meine Mutter schreit wimmernd auf. Meine Alarmglocken schrillen auf, als ich sie weinen höre. Ich trete sofort in den Flur. Durch die Wucht beim Öffnen meiner Tür fliegt der Schlüssel aus dem Schloss. "Ich will nicht mehr! Min nevet, min nevet, min nevet!" Ich sehe nur, wie meine Mutter ihre Hände verzweifelt gegen ihr Gesicht schlägt. Ich sehe rote Flecken an ihren sensiblen Handgelenken. Er hat sie verletzt. Neben mir geht die Tür meiner Schwestern auf, die ich sofort wieder schließe. "Macht Musik an. Sofort! Alle Kopfhörer!" Meine Stimme bebt trotz der Festigkeit. Ich drücke ihn rasend am Nacken den Flur entlang. Meine Nägel krallen sich vor Wut in seine Haut. "Verpiss dich mal!", schnauzt er und ich erlebe nach Jahren wieder, wie er mich gegen die Wand schubst. Ich keuche erschreckt. Mein Körper reagiert schneller als mein Verstand, als ich die Glasflasche gegen seine Schläfe rasen lasse. Meine Mutter schreit auf. Ich werde panischer. Ich hätte das nicht tun dürfen. Einem koksabhängigen Frauenschläger kann man nicht vertrauen, egal wie oft er sich bei mir zurückgehalten hat. Er taumelt zurück, aber er ist leider nicht ohnmächtig. Ich entferne mich von der Wand. Was soll ich tun? Wieso verliert er nicht das Bewusstsein? "Du kleine Hurentochter! Ich fick dich!" Ich renne panisch in die Küche, schließe mit aller Kraft die Tür ab. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr! Er rammt sich gegen sie. Die Tür ist nicht komplett verholzt, sondern zum Teil auch aus Glas. Meine Mutter schreit, dass er mich in Ruhe lassen soll, doch er schubst sie nur weg. Ich muss mich darauf vorbereiten, dass er mich wieder schlägt. Ich will es nicht. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr!

Meine Hand greift nach dem größten Messer, das wir haben. Wenn es sein muss, verletze ich ihn. "Ich töte dich, du kleine Schlampe!" Er rammt sich immer wieder gegen die Tür, boxt mit aller Kraft gegen das Glas. Es ist ein Ausnahmezustand. Er hat meine Mutter noch nie weggeschubst und auch wenn man nur schwammig durch das Glas sehen kann, weiß ich, dass sie weinend am Boden liegt. Dieser verfickte Junkie dreht durch, tritt wie verrückt gegen die Kommode im Flur und gegen die Tüte Kulîça, an der meine Mutter gestern den ganzen Tag saß. "Verpiss dich endlich!", schreie ich. Mir ist schwindelig. Ich will sterben. Einer soll endlich sterben. Ich kann das nicht mehr. Ich will das nicht mehr. Wenn meine Mutter stirbt, würde er nie wieder die Chance haben, unser Leben zur Hölle zu machen. Würde ich sterben, müsste ich das nie wieder miterleben müssen. Würde er sterben, wäre es endlich vorbei, aber nichts der drei Sachen passiert. Ich halte diesen Höllenkreislauf nicht mehr aus. Ich will sterben. Ich brauche Hilfe und ich weiß, dass diese nutzlose Polizei nichts tun wird. Sie werden ihn mitnehmen, vielleicht für zwei oder drei Tage in U-Haft stecken und dann freilassen. Ich kenne dieses unnütze System doch. Ich weiß, wie ausweglos es ist. Ich brauche Hilfe. Ich brauche seine Hilfe. Er wird etwas tun können. Ich vertraue auf ihn. Meine Hand greift zitternd nach meinem Handy in meiner Hosentasche. Bitte, Azad. Geh schnell ran!

"Avin?", fragt er verwundert. Der Junkie schreit meine Mutter an. Er schmeißt die Tüte mit dem Gebäck durch den Flur.

"Azad", flüstere ich. Mein Gesicht verzieht sich so stark, dass ich durch das aufkommende Weinen nichts mehr sehen kann.

"Avin, was ist los? Bist du zu Hause?" Ich nicke schluchzend.

"Hilf mir. Ich flehe dich an, hilf mir." Die kryptische Gestalt des Junkies dreht sich wieder in meine Richtung. Ich erstarre sofort. "Mach diese verfickte Tür auf. Ich schwöre auf Gott, ich breche dir deine verfickte Nase!", schreit er. Seine Fäuste hämmern wieder gegen das Glas. "Azad, bitte!", schreie ich verzweifelt. Vor Angst drücke ich die Spitze des Küchenmessers gegen meine Brust. Ich halte das nicht mehr aus! Ich kann nicht mehr! Ich will sterben. Sein Körper schafft es, das Glas zum Splittern zu bringen. Der laute Schrei kommt ungewollt aus mir. Meine Mutter schreit weinend. Ich lasse vor Schreck das Handy fallen. Ich bin gefangen. Ich muss mich diesem Kampf stellen, so unvorbereitet ich auch bin. Ich kriege kaum Luft. Meine Atemwege ziehen sich kratzend zusammen. Ich dränge mich an die Kühltruhe hinter mir, als er sich die Scherben drängt. An seiner Schläfe klebt das getrocknete Blut. "Verpiss dich! Geh! Geh endlich!" Ich huste atemlos auf. Meine Mutter rennt verzweifelt nach, doch er ist schon in der Küche. Ihre Hand greift panisch nach dem Schlüssel, der zu Boden fällt. Ich muss mich verteidigen. Ich halte das Messer fester in meiner Hand, renne zu den restlichen Messern, damit er nicht auf die Idee kommt, eins davon gegen mich zu verwenden. "Du kleine Hure!" Seine Hand schnellt zu fest, zu schnell gegen mein Gesicht. Ich schreie auf. Er hat mein Auge getroffen. Es brennt! Es tut weh! Ich kann nichts sehen! Ich bin überfordert. Ich kann nur zu spät den nächsten Schlag gegen mein Gesicht aufhalten. "AZAD!", schreie ich. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn so sehr!

"Wer ist Azad, du Hure?!" Seine ekelerregende Hand krallt sich an meinen Haaren fest und schleudert mich mit aller Kraft gegen den Esstisch. Ich kriege kaum Luft bei dem Schmerz, der meinen Bauch durchzuckt. Ich habe das Messer nicht mehr in meiner Hand. Ich habe nichts mehr außer mein Schreien und Weinen. Meine Mutter kommt zu spät. Sie zerrt ihn zu spät weg, aber sie kann auch nichts gegen seine Kraft anrichten. Perwins Schreien kann nichts gegen die Gewalt anrichten. Pelins Weinen und Avdars panisches Wimmern helfen mir nicht. Der Schmerz in meinem Bauch zieht sich hoch in meinen Brustkorb. Ich kriege zu schwer Luft. Mir wird schwarz vor Augen. Ich will sterben. Ich will nur noch sterben. Es wird niemals aufhören. Meine Mutter kämpft gegen den gottlosen Junkie an, verletzt ihn verzweifelt mit der Gabel, die in der Spüle liegt. Ich habe Angst, dass er ihr wehtut. Ich kann es wegstecken. Sie aber wird wieder krank. Ich will ihm wehtun. Ich will ihn verletzen, egal wie groß die Sünde ist, die ich dafür kriege. Ich stolpere zum Messer. Ich will ihm nur einmal so wehtun, wie er mir und meiner Familie wehgetan hat. Meine Hände zittern. Mein rechter Arm zuckt, als ich den schwarzen Griff in der Hand halte und es in seine Wade ramme. Er soll meine Mutter loslassen! Ich ziehe es wieder raus, wohl bewusst, dass man das niemals tun soll. Ich will, dass er stirbt. Ich bin kurz davor, es in die Tat umzusetzen, aber mich hält etwas auf. Ich will nicht diese große Sünde dafür tragen. Die kleine, weil ich ihn verletzt habe, ist mir egal, aber kein Mord.

Jemand hämmert an der Tür. Es ist die Polizei. Jemand hat die Polizei gerufen. Wenn sie sehen, wie der Junkie hier herumschreit und das blutige Messer erblicken, stehe ich als die Schuldige da. Ich trete ihm trotzdem gegen die Wunde. Wenn sie hier sind, kann mir nichts mehr passieren. "Avin?" Ich bin kurz davor, zusammenzubrechen. Es ist nicht die Polizei. Es ist Azad! Er schaut mit aufgerissenen Augen durch die zerstörte Tür. Der Junkie sieht ihn und wird wieder von seiner Wut geleitet. Er kommt wieder auf mich zu. Ich werde wieder panisch. Ich stolpere wieder zurück. Meine Hände heben sich schützend. "Azad!", weine ich. Es soll aufhören! Die kleine Statur des Junkies wird so brutal, wie ich es noch nie in meinem Leben gesehen habe, gegen die kleine Abstellkammer geschleudert. Azad rammt seinen Kopf dreimal dagegen, bis ich realisiere, dass meine Mutter schreit. "Bringt sie raus!", schreie ich zu meinen erstarrten, traumatisierten Schwestern, renne aber selbst zu ihr, um sie herauszuzerren. Sie wehrt sich, will ihrem Sohn helfen, aber ich stemme sie mit meiner ganzen Kraft ins Badezimmer, zwinge meine Schwestern mit rein, damit sie die Tür abschließen und sie beruhigen. Ich höre das schmerzvolle Schreien des Junkies und immer wieder den Widerstand Azads Faust gegen seinen Körper. Ich stehe selbst wie paralysiert am Fleck, als ich die animalische Kraft sehe. Azad ist wie ausgewechselt. Er wirkt wie ein Wahnsinniger, als er auf den Körper einschlägt. "Du versiffte Missgeburt!", schreit Azad ihn an.

Als er dann in die blutende Wunde der Wade des schreienden Junkies greift, sie sogar dehnt und daran zieht, japse ich erschreckt nach Luft. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, wie ich handeln soll. Es füllt mich trotzdem mit Panik, auch wenn er es verdient, aber mir wird übel, als Azad seine blutige Hand in den Mund des Junkies stopft, bis er würgt. Ich keuche. "Du schlägst deine Schwester? Du verletzt deine Mutter? Ich sollte dir deine Hände abhacken. Soll ich es tun. Soll ich?", schreit er am Ende. Selbst seine Halsschlagader sticht vor Wut hervor. Azad rammt seine Hand so fest in den Mund, dass der Junkie würgend hustet. Immer wieder und wieder, bis ich höre, wie ihm sein Erbrochenes aufsteigt. Azad hält ihm sofort den Mund zu. Ich erkenne ihn nicht wieder. Der Blick in seinen Augen zeigt pure Mordlust. "Schluck es wieder runter. Schluck es wie der Köter, der du bist." Ich werde langsam unruhig. Das ist zu viel, aber ich kann mich nicht bewegen. Er hat es verdient. Er muss auf die Schnauze fallen, damit er nie wieder so etwas tut. Azad hält ihm jetzt auf die Nase mit derselben Hand zu, packt wieder in die Wunde, weshalb der Junkie unter seiner Hand schreit und sich verschluckt. Er kriegt gleich keine Luft mehr! "Schluck es runter, hab ich dir gesagt!" Ich bin zu schockiert, um den Moment zu genießen, wie er anfängt zu weinen, aber seine eigene Kotze runterschluckt. Azad nimmt schon fast angeekelt seine Hand runter, um ihm eine zu scheuern. Das Heulen ist laut. Wenn Mama das gesehen hätte, wäre sie umgekippt.

Plötzlich greift Azad nach der Waffe, die unter seinem Hemd hervorschimmert. "Azad!", schreie ich hysterisch. Ein Schlag. Ein Schlag mit der Waffe gegen seinen Unterkiefer und er verliert das Bewusstsein. Es ist vorbei. Es ist vorbei. Das Chaos wurde gestoppt und doch fühle ich es noch überall. Ich kriege erst jetzt wieder die mangelnde Luftzufuhr mit. Ich kriege jetzt wieder mein Zittern mit. Ich weine. Ich weine vor ihm. Er hat das Schlimmste mitbekommen. Er hat alles gesehen. Er hat mich in meiner schwächsten Lage gesehen. Ich weine los. Ich weine nie laut, aber heute breche ich aus allen Fugen. Ich habe keine Kraft mehr. Ich halte das nicht mehr aus. Wäre er nicht dagewesen, hätte ich eine gebrochene Nase. Hätte ich ihn damals nicht getroffen, wäre ich noch gebrochener. Ich habe keine Kraft mehr. Ich kann das alles nicht mehr alleine halten. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen. Meine Knie geben nach, fallen auf den kalten Kachelboden. Mir sind die kleinen Scherben egal, die sich durch meine Jogginghose bohren. Ich will nicht mehr. Ich kann nicht mehr! Azad lässt den Wasserhahn laufen. Ich brauche mein Asthmaspray. Ich brauche ein Beruhigungsmittel. Ich brauche Schlaf. Ich brauche Ruhe. Meine Bronchien krampfen sich zusammen. Mein Husten setzt einen Schmerz frei, der sich in meinen gesamten Brustkorb und Bauchraum strahlt. Ich brauche Luft. Ich kriege keine Luft! "Avin! Wo ist dein Asthmaspray?" Ich deute mit dem Greifen in die Taschen meiner Jogginghose auf meine Jacke hin. "Ich komme sofort." Weil ich Angst habe, dass es zu spät ist, krabbele ich ihm nach, bleibe aber hinter dem großen Haufen an Scherben sitzen.

Er beeilt sich. Er hält mein Asthmaspray in der Hand, schüttelt es für mich und entfernt die Kappe. Ich muss es nicht einmal selbst an meinen Mund halten, weil er es für mich übernimmt. Meine Hände wären zu zittrig und zu schwach dafür. Ich bin müde. Ich habe keine Kraft. Ich inhaliere den ersten Sprühstoß, als wäre es die Luft, die ich gerade nicht bekomme, warte nicht wie sonst die Minute komplett ab und drücke selbst noch einmal zu. Ich spüre die Erleichterung mit dem Schwindel einkehren. Ich kann nicht mehr. Ich will nie wieder. "Geht es wieder? Was ist mit deiner Mutter? Brauchst du einen Krankenwagen?" Ich kann kaum sprechen. Mein Gesicht pocht. Meine Lippe fühlt sich geschwollen an. Es fühlt sich an, als hätte ich Fieber. Ich lasse mich verstummt gegen ihn fallen. Meiner Kehle entkommt ein leidendes Geräusch, als mir die heißen Tränen hinabrinnen. Es tut so weh. Ich fühle mich so gedemütigt. Ich wollte nie, dass jemand davon mitbekommt. Ich komme mir so schwach vor. Ich wurde geschlagen. Ich wurde gerettet. Es hätte anders ausgehen können. Er hätte mich bis zur Bewusstlosigkeit schlagen können, wenn Azad nicht da wäre. Er hätte mir Knochen prellen und brechen können, wenn ich Azad am Mittwochabend niemals begegnet wäre. Er hätte das Leben meiner Mutter und mir so weit getrieben, dass wir komplett innerlich zerbrochen wären, wenn ich Azads Nummer nicht gespeichert hätte. Wäre Azad niemals in mein Leben getreten, würde ich niemals die Chance kriegen, alles ändern zu können.

"Ich nehme es an, Azad. Ich werde deine Frau."

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Wisst ihr, was richtig ehrenlos gewesen wäre? Wenn Avin eine weibliche Stimme am Telefon gehört hätte und jede Hilfe dann zu spät wäre.

Wie fühlt ihr euch nach diesem Kapitel?

- Helo

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