Kapitel 13
Ich schaue ihn verwundert an. Was für Beherrschen? Was meint er? Ich schaue von seinem Gesicht zu seiner Brust und zurück. Ich weiß nicht, was ich von dem Glitzern in seinen Augen halten soll sowie vom tieferen Heben seiner Brust. Ich weiß nicht, ob ich weiter nachhaken soll, wenn sein Blick so viel Gier zeigt. Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll. Die Waffe ist bei ihm und plötzlich will ich doch wieder meine Jacke anhaben, als seine Augen mich mustern. Ich hätte vielleicht doch kein enges T-Shirt anziehen sollen. Meine Finger spielen unbeholfen an meinem weißen T-Shirt herum. Seine Augen wandern von meinen Hüften hinab zu meinen Beinen und so plötzlich wieder hoch, dass ich schon leise japse. "Pause", entweicht es uns beiden zeitgleich. Mir zu leise, ihm zu fest. Ich bleibe gar nicht mehr vor ihm stehen, sondern flüchte schon fast in die Küche. Oh Gott! Scheiße, was war das? Ich zucke erschreckt zusammen, als er durch die Tür tritt. Plötzlich weiß ich nicht mehr, was ich tun soll und ich komme mir so dumm vor, als ich den Reis rühre. "Ist, denke ich, fertig", murmele ich. "Ist es", erwidert er ruhig. Zu ruhig. Durchatmen, Avin. Tief durchatmen. Ich schalte den Herd ab und lasse ihn den Rest machen, weil ich absolut keine Ahnung habe, wo Geschirr und Besteck sind und ich sowieso zu überfordert bin gerade. "Nimm dir was zu trinken aus dem Kühlschrank, Schneeflocke." Kaum sagt er es, renne ich mit dem Eistee und den Gläsern zurück zum Sofa.
Mein Bein wippt ganz ungeduldig. Die Situation wirkt so angespannt auf mich. Er zeigt Begehren. Der blauäugige Mörder zeigt wirklich Anzeichen des Begehrens. Oh Gott, ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Mein Magen zieht sich zusammen, als er mit den befüllten Tellern auf mich zukommt und ich kann es mir beim besten Willen nicht verkneifen, auf seine angespannten Oberarme zu schauen. Ich nehme ihm die Teller ab, weil ich mir so dumm vorkomme, hier so betreten auf dem Sofa zu sitzen. "Wenn du immer noch Hunger hast, gib mir Bescheid." Ich nicke, auch wenn ich es ganz sicherlich nicht tun werde. "Bist du öfters hier? Die Schränke sind schon ziemlich voll." "Meine jüngeren Geschwister. Je nachdem, wie viel Zeit ich und meine älteren Brüder haben, sind wir auch hier." Ach, die ganze Familie kann schießen. Wie rührend. Ist ja schön. Ich lenke mich sofort mit dem Essen ab, auch wenn ich die Situation nicht aus dem Kopf kriege. Hat ihn das Bild von der Waffe zwischen meinen Schenkeln erregt? Hat er doch so einen Fetisch? Will ich es wissen? Will ich wirklich fragen? Es drängt sich schon meinen Magen hoch, ihm die Frage an den Kopf zu werfen, aber ich unterdrücke es mir. Ich atme wieder tief durch. Falls es stimmen sollte, will ich mir den ganzen Tag nicht damit verderben oder mir oder ihm aus Versehen in den Fuß schießen. Es ist ja nicht schlimm, dass ihm in dem Moment etwas an mir gefallen hat - immerhin gefällt mir auch das eine oder andere an ihm -, aber ... keine Ahnung. Das ist so ungewohnt für mich.
Noch ungewohnter ist es, dass er sich plötzlich den Pullover auszieht. Ich schaue nicht hin. Ich. Schaue. Nicht. Hin. Er trägt ein T-Shirt. Ein schwarzes T-Shirt. Alles ist in Ordnung. Alles ist in bester Ordnung. Ich habe mir die Jacke ausgezogen und er hat sich seinen Pullover ausgezogen. Da ist nichts dabei. "Ich bin beherrscht, Schneeflocke. Ich falle nicht über dich her." Oh ... ich halte in meiner Bewegung inne. Das ist mir so peinlich! Ich kann nicht einmal den Löffel zu meinem Mund führen, weil ich mich gerade so schäme. Gott, wie unangenehm! "Nimm es nicht falsch auf, aber das Bild meiner Waffe zwischen deinen Beinen stellt Dinge in mir an, die mich bis in die Nacht verfolgen werden." Durchatmen, Avin. Durch. At-men! "Schon okay", flüstere ich. Jeder Mensch hat Bedürfnisse und Fantasien und solange sie die andere Person nicht belästigen ist alles in Ordnung. Nur kriege ich jetzt seinetwegen das Bild seiner Waffe zwischen meinen Beinen nicht mehr aus dem Kopf! Und sein tiefes Durchatmen neben mir macht es wirklich kein Stück besser. Je mehr er sich bewegt, desto öfter schielen meine Augen zu ihm. Gerade setzt er sich neu auf, schiebt damit seine Hüften ein wenig weiter nach vorne, als er sich weiter zurücklehnt. Ich drehe ihm am besten den Rücken zu, damit ich nicht gleich noch aus Versehen mein Essen rausspucke. Es wäre noch peinlicher, wenn das Frikassee nicht schmecken würde.
"Wann möchtest du eigentlich das Haus besichtigen?" Er ist ziemlich zuversichtlich, das muss ich ihm lassen. "Wenn ich zustimme", murmele ich mit vollem Mund und er seufzt darauffolgend. "Schneeflocke, wann schmilzt du endlich?" Scheiße, ich muss lachen. Ich halte mir sofort den Mund zu, als ich zu ihm schaue. Sein Blick zeigt jetzt schon Erschöpfung. "Wenn du jetzt schon nicht mehr kannst, will ich nicht wissen, wie du dich als Ehemann schlägst." "Glaub mir, ich habe die entsprechende Ausdauer, Schneeflocke." Nichts anmerken lassen, Schnee-, Avin! Gott, er steckt mich auch schon damit an! "Dennoch habe ich es lieber, wenn meine Frau sich nicht von mir abwendet, wenn wir gemeinsam essen." Ich atme heute zu oft zu tief durch. Mein Körper dreht sich nur langsam zu ihm ... seit wann sitzt er so nah? Ich lasse mir nichts anmerken, esse einfach weiter. Wir essen nur. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir gemeinsam essen. Das dritte Mal schon, wow. "Nach dem Essen lasse ich dich ein wenig schießen." Wie? So wirklich schießen? Oh Gott, ich werde sicherlich durch die Wucht wegfliegen. Ich fühle mich ehrlich gesagt gar nicht vorbereitet darauf. Das ist ein außergewöhnliches Date ... es ist doch ein Date, oder? Doch. Ist es ein statistisch sicheres Date oder ein statistisch gefährliches Date? Immerhin habe ich gleich eine geladene Waffe in meiner Hand, aber er ist immer noch ein mir physisch überlegener Mann, der mir jederzeit die Waffe wegnehmen kann, aber ich habe ja die Munition, aber er kann sie mir ganz leicht aus der hinteren Hosentasche ziehen und ach! Genug!
Ich lege den Teller hin, um mir den Eistee einzuschenken, was er mir jedoch abnimmt. Ziemlich aufmerksam, das muss ich ihm lassen. "Liest du eigentlich Bücher?" "Nicht wirklich, Schneeflocke. Ich lese eher Verträge." "Irgendwelche anderen Beschäftigungen außer Verträge lesen und reparieren?", hake ich nach. "Ich genieße meine Freizeit mit meiner Familie oder mit Fitness." Ein Familienmensch also. Ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, denn ich kann nie lange bei meiner Familie bleiben. Wie Dijan damit klarkommt, fast jede Woche über das ganze Wochenende gezwungen zu sein, mit ihrer komischen Familie Zeit zu verbringen, ist fraglich. Ich kann es zwar aushalten, aber oft habe ich keine Lust, zumal immer irgendjemand wenigstens einmal einen Spruch über meinen Körper ablassen muss. Außerdem ist bei uns sowieso jeder irgendwie auf sich alleine gestellt. Die Mädels sind in ihrem Zimmer, meine Mutter im Wohnzimmer bis mein Vater nach der Arbeit dazukommt und ich in meinem Zimmer. Einen sonderlichen Tag in der Woche, in der wir etwas gemeinsam machen, wie es bei Dijan der Fall ist, haben wir nicht. Ich gehe nur samstags mit meiner Mutter in die Stadt, wenn ich freihabe. Manchmal wünsche ich mir doch, etwas mit ihnen zu unternehmen, aber ich spreche es nie aus. Die Male, die ich mit meinen Schwestern ausgegangen bin, habe ich doch ziemlich genossen. Ich sollte es wieder tun. Vielleicht morgen schon.
Mit dem Beenden des Essens und Trinkens spüre ich, wie verklebt sich mein Hals anfühlt. Dass ich jetzt wieder von einem Hustenanfall überwältigt werde, passt mir überhaupt nicht. Gott, es ist so stark, dass es schon wieder wehtut. "Alles in Ordnung? Hast du dich verschluckt?" Ich verneine es kopfschüttelnd. Gott, tut das weh! Ich kneife mir fest die Augen zusammen, in der Hoffnung, es würde den Schmerz hinter meinem Brustbein lindern. Wenn das so weiter geht, muss ich wieder mein Asthmaspray benutzen. Mein Mund schmeckt schon metallisch. Jetzt blute ich auch noch wieder, na toll! "Willst du Wasser?" "Das wird mir auch nichts bringen", ächze ich. Ich brauche mein Spray, das in meiner Jackentasche auf dem Sessel liegt. Kaum beuge ich mich vor, überkommt mich der nächste, noch kräftigere Hustenanfall. Ich brauche das Ding sofort! Vor Frust über diese Schmerzen, reiße ich meine Jacke schon fast rabiat an mich, um mich endlich mit zwei Sprühstoßen zu erleichtern. Ich muss wieder zum Lungenarzt. Ich kriege schon Kopfschmerzen vom Druck beim Husten. Ich würde ihm gerne beim Abräumen helfen, aber ich bin gerade echt kaputt von diesem Hustenanfall und muss mich beruhigen. Es schmeckt immer noch nach Blut in meinem Mund und mir ist ein wenig schwindelig. Ich lasse meinen Kopf nach hinten auf die Lehne fallen, atme das Röchelnde und Pfeifende aus meinen Lungen bis ich mich wieder ein wenig beruhigt habe. Ja, der nächste Termin für den Lungenarzt wird noch diese Woche stattfinden.
"Hier." Ich hebe den Blick an. Oh! Wie nett von ihm, mir Wasser zu bringen. "Spuck es dann hier rein. Du musst es, meines Wissens nach, ausspülen." Und so aufmerksam. Ich nicke, lasse das Wasser noch ein wenig im Mund, ehe ich es in die Schüssel gebe und noch einmal nachspüle. "Danke." Mir geht es schon viel besser. "Für dich immer wieder, Schneeflocke. Fühlst du dich bereit, weiterzumachen oder willst du noch ein wenig sitzen?" "Weitermachen." "Gut, komm." Ich drücke mich vom Sofa auf, rechne aber nicht damit, dass ich mit so viel Wucht aufstehe, dass ich schon gegen ihn pralle. Peinlich. Extrem peinlich. Er hält mich im perfekten Augenblick fest, beweist mir, was für gute Reflexe er doch besitzt und wie unpassend die Nähe zu meinem Gesicht ist, weil er sieht, wie rot ich werde. "So gefällst du mir viel eher, Schneeflocke." Idiot! Ich drücke ihn warnend von mir, ignoriere sein Schmunzeln und laufe mit dem Magazin in der Hand zum Schießstand. Er soll sich bloß nicht zu wohl bei mir fühlen! "Nicht erschrecken. Ich stelle mich wieder hinter dich", höre ich ihn hinter mir. Es ist gut, dass er mich vorwarnt, aber das bringt anscheinend auch nichts, weil ich trotzdem wieder erschaudere. Hätte ich meine Strickjacke an, könnte ich die Gänsehaut verdecken. Ich habe seinen Körper vor Augen, obwohl er hinter mir steht. Wie perfekt sich die längeren Ärmel seines T-Shirts um seine Oberarme formen. Ich würde sie gerne betrachten, aber ich will es nicht offensichtlich machen. Als er dann hinter mir plötzlich tief durchatmet, weiß ich nicht, ob ich ihm meinen Ellbogen in den Bauch rammen soll oder das Magazin in meiner Hand. Ich bin sensibel! Er soll aufhören, so viel zu atmen!
"Also, Schneeflocke. Das Magazin hast du schon mal in der Hand. Das Einsetzen ist einfach. Einfach reinstecken." Mir wird die Waffe wieder übergeben, woraufhin ich nach einem Korrigieren der Richtung das Magazin einrasten lasse. "Du musst es einmal durchladen. Das heißt, dass du den Schlitten einmal zurückziehst." Ich bin ein wenig verwirrt, aber mein Ansatz scheint wohl richtig zu sein, als ich meine Hand auf den Schlitten lege. Es ist schwerer als gedacht, ihn zurückzuziehen. "An der Seite links findest du einen Entriegler, den du nach hinten schieben kannst. Einige Modelle haben einen Druckknopf. Falls du doch nicht schießen willst, drückst du ihn, um es quasi zu entspannen und hier in dem Fall schiebst du ihn nach vorne, damit du nicht schießen kannst." Ich schiebe den Regler einmal vor und zurück. "Jetzt ist er entriegelt. Position einnehmen." Ich tue, was er sagt. Beide Hände um die Waffe, Daumen parallel seitlich anlegen. "Hier oben siehst du zwei kleine Aussparungen. Kimme und Korn. Das sind Zielhilfen, damit du richtig triffst. Die hier hat ein Tritium-Nachtvisier, sodass man auch im Dunkeln gut zielen kann." Sein Zeigefinger deutet auf die zwei Balken hinten und den einen vorne. Ich spüre seine Brust an meinem Rücken, kann mich deshalb nur halb konzentrieren. "Das Visieren bedarf an Übung. Anfangs eicht man nur ein Auge, aber mit der Zeit lernt man auch mit beiden Augen offen zu schießen. Schau auf die Waffe und schließ im Wechsel deine Augen." Sowohl er als auch ich heben gleichzeitig die Waffe weiter hoch, damit sie auf Augenhöhe ist. Schließe ich mein linkes Auge, sehe ich die Waffe weiter versetzt. Beim rechten Auge aber nicht. "Muss das rechte Auge schließen." "Gut. Zieh den Hahn zurück." Schieße ich jetzt los?
Ich bin aufgeregt, als ich seinem Befehl nachgehe, aber noch mehr setzt es meinen Magen in Bereitschaft, als er sich enger an mich drückt. Ich spüre seinen gesamten Körper an mir, kann nicht identifizieren, ob es seine Körperwärme ist oder meine, die für den Temperaturanstieg sorgt. "Der erste Schuss kann ein wenig überfordernd wirken, vor allem durch den Rückstoß. Ich will nicht, dass etwas passiert", raunt er. Anspannen, Avin. Spann deinen Körper an! Ich könnte mich hier und jetzt unter seiner Stimme winden, aber ich will die Spannung nicht noch weiter in die Höhe treiben, egal wie sehr mein Bauch jetzt bei seiner plötzlichen Hand auf ihr zuckt. "Kitzelig?" "Ich schieße dir gleich ins Bein, solltest du es wagen, mich zu kitzeln!", warne ich ihn. Sein leises Giggeln an meiner Schläfe bringt mich noch um! Er soll aufhören! Ich ... ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, so verrückt gut es sich auch anhört. "Mach mich nicht verrückt, Schneeflocke. Noch hatten wir das Gespräch nicht." Was ... wovon redet er? Ich drehe mein Gesicht fragend zu ihm, doch er tut nichts Weiteres, als mich an meinen Wangen wieder zum Ziel zu drehen. "Konzentrieren, Schneeflocke." Das sanfte Zusammendrücken meiner Wangen drückt seine versteckte Belustigung auf meine Ahnungslosigkeit aus. Was für ein Gespräch?! Deutet das Drücken seiner Hand um meine auch etwas Ambivalentes aus? "Nutz' die offene Visierung. Versuch so mittig wie möglich zu treffen." Gott, ich bin so aufgeregt! Würde er nicht fast an mir kleben, wäre ich sicherlich schon vor Hibbeligkeit aufgesprungen.
"Tief durchatmen, Schneeflocke." Ich tue es. Ich muss ruhig bleiben dabei, auch wenn es gerade mehr als nur schwer ist. "Rechtes Auge schließen und visieren." Ich hebe die Waffe ein kleines Stück weiter an, schaue durch den Spalt der Balken auf den Balken weiter vorne. Ich glaube, so ist das richtig. "Bereit?" Ich summe kurz, weil ich meine Position nicht verändern will. Mein Herz schlägt ganz schnell. Mein Bauch dehnt sich, als wäre ich gerade auf der Spitze einer Achterbahn. "Bereite den Schuss vor. Denk an die fünf Sekunden." Ich fühle mich wie in meiner ersten Prüfung der klinischen Chemie. Meine Züge sind viel vorsichtiger, viel bedachter, aber auch viel unsicherer. Ich lasse mir mehr Zeit, als ich den Abzug runterdrücke. Beim Ankommen am Schwellpunkt zögere ich. Ich muss es gleichmäßig machen. Kontinuierlicher Druckaufbau. Wieder von vorne. Erst leichter Druck, aber dieses Mal schneller, dann stoße ich auf den kleinen Widerstand, den ich zögernd durchdrücke. Der plötzliche Knall geht einher mit dem Rückstoß, der meine Schulter gegen seine drückt. Wow! Ich habe geschossen. Es ging so schnell. Mir ist so warm! Ich keuche, lache schon fast hysterisch auf. Oh mein Gott! Ich kann nicht anders, als zu lachen. "Sehr schön, Schneeflocke. Ein wenig weiter hoch und nach links verschoben, aber optimal genug, um sein Herz zu treffen." Mich durchströmt eine Euphorie, die mich so verdammt komisch fühlen lässt. Ich fühle mich so luftig. So locker. Als würde ich schweben. Mir ist, als würde ich an nichts anderes denken und alles fallen lassen. Ich habe wirklich gerade zum ersten Mal geschossen!
"Ich will noch einmal." "Du kannst so oft schießen, wie du willst, Schneeflocke." Er setzt die Waffe ein wenig höher an. "Schieß." Ich tue es dieses Mal viel lockerer, erschrecke mich aber trotzdem beim extrem lauten Knall. Mir macht es bei dem berauschenden Gefühl danach nicht einmal etwas aus, dass ich mich weiter an ihn drücke, wenn mich der Knall erschreckt. Er setzt die Waffe wieder ein wenig versetzt an. Dieses Mal drücke ich ab, noch bevor er es mir sagen kann. "Scheinst dich sehr gut einzuleben, Schneeflocke." Ich höre sein Lächeln raus. Mir tun schon die Wangen weh. Ich weiß nicht, wieso es mir so gefällt, aber ich fühle mich so unbeschwert dabei. Ich fühle mich so gut dabei. Es macht wirklich Spaß. "Willst du es einmal alleine versuchen?" Ohne ihn? Ohne seine Kraft, die mich vor dem Rückstoß bewahrt? Ich zögere einen Moment dabei. Ein wenig unsicher bin ich mir doch dabei. "Ich bleibe hinter dir. Meine Hände bleiben auf deinen Schultern, okay?" Das gibt mir schon ein viel sichereres Gefühl. Ich nicke, spüre schon wieder die Vorfreude meine Mundwinkel emporspringen. Gott, wie aufregend! "Aber lass mich deine Hand leiten. Moment." Die Waffe wird jetzt ein Ticken höher angesetzt. Es scheint, als würde er eine Parallele schießen wollen. "Bereit?" Ich nicke aufgeregt, strecke einmal erneut die Schultern durch, auf denen seine großen Hände ihren Platz finden. "Visieren." "Hab." "Gutes Mädchen. Jetzt lösen." Mein Finger zittert im Abzug, aber ich schaffe es, den Schuss fallen zu lassen. Mich durchzuckt wieder der Rückprall der Waffe, den ich aber durch das sofortige Anspannen meines Oberkörpers und seinen Händen abfedern kann.
Seine Hände verlassen beim Schießen kein einziges Mal meine Schultern. Nur, um meine Hände immer wieder versetzt anzusetzen. Erst denke ich, dass er ein Dreieck formen möchte, doch mit dem ersten, anders versetzen Schuss sehe ich das A. Es ist ein A auf der Brust. "Noch ein wenig weiter links und es ist perfekt, Schneeflocke. Versuch es selbst." Okay, ich darf es nicht vermasseln. Ich versuche ohne ihn, mit der Visierungshilfe den perfekten Punkt zu finden. Meine Hände zittern noch ein wenig vom ganzen Adrenalin, aber nach einer gefühlten Minute bin ich mir relativ sicher, den Punkt gefunden zu haben. "Hast du?" Ich nicke. "Gut. Einatmen und abdrücken." Der Schuss fällt. Dieses Mal sind seine Hände nicht auf meinen Schultern, aber ich kann den Rückstoß trotzdem gut abfangen. Mein erster Schuss, ohne jegliche Unterstützung. Mein Herz rast. Mir ist extrem warm. Es piept ein wenig in meinen Ohren, aber ich weiß, dass es gleich nachlässt. "Ein wenig schief, aber trotzdem sehr gut fürs erste Mal. Ich bin sehr stolz auf dich, Schneeflocke. Das hast du sehr gut gemacht." Ich drehe mich strahlend zu ihm. Ich fühle mich gerade so gut! "Mir gefällt dein Lächeln, Schneeflocke. Ich sollte dich öfter schießen lassen." Ich halte ihm die Waffe hin, ignoriere dabei die Hitze auf meinem Gesicht. Gegen ein erneutes Date zum Schießen habe ich nichts. "Um das Magazin zu entfernen, musst du einmal den Magazinhalter drücken. Ist ein Knopf. Manche haben unter dem Abzug am Bügel einen Hebel, den sie drücken." Er zeigt einmal darauf, woraufhin ich auf den kleinen Knopf drücke und das Magazin rausfällt. "Du musst aber aufpassen beim Entladen. Im Lauf kann immer noch eine Patrone sein." Er zieht den Schlitten für mich zurück und dann noch einmal versetzter, woraufhin die Patrone unten aus dem Magazinhalter fällt. Er bückt sich, um sie aufzuheben und hält sie mir dann hin. "Ein kleines Andenken."
Der Samstag vergeht in einem angenehmen Tempo für mich. Wir sitzen noch lange auf der Couch, mit einigen Knabbereien und Trinken, bis ich beschließe, aufzubrechen. Die kleine goldene Patrone bleibt dabei die ganze Zeit in meiner Hand. Ich kann sie einfach nicht weglegen und streiche jetzt schon wieder halb bei der Sache über die Spitze. Es ist ein schönes Andenken. Etwas Außergewöhnliches. Ich werde es wie das Messer in meiner Jackentasche mit mir tragen. Ich habe am heutigen Tag Fortschritte abgelegt. Ich war heute erstaunlich offen zu ihm. Ich habe seine Nähe zugelassen. Sehr sogar. Ich kann es noch nicht ganz glauben. Ein bisschen nagt der emotionale Ausbruch doch an mir, aber dadurch, dass ich jetzt endlich nach langer Zeit wieder richtig geweint habe, bin ich sicher, dass es nicht mehr vorkommen wird. "Da wären wir, Schneeflocke." Was er wohl von der Umgebung hält? Von den ganzen Graffitis, dem vielen Müll, den hängenden Turnschuhen, die sagen, dass man hier Drogen kriegt, den komischen Gestalten und zur Nachmittagszeit von den kleinen Kindern, die manchmal fast sorglos vor Autos laufen? "Dankeschön." "Mit Vergnügen, Schneeflocke. Wir sehen uns." Ich nicke, verabschiede mich, als ich aussteige und höre dann wieder im Aufzug erst, wie er wegfährt. Der Tag war schön. Er hat mir gefallen. Sehr sogar. Ich kriege mein dämliches Lächeln nicht von meinen Lippen, selbst als ich die Haustür aufschließe ... es vergeht mir doch. Er ist wieder da. Er liegt pennend auf dem Sofa, verspottet mich mit seinem berauschten Zustand, den man aus seinem offenen Mund riechen kann, wenn man es wirklich wagt, diesem Junkie nahezukommen. All die Freude, die ich gerade noch hatte, verpufft sofort. Sie hat ihn wieder hereingelassen. Es ist nach 22:00 Uhr. Mein Vater schläft und weiß nicht, dass er jetzt wieder hier ist. Ich bin sauer. Ich bin enttäuscht. Ich werde wieder auf den Boden der Tatsachen geschmettert.
Egal, wie schön ein Moment sich doch anfühlt: am Ende des Tages holen mich die grauen Hände meines eigentlichen Lebens wieder ein.
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