Kapitel 11

"Danke fürs Fahren und fürs Essen." Die fünfzehn Euro liegen unter seinem Sitz. Er nickt mir zu. "Immer wieder gern, Schneeflocke. Ich hole dich morgen von der Arbeit ab." Wie normal sich das anhört. Ich freue mich. Mein Arm verlässt widerwillig die Armlehne. Am liebsten würde ich seinen Unterarm drücken, aber ich verkneife es mir. Meine Mutter ruft mich schon wieder an, ich sollte lieber los. Es ist kühler geworden. Es sollen aber morgen bis zu 16 Grad werden. T-Shirt und Strickjacke sollten reichen für das Erlebnis nach der Arbeit. Der Motor des teuren Maseratis schnurrt wieder erst dann laut auf, als ich in den Aufzug trete. Was erwartet mich nach der Arbeit? Sollte ich wieder viele Fragen haben, würde ich das Gespräch gern am See bei ihm führen. Sollte ich das Angebot annehmen, werde ich nie wieder die halb versagende Klingel des Aufzugs hören, wie jetzt. Vor unserer Haustür stehen nur unsere Schuhe. Das erleichtert mich. Er ist nicht da. Im Wohnzimmer brennt noch Licht und ich höre kurdische Stimmen aus dem Fernseher. "Tu hatî?" Ich habe nie verstanden, wieso meine Mutter immer fragt, ob ich gekommen bin, sobald ich in die Wohnung trete. Vielleicht verstehe ich es, wenn ich irgendwann selbst doch Kinder haben möchte. "Ja", antworte ich, als ich aus meinen Schuhen schlüpfe und die Tür schließe. Sie sitzt wieder auf ihrer kleinen Matratze, mit dem Rücken an die Heizung gelehnt. Ihre Brille sitzt wieder auf ihrer Nase und anhand der Bewegung ihres linken Daumens weiß ich, dass sie Candy Crush oder eins der anderen zehn ähnlichen Spiele spielt.

"Hast du deine Tabletten genommen?" Ich sehe nämlich nur die große Packung Ibuflam bei ihr und nicht die neuen Cholesterintabletten, die sie nehmen muss, aber immerhin bestätigt sie es mir. Das ist gut. Auf dem Fernsehtisch steht noch der kleine Tiegel mit Heparincreme, die sie auf ihre Blutergüsse auftragen musste. Die nehme ich an mich. Ihre Flecken sind schon weg und ich habe diese kleine Sammeleigenschaft, Medizinisches bei mir haben zu wollen. Vielleicht brauche ich die Creme ja irgendwann. Vielleicht ... ach, das ist unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass ich ihn irgendwann verarzten muss. Ich behalte den Tiegel aber trotzdem bei mir. "Wo warst du?", fragt sie mich, als ich mich aufs große schwarze Sofa lege. Mit dem blauäugigen Mörder unterwegs. Ich mag diesen Namen. "Ich war mit einem Kollegen Pizza essen. Ich bin länger geblieben und hab den ganzen Tag kaum etwas gegessen." "Egal, besser so." Meine Mundwinkel sinken vom kleinen Lächeln. Ich weiß, dass sie das nur aus Spaß sagt, aber ich weiß auch, dass hinter jedem ihrer Witze ein großer Funken Wahrheit steckt. Ich habe keine Lust mehr hier zu sein. Jedes Mal. Jedes verfickte Mal muss ein Spruch zu meinem Körper fallen. Ich verlasse das Wohnzimmer wortlos. Ich kann sowieso nicht zu lange hierbleiben. Mein Zimmer ist meine Oase und nicht das helle Wohnzimmer. Was ist daran so schlimm, so einen Körper wie ich zu haben? Andere zwingen sich zu essen und recherchieren, wie sie zunehmen, damit sie so einen Körper kriegen. Wieso muss sie meinen Körper so schlecht sehen?

Ich will gar nicht in meinen Spiegel schauen, um mir zu bestätigen, dass mein Körper schön ist. Ja, gerade wirkt mein Bauch ziemlich groß, aber das ist doch logisch, wenn man viel gegessen hat. Sie soll endlich aufhören, mich wie eine 160 Kilo schwere Frau anzusehen! Das ist krank! Hätte ich nicht das nötige Selbstvertrauen, hätte sie und jede andere gottverdammte Person aus dem Familien- und Bekanntenkreis meine Psyche kaputt gemacht. Sie macht sich schon Sorgen um meine Brüste und dass sie zu groß sind und ich bald Rückenschmerzen davontrage. Ich trage 85C, keine 85Z. Einige weibliche Familienmitglieder haben ernsthaft gemeint, dass meine Hände und Füße zu klein für meinen Körper wären. Das ist krank. Das ist gestört. Ich weiß nicht, wieso sie alle so in diesem Schlankheitswahn sind, aber ich bin froh, wenn ich einen Tag nichts mehr zu meinem Körper hören muss. Ich lege mir schon einmal Kleidung für morgen raus. Nichts sonderlich Auffälliges, ich soll ja bequem angezogen sein. Soll ich dann direkt in Jogginghose zur Arbeit? Ich weiß nicht. Ich weiß ja nicht, was wir machen werden! Aber irgendwie will ich nicht in Jogginghose sein. Ich will meine Lieblingsjeans anziehen. Eigentlich sollte ich nicht bewusst nach körperbetonten Sachen greifen, aber gegen eine normale blaue Jeans und ein weißes T-Shirt sagt doch niemand was. Noch eine graue Strickjacke und meine braune Bikerjacke. Passt doch. Meine Goldcreolen trage ich immer noch seit dem Sonntag sowie meine lila Tropfenkette. Mich überkommt jetzt schon der Drang, Mascara aufzutragen, aber ich weiß nicht, ob ich es wirklich tun sollte. Nein, lieber nicht.

Der Arbeitstag kam mir noch nie so lang vor. Der Weg dahin hingegen war so kurz wie noch nie. Ich hatte das Gefühl, die ganzen Graffitis, hängenden Turnschuhe und Mülltonnen in meiner Siedlung dieses Mal gar nicht gesehen zu haben. Nicht einmal den sonst so lauten Zug, der über die Brücke fährt, an der ich immer vorbeilaufen muss. Nichts, gar nichts! Ich habe nur erschreckend viele schwarze Autos gesehen. Und davon waren so viele Sportmodelle dabei, aber kein einziger Maserati. Es ist gleich 13:00 Uhr. Nicht mehr allzu lange und ich habe Schluss. Ich kann jetzt schon nicht mehr. Ich habe keine Lust aufs Mikroskopieren. Meine Zeit verschwende ich lieber damit, Platten zu beimpfen, aber das geht auch viel zu schnell. Wieso habe ich mich heute nicht einfach krankgemeldet? Ich seufze. "Avin, kannst du kurz mitkommen?" Mein Gesicht verzieht sich halb angeekelt, als ich Chiaras Stimme höre und es bleibt auch so, als sie zu mir kommt. "Kann Laura nicht mit dir gehen?" "Die macht gerade die Gramfärbung und muss gleich an den VITEK. Ich muss neue Platten und Ösen holen." Mein Blick bleibt gleich. "Und das schaffst du nicht alleine?", hake ich trocken nach. Ösen und Platten sind alle im Set verpackt. Die muss sie einfach nur am Rand festhalten. Chiara lässt sich von meinem trockenen Ton nicht beirren. Nein, sie lacht nur hibbelig. "Sind mehrere Platten deshalb. Bitte." Also schön. Ich ziehe mir meine Handschuhe aus, desinfiziere mir die Hände und laufe stumm neben ihr her. Das ist mir gerade unangenehmer als mein erstes Aufeinandertreffen mit dem blauäugigen Mörder.

"Woher kennst du eigentlich den Kooperationspartner?" Ach! Jetzt macht alles Sinn. Ich weiß nicht, ob ich lachen oder sie abwertend anschauen soll. Gerade bin ich zu lethargisch für beides. "Was spielt das für eine Rolle?", frage ich trocken. "War nur so gefragt", erwidert sie spitzer als es ihr lieb ist. Keine Ahnung, ob ihre Hyperaktivität wieder daran schuld ist oder ob ich ihr unangenehm bin. Mir ist beides egal. Sie soll mal nicht so tun, als würde sie nicht jedes Mal im Labor mit Laura über ihn sprechen. Wahrscheinlich denkt sie, dass meine Musik alles übertönt, dass sie sich so wohl beim Tuscheln fühlt. Idiotin. Nicht einmal sein gepierctes Ohrläppchen beachtet ihr komisches Sphinxgesicht. Was stimmt eigentlich nicht mit ihr, dass sie so über einen fremden Mann fantasiert, der es offensichtlich gemacht hat - sogar vor der Oberleitung -, an mir interessiert zu sein? Was erhofft sie sich? Ich reiße ihr schon fast genervt die Tüten mit den Ösen aus der Hand und laufe los, ohne auf sie zu warten. "Und bring Objektträger mit", gebe ich schroff von mir. Ich steige angestrengter als sonst die Treppen hoch. Die Pollensaison ist laut Nachrichten dieses Jahr stärker als die Jahre davor. Kein Wunder, dass ich trotz Antiallergikum so oft huste. Sollte ich nicht eigentlich einen Schlüssel für den Aufzug bekommen? Nicht einmal das kriegen die hin. Ich verdrehe meine Augen, atme bei jedem Schritt tief durch bis ich wieder im Labor bin. Ich habe keine Lust mehr auf diesen Tag. Ich will endlich wissen, wohin es geht!

Endlich! Ich habe Schluss! Ich kann nicht mehr! Noch nie in meinem Leben hat sich ein Tag so gezogen wie der heutige Samstag. Je langsamer ich gearbeitet habe, desto länger ging eine Minute. Ich bin durch. Ich habe fünfzehn Minuten eher aufgehört, was mir sowas von egal ist. Ich hatte nichts mehr zu tun und habe in der letzten halben Stunde neue Bücher auf meine Merkliste gepackt, aber jetzt kann ich raus! Ich eile wie noch nie aus dem Labor. Meine Hände reiben das Desinfektionsmittel so ungeduldig ein, weil ich mich hier im Gebäude so eingeengt fühle. Draußen scheint die Sonne, mein Haar sitzt heute außerordentlich gut, als ich es öffne, auch wenn ich es nicht sehe. Ich spüre das Volumen, als ich meine Haare aus dem Zopf befreie. Mein Herz klopft vor Ungeduld fest in meinem Brustkorb. Nur noch eine Etage und ich stehe vor der Brandschutztür, die mich immer zum erleichternden Ausgang führt. Er steht schon dort. Mein Herz schlägt nur noch schneller. Er sieht gut aus. Heute trägt er einen schwarzen Pullover, der an den Ärmeln hochgekrempelt ist. An seinen Unterarmen kann man perfekt das Abnehmen von Blut üben. Ich trete zu ihm, nicke stumm zur Begrüßung. Keine Ahnung, wieso mir meine Stimme im Hals steckenbleibt. "Hallo, Schneeflocke. Du siehst gut aus." Meine Kopfhaut prickelt bei diesem Kompliment angenehm. Ich bedanke mich leise. Er sieht ebenfalls gut aus. Keine Anzughose, aber eine schwarze, lockere Jeans, die nicht zu viel seiner Beine betont. Ich mag es, dass er seine Unterarme freihat und ich mag die silberne Uhr an seinem linken Handgelenk. Und seinen Ohrring.

"Komm. Lange halte ich das in der Sonne nicht aus." Oh, stimmt! Seine Lichtempfindlichkeit. Ich laufe neben ihm her, eile fast, weil ich trotz meiner schnellen Gehgeschwindigkeit mit einem wahrscheinlich fast zwei Meter großen Mann mithalten muss. Es ist ein wenig anstrengender durch die fliegenden Pollen, weshalb ich wieder zu husten beginne. Ich sollte gleich lieber einen Stoß inhalieren. Am Auto angekommen, tue ich es auch. Zum Glück habe ich noch einen Schluck Wasser, mit dem ich meinen Mund nachträglich ausspülen kann. "Alles in Ordnung?" Ich nicke stumm, muss noch fünf Sekunden die Luft anhalten, ehe ich ausatmen darf nach dem Inhalieren. "Pollenallergie", setze ich atemlos an und im nächsten Moment meine Wasserflasche. Ich entferne mich lieber ein wenig von seinem Auto. Nicht, dass ich aus Versehen einige Tropfen gegen seine Felge spucke. "Sicher?" Ich nicke wieder. "Ich muss das tun. Dieses Jahr ist der Pollenflug stärker." Hoffentlich leidet meine Bindehaut nicht darunter. Ich tupfe mir die Lippen wieder trocken und steige ins warme Auto. Ich bin verdammt gespannt, wohin es geht. "Wie war die Arbeit?", fragt er mich und ich stöhne sofort genervt auf. "Noch nie hat sich ein Tag so in die Länge gezogen und Chiara hat mich auch extrem genervt." "Chiara?" Oh, stimmt. Er weiß nicht, wer die nervige Tunte ist, die sich mal bei ihm verabschiedet hat. "Diese eine Komische, die sich am Montag von dir verabschiedet hat." "Sagt mir nichts." Hoffe ich mal auch für dich. "Na ja, jedenfalls hat sie mich darum gebeten, ihr zu helfen, neues Material aus dem Abstellraum zu holen. Die Intention dahinter war, zu wissen, woher ich dich kenne." Er summt verstehend.

"Und du hast ihr selbstverständlich gesagt, dass ich dein Verlobter und zukünftiger Ehemann bin, nicht wahr?" Dieses Mal schaffe ich es, mein Schmunzeln in Grenzen zu halten. Er ist lustig. Er soll aufhören, lustig zu sein! "So ähnlich", erwidere ich trocken, auch wenn mein Schmunzeln nicht nachlässt. "Ach, wirklich? Was hast du ihr denn gesagt, Schneeflocke?" "Dass es keine Rolle spielt und sie noch Objektträger mitnehmen soll." "Du wärst eine herrische Geschäftsführerin, aber immerhin hättest du alles unter Kontrolle." Mir würde es reichen, wenn ich mein Leben und Umfeld unter Kontrolle hätte. Wir fahren auf die Autobahn, wo er wieder auf der linken Spur beschleunigt und schon wieder kribbelt es im Unterleib wie beim ersten Mal. Ich mag es. Mir gefällt es aus welchem Grund auch immer, wenn schnell gefahren wird, aber ich will nicht so bei ihm denken. Nur spielt mein Gefühl gegen meinen Verstand, als mein Blick auf seine freien Unterarme fällt. Seine hervorstechenden Venen schimmern im Sonnenlicht. Mir gefällt es, wie entspannt er beim Fahren wirkt. Das Sonnenlicht scheint auf seinen Ohrring. Er klappt zungenschnalzend die Sonnenblende runter. "Ich warte nur auf die Folie für meine Scheiben." "Ich dachte, man darf nur die hinteren Scheiben tönen." "Sind spezielle UV-Folien. Die verdunkeln nichts, aber mattieren das Sonnenlicht. So kann ich nicht fahren." Ein Glück habe ich nicht so ein Problem. Das würde mir die Arbeit beim Mikroskopieren sicherlich erschweren. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Netzhaut verbrennt, wenn ich neu reinschaue, weil das Licht so hell eingestellt ist.

Wir fahren runter und kommen in einem Industriegebiet an. Es wirkt ziemlich verlassen hier. Einige große Transporter, aber weit und breit sehe ich niemanden. "Willst du mich doch umbringen?" Meine Frage kommt entgeistert über meine Lippen statt voller Angst und auch er reagiert nicht wie ein Mörder, sondern resigniert seufzend. "Schneeflocke, wie oft noch? Ich tue keiner Frau etwas an." Ich glaube ihm kein Wort. Und trotzdem sitze ich in seinem Wagen und lasse mich durch ein verlassenes Industriegebiet fahren. Ich Kranke. Wir kommen auf einem großen Hof vor einer noch größeren Halle zum Stehen. Auch hier ist niemand. Dass sich der große Drahtzaun hinter uns automatisch schließt, beunruhigt mich ein wenig. Wenigstens habe ich mein Messer bei mir - mein geschärftes Messer. Ich habe mich aber ehrlich gesagt nicht getraut, es aufzuklappen, wegen der Verletzungsgefahr. Sonst war es mir egal, wenn die Klinge nicht ganz zugeklappt war, aber jetzt ist es ja so scharf wie ein Skalpell. Ich steige aus. Kein einziger Tipp ist weit und breit zu sehen, damit ich endlich weiß, was wir hier machen werden. Nicht, dass er mir seine Leichensammlung zeigt. Oder seine Waffensammlung? Sein Schwarzgeld? Mein Gott, was ist es?! Von seinem Gesicht kann ich auch gar nichts ablesen. Kein Schmunzeln, keine innere Vorbereitung, keine kalte Miene. Nein, es ist wie ein Spaziergang für ihn. Aber jetzt stehe ich davor. Vor der großen Tür, die er aufschließt. Gott, mein Herz schlägt so schnell. Ich trete vorsichtshalber einen Schritt zurück. Die Tür geht auf ... oh mein Gott.

"Eine Schießhalle?" Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Ich sollte die riesige Halle erstmal nach Blut absuchen. Nicht, dass er hier seine Opfer aufhängt und nach Belieben erschießt. "Selbstverständlich, Schneeflocke. Komm." Er verschließt die Tür wieder. Seine Hand legt sich auf meinen Rücken, um mich weiterzuführen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Es ist eine verlassene Industriehalle mit mehreren Schießständen. Kein Blut. Kein Geruch verwester Leichen. Nur ein wenig Stickig. Die Decken sind wahrscheinlich mehr als zehn Meter hoch. Scheint eine alte Fabrik gewesen zu sein. Ich lege meine Lederjacke und Tasche auf dem braunen Ledersofa ab. Ich finde es so paradox, dass hier ein Perserteppich, ein Couchtisch und ein ganzes Sofa-Set ist. Wahrscheinlich ist hier noch ein Bade- und Schlafzimmer. "Willst du erst was essen?" Ach, wie konnte ich die Küche hier vergessen? Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Mein Kopf schüttelt sich nur ganz langsam. Ich habe nicht viel Hunger. Ich habe heute gefrühstückt und das große Omelett hält mich immer noch satt. "Vielleicht später", antworte ich, als ich meine Lederjacke auf den Sessel lege. "Wie du möchtest, Schneeflocke." Er greift hinter sich und ehe ich mich versehe, hält er seine Waffe in seiner Hand. Mein Bauch zieht sich sofort zusammen. Ich mache schon Ansätze, nach hinten zu laufen, als er mich schon wissend aufhält. "Keine Angst. Dir passiert nichts." Er lässt das Magazin rausfallen und hält es mir hin. Am Ende trägt er noch eins bei sich. Ich nehme es zögernd an mich und weil ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll, stopfe ich es mir unbeholfen in meine hintere Hosentasche. "Ich bringe dir das Schießen bei, Schneeflocke." "Wieso muss ich es können?" "Man weiß nie, was passiert, auch wenn ich dich mit meinem Leben schützen werde. Es ist besser, wenn du es kannst. Eine weitere Kompetenz schadet keinem Menschen." Aber Schießen ... als ob ich jemals einen Menschen anschießen will. Ich schlucke.

"Komm." Also schön. Ich gehe ihm zögernd hinterher zum mittleren Schießstand. Die anderen aufgezeichneten Männchen sehen schon gut durchlöchert aus. Meiner ist noch unversehrt. "Hattest du schon einmal eine Waffe in der Hand?" Ich nicke. Der Junkie kam einmal mit einer kleinen Waffe nach Hause, als er vor der Haustür herumlungerte und hat mich gebeten, sie zu verstecken. Nach zwanzig Minuten hatte ich keine Lust mehr, sie bei mir zu behalten, weil ich wusste, dass er sonst mitten in der Nacht an meiner Tür klopfen und nach der Waffe fragen würde. "Auch benutzt?" Das verneine ich wiederum, muss aber an den lustigen Zwischenfall in der Heimat denken, als ich fast meinen Cousin mit seinem Sturmgewehr erschießen wollte. Ich weiß nicht, wieso ich so naiv war und dachte, es wäre eine Spielzeugwaffe, aber ich habe ja nur auf ihn gezielt und nicht den Abzug gedrückt. Zumal sie auch gesichert war und er mich so schnell wie möglich darauf hingewiesen hat. Gute alte Zeiten. "Wir beginnen mit der richtigen Haltung. Bei einem Schuss entsteht eine Kraft, die dich zurückdrückt. Stehst du nicht richtig, kannst du keinen richtigen Widerstand aufbauen und das wiederum führt dazu, dass du das Ziel verfehlst." Okay ... schätze ich mal. Ich nicke langsam. "Gerade hinstellen." Ich tue es. Bis gerade ist mir nicht einmal aufgefallen, dass ich mein Gewicht auf ein Bein verlagert habe. Er winkt mich näher zu sich. Bis jetzt ist alles in Ordnung, aber als er sich hinter mich stellt, weiche ich sofort zurück. Ich hasse es. Ich hasse es über alles! Ich erschaudere sofort. Mich überkommt eine sofortige Wut, die ich aber nicht an ihm auslassen darf. Er ist nicht schuld daran. Er weiß es nicht.

Sein Blick liegt besorgt auf mir. Ich atme einmal tief durch. Es ist alles in Ordnung. Es ist alles okay. Kein Grund, die emotionale Kontrolle zu verlieren. "Ich wollte dich nicht überwältigen oder sonst irgendwie unangenehm fühlen lassen. Ich muss mich hinter dich stellen oder versetzt zu dir, um deine Haltung zu korrigieren. Brauchst du eine Pause?" Ich schüttele den Kopf. Ich muss endlich klarkommen. Die Lust zu reden, ist mir vergangen. Mein Mund bleibt zu, aber mein Körper reagiert wieder mit einem Schauder, als er hinter mir steht. Ich könnte durchdrehen! "Arme anheben und Waffe nehmen." Ich tue das Erste, kriege die schwere Waffe dann in die Hände gelegt. "Niemals die Waffe so umschließen." Er umklammert meine Hände demonstrativ. "Deine Daumen zeigen mit der Kuppe von dir weg. Du platzierst sie über den Abzug auf dem Schlitten. So kannst du den Rückstoß gut kompensieren und auch eine etwas schlechtere Abzugskontrolle." Seine Stimme kitzelt unter meiner Haut, obwohl er sich bemüht, einen respektablen Abstand zu behalten. Ich spüre trotzdem seine Wärme auf meinem Rücken. "Das richtige Abziehen kommt danach." Er zieht ein kleines herausguckendendes Stück mit seinem Daumen vor meiner Nase zurück. "Leg deinen Zeigefinger auf den Abzug." Ich tue es, tippe ihn einmal vorsichtig an. "Es ist wichtig, die goldene Mitte zu haben. Komplett durchdrücken ist falsch. Das ist unnötige Kraftverschwendung und oftmals zittert man auch dann." Sein Zeigefinger legt sich über meinen, drückt zu, bis ein leises Klicken entsteht und das kleine Ding, das er zurückgezogen hat, wieder in seine Ausgangsposition rastet. Ich erschrecke mich zuckend. Mir wird sofort warm. "Keine Angst, es passiert nichts. Du gewöhnst dich daran. Wir haben Zeit."

Ich spüre ganz plötzlich, wie seine Hand über meinen Rücken streicht. Ganz kurz. Sie zieht sich sofort zurück. Es war ein kleines, beruhigendes Streicheln, um mich zu besänftigen. Es war schön. Ich hätte es eine weitere Sekunde sogar genossen, aber ich weiß, dass er es mir aus Respekt schnell unterlassen hat. Es war dennoch angenehm. "Wenn du es ganz durchdrückst, neigst du dazu, die Waffe durch den Druck, wenn auch nur ganz leicht, zur Seite zu drücken und so verfehlst du das Ziel. Was auch wichtig ist, ist es nicht nur die halbe Fingerkuppe auf dem Abzug zu halten." Er zieht meinen Zeigefinger demonstrierend zu weit zurück, dass fast nur mein Nagel auf dem Abzug bleibt. "Richte dich daran, ungefähr einen Zentimeter Abstand zum Rahmen zu haben. Wenn du die Waffe zur Seite drehst", er tut es für mich und streicht mit seinem Zeigefinger über meinen angewinkelten. "Dann solltest du perfekt deine unterste Fingerpartie sehen. Mit den Falten. Daran kannst du dich orientieren, okay?" Ich nicke. "Ich ziehe den Hahn jetzt zurück und du drückst einmal ab. Langsam. Der Abzug muss gerade nach hinten gezogen werden." Okay. Ich drücke ab. Nicht zu tief, nicht zu locker. Hat sich eigentlich gut angefühlt. "Okay, noch einmal. Zieh den Hahn zurück." "War es schlecht?" Begeistert klingt er nicht. Seine Hände verlassen meine. Hm. Wenn es sein muss. "Es war schief." "Schief?", wiederhole ich schon fast entsetzt. Das hat sich gar nicht so angefühlt. "Ja, Schneeflocke. Das war am Anfang auch bei mir so. Bloß nicht übermütig werden", höre ich ihn am Ende neckend hinter mir sagen. Ich falle aus meiner angespannten Haltung. Mein Schmunzeln fühlt sich so leicht auf meinen Lippen an.

"Und streck' die Schultern ein wenig durch." Sowohl das als auch das Zurückziehen des Hahns mache ich gleichzeitig. Aber wie soll ich wissen, ob ich schief bin? "Drück nicht zu schnell ab. Nimm die Fünf-Sekundenregel. Du zählst von eins bis fünf und innerhalb der zweiten und vierten Sekunde solltest du den Schuss auslösen. Du hast doch sicherlich oft genug mit Eppendorf-Pipetten gearbeitet, oder?" Ich nicke verwirrt. Was haben jetzt die Mikroliterpipetten damit zu tun? Meine Arme tun langsam weh. Ich lasse sie sinken und drehe mich fragend zu ihm. Wie hübsch seine Bizepse durch seine verschränkten Arme aussehen und wie hinreißend die Konturen seiner Unterarme sind. "Mal sind es drei Hübe, mal zwei oder nicht?" Ich nicke erneut. "Je nachdem, ob sie noch einen eigenen Druckknopf fürs Abstoßen der Spitze haben." "Genau. Beim Übergang vom ersten Hub zum zweiten merkst du doch einen kleinen Widerstand, oder? Wie eine kleine Schwelle." Ich nicke. "Versuche sie auch hier zu finden. Du baust kontinuierlichen Druck auf. Sei nicht zu schnell. Du hast Zeit. In der ersten Sekunde übst du den leichtesten Druck aus, in der zweiten wirst du stärker. In der dritten oder vierten Sekunde fällt der Schuss und in der Fünften lässt du wieder los. Das hört sich jetzt nach viel an, aber du wirst merken, dass es ganz entspannt ist." Ich fühle mich wie am Anfang meiner Ausbildung, als meine Lehrerin der klinischen Chemie innerhalb gefühlter fünf Sekunden erklärt und demonstriert hat, wie man mit den Mikroliterpipetten vorbenetzt. Das ist ein wahrer Flashback für mich.

Ich drehe mich wieder in meine Ausgangsposition. Schultern und Rücken gerade, Arme ausstrecken, Hände richtig um die Waffe legen und Daumen adäquat positionieren. "Gute Haltung. An deinen Beinen muss ich nichts ändern." Er soll aufhören, sonst grinse ich noch gleich! Ich übe leichten Druck aus, um zu wissen, wo genau die Schwelle ist, wie ich es immer mit den Pipetten gemacht habe. Okay, noch einmal und noch einmal etwas schneller. Da ist es. Der kleine Widerstand. Einmal tief durchatmen und dann fange ich an zu zählen. 1: langsamer Druckaufbau. 2: verstärkter Druck. Ich spüre den Widerstand. 3: Durchdrücken und auslösen bis zur vierten Sekunde. 5: Waffe absetzen. Es hat sich nach mehr als fünf Sekunden angefühlt, wenn ich ehrlich bin, aber dieses Mal wirkte es viel angenehmer. "Viel besser, Schneeflocke. Ich bin stolz auf dich." Er ist stolz auf mich. Oh Mann. Er weiß gar nicht, was das in mir auslöst. Ich brauche diese Bestätigung. Ich brauche sie viel mehr, als er sich nur vorstellen könnte und ich habe es zu selten gehört. Nicht, weil meine Eltern mich nie für meine Leistungen und mein Anstreben gelobt hätten, das haben sie nämlich oft, aber mir hat immer jemand gefehlt, der mir in schweren Zeiten genau das gesagt hat. Dann, als ich mich um alles kümmern musste, als mein Vater auf der Intensivstation lag. Als ich mein und das Zimmer meiner Schwestern renoviert habe. Als ich mich als Unwissende um Reparatur, Finanzen und Anrufe gekümmert habe, weil mein Bruder sich stellvertretend um die Werkstatt kümmern musste. Als ich mit dem Anwalt des Vermieters der Werkstatt im Hin und Her war, weil es wegen der Krankheit meines Vaters doch einige Probleme gab. Als ich mich um meinen Vater und seine Krankheit gekümmert habe. Es war so viel. Es ist immer noch so viel.

Ich muss durchatmen. Tief durchatmen. Ich will nicht emotional werden deshalb. Es ist doch vorbei. Es ist alles gut. Wieso werde ich jetzt deshalb emotional, wenn ich damals alles gut und ohne Erschöpfung händeln konnte? Ich drehe mich zu ihm, halte unbeholfen die Waffe in meiner Hand. "Ist alles in Ordnung?" Ich nicke. Mir kommt wieder kein Wort über meine Lippen. "Willst du nicht noch einmal?" "Später vielleicht", murmele ich. Seine Hand umschließt den Schlitten. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen. "Sicher, dass alles in Ordnung ist?" Ich nicke. Alles ist in Ordnung. Es ist okay. Alles ist okay. Ich räuspere mich, bevor ich weiterspreche. "Ich will was essen." Das helle Blau seiner Augen besänftigt mich gerade, egal wie streng er doch aussieht. "Gut. Komm mit." Ich laufe hinter ihm her, betrachte seinen breiten Rücken in diesem schwarzen Pullover. Warum ich jetzt an den Fakt denken muss, dass er keine Jungfrau mehr ist und plötzlich seinen nackten Rücken vor Augen habe, in den sich weibliche Nägel reinbohren, weiß ich nicht. Er hält mir die Tür offen, als er in die Küche tritt. Hier ist ernsthaft eine vollausgestattete Küche. "Was genau möchtest du essen?" Er lehnt sich an die Küchentheke. Ich lasse nur verstohlen meine Augen über seine Unterarme schweifen. "Keine Ahnung." Aber irgendwie habe ich ganz plötzlich Lust auf Hühnerfrikassee oder etwas in die Richtung. Ich schaue mir den Inhalt der Schränke an. Alles scheint da zu sein. Auf der Packung des Hähnchens ist auch ein Helalsiegel, also kann ich davon ausgehen, dass er auch darauf achtet. Immerhin. "Hühnerfrikassee?" "Was immer du willst, Schneeflocke." Sind ja keine Auberginen drin, dass er nicht wollen würde.

Solange ich die Hähnchenbrust wasche und schneide, holt er das Tiefkühlgemüse raus und setzt den gewaschenen Reis auf. "Weißt du schon, in welche Facharztrichtung du gehen möchtest?" Es sind so viele Richtungen, dass ich am liebsten alle machen würde. "Das war immer ein Wechsel. Angefangen hat es mit der Dermatologie in der Grundschule, weil ich ja selbst Hautprobleme habe. So bin ich zum allerersten Mal in Kontakt mit der Medizin gekommen. Ich dachte früher, dass man in der Dermatologie die krassesten Hautkrankheiten behandelt, aber mit der Zeit und den vielen, vielen Besuchen wurde mir klar, dass es oft nur Dinge wie Neurodermitis, Schuppenflechte, Hautkrebs, Ausschlag und Akne sind. Kein Xeroderma pigmentosum oder Epidermolysis bullosa. Dann wollte ich in die Allgemeinmedizin gehen, aber bei unendlichen Besuchen dort wurde mir klar, dass es dasselbe Spiel ist. Es ist mir zu eintönig und klar, ich werde nicht wie in Serien und Filmen jeden Tag mit einer neuen Krankheit konfrontiert, aber jeden Tag Krankenscheine ausstellen, weil irgendein Schüler kommt und denkt, ich glaube ihm, dass er Magen-Darm hat, damit er nicht zur Schule gehen muss? Das war schnell weg." Ich mache eine verdeutlichende Handbewegung. Das erste Brustfilet kann in die Pfanne. "Was ist mit der Allgemeinchirurgie?" Jetzt summe ich. "Das habe ich mir auch überlegt. Ich war mir aber unschlüssig. Ich weiß nicht. Irgendwann war es die Unfallchirurgie." "Warst du dann auch zu oft dort?" Ich lache unerwartet los. Scheiße, damit habe ich wirklich nicht gerechnet. Ich kriege mich kaum ein, aber meine Atemwege bremsen mich mit dem Husten ab. Oh Gott, das tat gut.

"Nein", schmunzele ich. In seinen Augen glitzert etwas, als ich zu ihm schaue. "Und warum willst du keine Unfallchirurgin mehr werden?" Seine Stimme besitzt wieder dieses angenehme Raunen. Es wickelt mich ein, als wäre sie die kuscheligste Decke. Meine Schultern zucken. "Keine Ahnung. Es ist eine Fachrichtung, die ich in Erwägung ziehe. Ich würde gerne operieren, aber auch eine eigene Praxis haben, weißt du? Ich dachte dann an die Neurologie, aber irgendwie hat sich seit zwei Jahren die eine Fachrichtung nicht gewechselt, die ich anstrebe." Er nähert sich mir. "Welche denn, Schneeflocke? Ich muss wissen, was ich an Geräten für dich besorgen muss." Ich lächele. Es wäre ein Traum, meine eigene Praxis zu haben, aber noch schöner ist es, Unterstützung dafür zu bekommen und nicht immer alles alleine zu machen. "Rekonstruktive Chirurgie. Ich will Brand- und Säureopfern wieder ein so normales Ebenbild geben, wie nur möglich. Eine kaum vorhandene Nase wieder so hinzukriegen, wie die Person es sich wünscht. Ich finde es faszinierend." Mein Kopf schüttelt sich vor Überwältigung, wenn ich wieder daran denke, wie ich mikrochirurgische Eingriffe durchführen muss, um Nervenfasern anzuschließen. Ich stelle mir vor, wie ich die Mimiken des Gesichts wieder herstelle und mein Patient überglücklich ist. Es wäre ein überwältigendes Gefühl. Ich kann deshalb nicht aufhören zu lächeln, selbst als ich wieder zu ihm schaue. Mir wird warm, vor allem meine Wangen. "Es ist schön, dich endlich mal unbeschwert zu sehen, Schneeflocke." Auf seinen Zügen erhellt sich zum ersten Mal ein aufrichtiges Lächeln. Ein so wunderschönes Lächeln. Es verschlägt mir fast den Atem.

"Ich wusste gar nicht, dass du Grübchen hast."

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