Durch den Schnee
Loris kauerte nun schon seit Stunden hinter dem Felsbrocken und beobachtete die Wesen durch sein Fernglas. Sie taten nicht viel, rutschten hin und her und es sah so aus als würden sie Proben nehmen. Die einzige Abwechslung waren die dunklen Wolken, die schnell über das kleine Seitental hinweg rasten und immer wieder Schatten auf die grauen Felsen warfen. Er fragte sich, was er hier überhaupt machte. Es war lausig kalt und sein rechtes Bein war eingeschlafen. Vorsichtig verlagerte er sein Gewicht.
Da passierte es: sein gefühlloses Bein rutschte weg und trat einen Stein los. Er versuchte ihn mit den Händen zu greifen, doch vergeblich. Er rollte über die Kante. Schon als der Stein das erste Mal auf einen der Brocken der Geröllhalde unter ihm auftraf, richteten sich alle sechs Hörantennen der Wesen auf ihn. Das Klackern, wenn er auf anderen Felsbrocken aufkam, wurde vielfach von den Felswänden des kleinen Seitentals zurückgeworfen. Lauter werdende Gurgellaute mischten sich darunter. War das Sprache? Oder waren es Angstschreie? Gebannt starrte er auf die Wesen, die wie er in ihrer Bewegung verharrten.
Zunächst verfolgten die beiden Stabaugen der Wesen den losgetretenen Stein, der sich laut polternd seinen Weg nach unten bahnte. Dann richteten sie die Aufmerksamkeit auf ihn. Dies löste endlich seine Schockstarre. Beim Versuch, den Stein noch aufzuhalten, hatte er seine Deckung verlassen! Schnell krabbelte er auf allen Vieren rückwärts, weg von der Kante. Dorthin, wo sie ihn nicht sehen konnten.
Rückzug! Er wollte nur noch weg. Fieberhaft erwog Loris seine Möglichkeiten. Der schnellste Weg zurück zur Militärbasis war geradeaus über die Kante und über die Geröllhalde ins Tal hinunter. Doch direkt an den Wesen vorbei war undenkbar.
Er könnte auch am Hang auf gleicher Höhe entlanglaufen und dann in ein anderes Seitental absteigen. Über diesen Weg war er bei Morgengrauen hergekommen. Doch zu diesem Zeitpunkt waren diese Wesen auch noch viel weiter weg gewesen und der Hang hatte im Schatten gelegen. Am inzwischen von der Sonne beschienenen Hang wäre er nun deutlich sichtbar. Und viel zu lang in der Waffenreichweite der Wesen. Er wollte lieber nicht wissen, was die im Kampf so drauf hatten.
Also blieb nur, den Hang hinter ihm weiter hinauf zu gehen, dem Gipfel entgegen. Entschlossen setzte er sich den Rucksack auf und machte sich an den Aufstieg. Sein Herz hämmerte nicht nur wegen der Anstrengung durch das Aufwärtsgehen an einem steinigen Berghang gegen seinen Brustkorb. Was die Wesen nun wohl taten? Holten sie ihre Waffen, um ihn zu Fuß zu verfolgen? Wobei er bei ihnen keine Füße hatte erkennen können. Er ging schneller.
Um an dem teilweise schneebedeckten Hang nicht auszurutschen, wagte er es nicht, einen Blick hinter sich zu werfen. Ob sie irgendwo ein Raumschiff hatten, mit dem sie hinter ihm herfliegen würden? Den Blick starr auf den immer steiler werdenden Hang vor sich gerichtet nahm er die Hände zur Hilfe, um schneller vorwärts zu kommen. Ihm brach der Schweiß aus.
Ob sie beamen konnten? Würden sie ihn einfach in ihr Raumschiff im Orbit beamen und mitnehmen? Er schüttelte den Kopf um diese Gedanken zu vertreiben. Früher hatte er auch nie daran geglaubt, dass beamen möglich war. Dieses Früher war erst gestern gewesen, als er sich mit Kumpels aus seiner Einheit eine alte Star Trek Folge angesehen hatte. Als noch keiner ahnen konnte, dass die Erde noch in der gleichen Nacht Besuch erwartete.
Endlich hatte Loris die Kuppe erreicht. Als er auf das kleine Plateau trat, pfiff ihm ein eisiger Wind entgegen und wehte ihm feine Schneekristalle ins Gesicht. Er hatte sich fürs Warten angezogen, nicht fürs Davonlaufen. Ihm war heiß. Doch das änderte sich rasch, als er nun kräftig durchgepustet wurde. Er wischte sich den Schweißfilm von der Stirn und schloss seine Jacke. Er wusste, dass man schnell auskühlen konnte, wenn die Kleidung nass vom Schweiß war. Ums Schwitzen musste er sich hier oben keine Gedanken mehr machen. Hier, oberhalb der Baumgrenze, hielt nichts den Wind auf, der erbarmungslos über das Plateau brauste und jeden auskühlte.
Er hielt auf das Schneefeld zu. Irgendwo in der Ferne wusste er einen Bergsattel, über den man gut in ein Tal hinter dem Bergmassiv absteigen konnte. Vielleicht hatte er dort endlich Empfang und konnte seine Vorgesetzten informieren. Er vermutete, dass diese Wesen alles störten, mit dem man kommunizieren konnte. Keines der Geräte, die er dabei hatte, konnte Daten empfangen oder senden.
Er ließ den Blick wiederholt über die weiße Fläche vor ihm wandern. Angestrengt kniff er seine Augen zusammen. Zum Glück war der Himmel wolkenverhangen, es war so schon grell genug. Niemand sonst war hier unterwegs. Normalerweise wäre er hier alle paar Meter auf Wanderer und Langläufer gestoßen. Doch das Militär hatte das Gebiet noch in der Nacht großflächig abgesperrt. Lawinengefahr. Was Besseres war ihnen wohl auf die Schnelle nicht eingefallen.
Er stolperte über einen unter dem Schnee versteckt liegenden Stein, konnte aber zum Glück verhindern, dass er das Gleichgewicht verlor und im Schnee landete. Er erlaubte sich, kurz stehen zu bleiben und tief durchzuatmen. Obwohl er gut trainiert war, spürte er die Anstrengung. Er war seit 1 Uhr auf den Beinen. Die Kälte, die Anspannung, das alles hatte ihn Kraft gekostet.
Ein gehetzter Blick zurück. Der Wind verwehte langsam die Spur, die er durch den Schnee gezogen hatte. Er war allein. Erleichtert atmete er auf und setzte seinen Weg fort. Ob jeden Moment ein Raumschiff aus dem Tal auftauchen würde? Die Laserkanonen auf ihn gerichtet? Energisch schob er den Gedanken beiseite. "Du spielst zu viele Computerspiele, Loris", sagte er. Der Wind riss die Worte mit sich.
Nach einiger Zeit fing es an, zu schneien. Was als einzelne große Flocken begann, wurde schnell stärker. Immerhin nahm der Wind etwas ab. Die wirbelnden Schneeflocken machten es zunehmend schwer, den Boden vom Himmel zu unterscheiden. Er zog seinen Kompass aus der Hosentasche und kontrollierte die Marschrichtung. Er wollte ihn gerade wieder einstecken, da brach er ein. Bis zur Hüfte steckte er in einer Schneewehe, die sich in einer Senke gebildet haben musste und durch die vom Wind geglättete Oberfläche wie eine feste Oberfläche gewirkt hatte. Er spürte, dass sich Schnee in seine Hosenbeine geschoben hatte und dort langsam schmolz. Er drehte sich um und durchwühlte den Schnee hinter sich. Schließlich fand er soliden Felsen, auf dem er sich abstützen und so wieder nach oben hieven konnte.
Schwer atmend zog er sich die Handschuhe aus und schüttelte so gut es ging den Schnee aus der Hose. Auch aus den Schäften seiner Wanderschuhe kratzte er einiges heraus. Aber ein Teil war bereits geschmolzen und er bekam nicht alles weg. So ein Mist. Und dabei war das so unnötig gewesen. Er hatte Schneeschuhe dabei. Leise vor sich hin fluchend und mit klammen Fingern öffnete er den Rucksack. Mit wenigen Handgriffen hatte er die Schneeschuhe auseinander geklappt und angelegt.
Mühsam stand Loris auf und richtete seine Kleidung. Er fröstelte. Vorsichtig tastete er nach der Kamera, die tatsächlich noch immer in ihrer Halterung an seiner Mütze steckte. Er nahm sie heraus. Sie war aus. Er versuchte, sie einzuschalten. Kurz blinkte ein battery low auf. Er wusste, dass sie noch genug Saft für eine Woche Filmen hatte. Es war offensichtlich zu kalt. Doch das machte ihm ernsthafte Sorgen, denn die Kamera war für Temperaturen von bis zu -30 °C ausgelegt. Er verstaute sie im Rucksack. Hier gab es ohnehin nichts Spannendes mehr zu filmen.
Die Kälte brannte auf seinen Wangen. Er zog den Schal bis über seine Nase hoch und schob seine klammen Hände in die Handschuhe. Ein paar Meter weiter trat er vorsichtig auf die Stelle, unter der er die Senke vermutete. Die Schneeschuhe hielten ihn auf dem Schnee. Ermutigt setzte er seinen Marsch fort. Der geschmolzene Schnee hatte die Hosenbeine an seinen Unterschenkeln durchweicht und diese fühlte sich nun eiskalt an. Schmelzwasser lief in seine Schuhe und durchnässte seine Socken. Er versuchte, nicht daran zu denken.
Da fiel ihm ein, dass er den Kompass nicht in die Hose zurück gesteckt hatte. Er musste ihm bei dem Sturz aus der behandschuhten Hand gerutscht sein. In Panik drehte er sich um, doch beim Anblick der bereits wenige Meter hinter ihm nicht mehr erkennbaren Spuren wurde ihm klar, dass er die Stelle nicht wiederfinden würde. Mit einem unguten Gefühl im Bauch wandte er sich wieder seinem Ziel zu und marschierte weiter. Der Bergsattel war sicher nicht mehr weit. Er würde ihn auch ohne Kompass finden. Er musste.
Schließlich hörte der Schneefall auf und der Himmel klarte auf. Die Sonne war bereits hinter einem der Berggipfel untergegangen. Prüfend ließ Loris den Blick wieder über das Schneefeld wandern. Der Wind nahm nun wieder zu und es wurde spürbar kälter. Er begann, zu zittern. Wie lange wanderte er nun schon über das Plateau? Hätte er nicht schon längst am Bergsattel ankommen sollen? Er hatte das Gefühl für Zeit verloren.
Er ging stur weiter. Linker Fuß vor, rechter Fuß vor. Die Anweisungen des Leutnants waren genauso knapp wie eindeutig gewesen: Nur beobachten. Um jeden Preis unerkannt bleiben. Hatte ja wunderbar funktioniert.
Er ging weiter, stur geradeaus. Einen Schritt nach dem anderen. Er dachte an die Kamera in seinem Rucksack, die alles gefilmt hatte. Wie er den Stein losgetreten hatte. Alle würden erfahren, dass er es verbockt hatte. Dass ihm im entscheidenden Moment der Menschheitsgeschichte dieser Fehler passiert war.
Immer weiter. Schritt für Schritt. Verbissen. Wollte er sich das überhaupt antun? Seine Kameraden würden ihm finstere Blicke zuwerfen. Ihm, der auserwählt worden war - und versagt hatte. Ohne, dass er es merkte, wurden seine Schritte langsamer.
Alles war auf Video festgehalten worden! Wenn er die Militärbasis erreichte würden sie sich das Bildmaterial ansehen. Seine Schande wäre in Windeseile in aller Munde. Seine Kameraden würden ihn mit Verachtung strafen. Mit einer Flasche wollte niemand etwas zu tun haben. Loris, der Loser.
Zögernd setzte er einen Fuß vor den anderen. Die Schneedecke reflektierte schwach das Licht des Mondes. Er und die Millionen Sterne über ihm, waren die einzige Lichtquelle weit und breit. Für einen kurzen Moment dachte er daran, die Kamera einfach wegzuwerfen. Ups, verloren. Doch dann fiel ihm ein, welche Sensationsbilder darauf gespeichert waren. Das Militär würde absolut alles dafür tun, sie zu finden, und wenn es die gesamte Armee ausschwärmen ließe, um jeden Stein in den Alpen einzeln umzudrehen. Er war erledigt.
Ohne Kompass und ohne Ahnung, wo er überhaupt war, ging Loris einfach nur noch mechanisch einen Schritt nach dem anderen vorwärts. Seine Zehen spürte er schon lange nicht mehr. Er bewegte sie dennoch ab und zu in seinen Schuhen, um die Blutzirkulation anzuregen. Aber er hatte mittlerweile wenig Hoffnung, hier noch heil herauszukommen.
Er ging weiter. Schritt links, Schritt rechts. You had one job. Beobachten. Du hast versagt. Ihm war so kalt. So schrecklich kalt. Das Zittern hatte schon vor langer Zeit aufgehört und war der dominierenden Empfindung von Kälte gewichen, die einen Großteil seiner Gedanken beherrschte.
Seit Stunden hörte er nur seine Atmung und den Wind. Ihm fiel auf, dass er stehen geblieben war. Irgendwo auf dem Schneefeld, auf dem Plateau. Ohne Deckung, im eiskalten Wind. Das war keine gute Idee. Aber er analysierte die Situation eher von außen, als neutraler Beobachter.
Er brachte seine Beine nicht dazu, ihn wieder in Gang zu setzen. Und je länger er da stand, desto weniger Wille fand er, sich jemals wieder zu bewegen. Der Sturm toste um ihn herum, er musste sich gegen ihn stemmen um nicht umgeweht zu werden. Er hatte die Orientierung verloren. Ob er noch immer auf den Gebirgssattel zuwanderte? Ob er ihn schon passiert hatte? Oder ob er sogar wieder zurück zu den Wesen ging? Er konnte es nicht sagen.
Du hast versagt. Seine Beine gaben unter ihm nach und der Wind warf ihn zu Boden. Er landete im Schnee. Alle Kälte wich aus seinem Körper, es fühlte sich weich und warm an. Gemütlich. Wie zuhause im Bett, wenn morgens der Wecker klingelte und man nicht aufstehen wollte. Nur einen kurzen Moment die Augen schließen und sich ausruhen. Rasten, um dann mit neuer Energie weiter laufen zu können.
Er lag halb auf der Seite. Ein Schneeschuh hatte sich mit der Spitze in den Schnee gebohrt und zwang sein Bein in eine merkwürdige, angewinkelte Position. Doch er hatte nicht mehr die Kraft, an seiner Position etwas zu verändern. Ganz langsam drehte er seinen Kopf zur Seite. Mit letzter Kraft wandte er seine Augen dem Himmel zu und betrachtete die Sterne.
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