Segen und Fluch zugleich
Luke hat ein kleines Apartment, das zwar nicht besonders luxuriös, dafür aber unheimlich gemütlich eingerichtet ist. Man sieht auf den ersten Blick, dass er schon in vielen Ländern gewesen ist, von denen ich die meiste Zeit wahrscheinlich nur geträumt habe. Staunend streiche ich über einen Holzelefanten mit bunter Bemalung, der auf der Kommode steht.
"Du bist schon ganz schön rumgekommen, oder?", frage ich mit einem Lächeln.
Luke neigt den Kopf, ähnlich wie er es ein paar Stunden zuvor bei meiner Frage getan hat, wo er herkommt. Seine Geste hat etwas charakteristisches; ich habe sie zumindest noch nie bei jemandem gesehen.
"Kann man so sagen. Ich reise viel für meinen Job. Ich arbeite bei einer Art...Agentur. Dafür muss ich öfter in andere Länder verreisen."
Bei dem Wort Agentur weicht er meinem Blick aus, als ob die Bezeichnung irgendwie unpassend wäre. Ich runzle kurz die Stirn, denke aber nicht groß weiter darüber nach. "Als was arbeitest du denn?"
Luke räuspert sich. "Das ist ein bisschen schwer zu erklären. Sagen wir, ich suche nach...besonderen Antiquitäten."
Ich nicke langsam. Das macht Sinn, wenn man seine Wohnung betrachtet. Unbewusst versuche ich seine Gedanken abzuhören, aber wie gewohnt stoße ich auf die Mauer, die mich sofort abprallen lässt. Bedächtig folge ich ihm ins Wohnzimmer, wo eine stilvolle rote Couch auf uns wartet.
"Setz dich", sagt Luke mit einer ausladenden Handbewegung. Und warte. "Schließlich habe ich dir einen Kakao versprochen."
Ich muss lächeln. Anscheinend meint er alles war er sagt auch so, was ihn mir noch symphytischer macht. Während er in den Nebenraum - wahrscheinlich die Küche - verschwindet, wickle ich mich fröstelnd in eine der Decken ein, die auf der Couch liegen. Dafür dass ich mich in einer komplett fremden Wohnung mit einem beinahe fremden Menschen befinde, fühle ich mich erstaunlich wohl. Ich höre ihn in der Küche hantieren und fühle wie meine Augenlider immer schwerer werden. Der geendete Alkoholrausch hat mich müde zurückgelassen und der Tag heute war auch nicht gerade entspannend. Trotzdem zwinge ich mich mit aller Macht, wach zubleiben. Ich muss unbedingt herausfinden, woher Luke mich kennt.
Genau in diesem Moment kommt er auch schon mit zwei Tassen zurück, reicht mir eine davon, und setzt sich neben mich. Danke, murmle ich und lege meine eiskalten Finger erleichtert an die heiße Tasse.
Nachdem ich einen Schluck genommen habe, gucke ich Luke vorsichtig an. "Okay...du hast vorhin gesagt, dass es sich bestätigt hätte. Und es macht den Eindruck, als ob du mich von irgendwoher kennst."
Luke nickt und kratzt sich gedankenverloren am Kinn. "Sascha...ich hoffe du denkst nicht schlecht von mir. Aber man kann sagen, dass ich dich seit einer Weile...beobachte. Es fing an, als ich in einem Park war. Ich habe etwas gelesen und nicht wirklich auf die Menschen um mich herum geachtet. Aber irgendwann waren da Gedanken in meinem Kopf, die ich einfach nicht ausblenden konnte. Es ist schwer zu beschreiben, vielleicht kann man es mit einer Art Echo vergleichen. Deine Gedanken waren viel klarer als alle anderen, und ich konnte die Gedanken der anderen Menschen in deinem Kopf widerhallen hören. Zuerst konnte ich es nicht wirklich glauben, aber als ich dich das zweite Mal gesehen hatte, wusste ich dass die Chance besteht dass du die selbe Fähigkeit besitzt wie ich."
Verwirrt schüttle ich den Kopf. "Wie kann es sein, dass du mir nie aufgefallen bist?"
Er grinst. "Ich fasse das jetzt mal als Kompliment auf. Aber wahrscheinlich lag es daran, dass ich nie in deiner unmittelbaren Nähe war. Du warst immer ein ganzes Stück von mir entfernt. Heute ist das erste Mal, dass ich dich von Nahem gesehen habe."
Wir schauen uns einen Moment an und lächeln. Das warme Gefühl breitet sich wieder in mir aus. Vorhin hat mir die Situation richtig Angst gemacht, aber das was er nun sagt klingt kaum bedrohlich. "Wer weiß von deiner Fähigkeit? Hast du es jemandem erzählt? Und gibt es noch mehr Menschen wie uns?", sprudeln meine Fragen aus mir heraus.
"Wow. Ich versuche mal, deine Fragen der Reihe nach zu beantworten", sagt er mit seiner betont lockeren Art. Mein Vater weiß davon, sonst niemand. Oder es hat mir niemand geglaubt, wenn ich versucht habe darüber zu reden. Und du bist die erste Person, der ich je begegnet bin, die die selbe Gabe hat."
Das Wort Gabe sticht aus seinen Worten hervor. Ich vermeide es eigentlich meistens, um das Gedankenlesen zu beschreiben.
"Ich finde, es ist eher ein Fluch", flüstere ich. Luke berührt mich leicht an der Schulter. Glaub mir, das dachte ich auch. Ich wollte nichts mehr, als normal sein. Aber es ist alles eine Frage der Perspektive. Uns wurde etwas gegeben, und wir müssen lernen es zu kontrollieren. Ich werde dir alles Nötige beibringen. Versprochen.
Hoffnung breitet sich in mir aus. Die Hoffnung darauf, vielleicht doch irgendwann ein normales Leben führen zu können. Entschlossen nicke ich und rücke ein Stück näher an ihn heran. "Okay. Was ist das erste, dass ich üben sollte?"
Er hebt eine Augenbraue. "Meine Gedanken lesen natürlich."
Ich beiße mir auf die Unterlippe. Es ist schließlich nicht so, als ob ich das noch nicht versucht hätte. "Wie machst du das nur?", seufze ich. "Ich kann meine Gedanken vor Niemandem abschotten."
"Das liegt wahrscheinlich daran, dass nie jemand deine Gedanken lesen konnte. Ich habe es geübt um meine Fähigkeiten generell besser kontrollieren zu können. Wenn du deine Gedanken kontrollieren kannst, kannst du es auch bei Gedanken von anderen Menschen. Sie ausblenden zum Beispiel. Du wirst mit der Zeit immer besser."
Konzentriert sehe ich Luke an und versuche es erneut. Irgendwann schließe ich die Augen, und es klappt schon ein bisschen besser. Wieder stoße ich auf die undurchdringbare Wand, die seine Gedanken umgibt wie ein Schutzwall. Ich suche nach Lücken in der Wand, Schlupflöcher durch die ich möglicherweise dringen könnte.
Plötzlich durchzuckt für den Bruchteil einer Sekunde ein Bild meinen Kopf. Es ist das Bild von einer jüngeren Version von Luke, wie er konzentriert die Augen schließt. Bevor ich mich auf seine nähere Umgebung konzentrieren kann, ist alles jedoch schon wieder verschwunden.
Triumphierend öffne ich die Augen und richte mich auf. "Ich denke, ich habe dich gesehen, als du noch jünger warst."
Luke nickt. "Gar nicht mal schlecht."
Ich merke auf einmal wie der Tag mich einholt. All das Drama, all die Aufregung. Es fällt mir schwer, mein Gähnen zu unterdrücken.
Luke steht auf. "War ein langer Tag. Du solltest jetzt schlafen." Er holt eine flauschige Decke aus dem Nebenraum und deckt mich damit zu.
"Schlaf gut", murmle ich und spüre kurz darauf auch schon, wie ich wegdämmere.
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