Nichts bleibt so, wie es war

Den Rest der Woche verhält Ben sich überaus merkwürdig. Ich versuche alles, um ihm möglichst nicht auf die Nerven zu fallen und herauszufinden, was in seinem Kopf vor sich geht, aber er scheint trotzdem das Gefühl zu haben, dass ich konstant versuche, ihn auszuspionieren. Irgendwann scheint es sogar, als ob er versucht, mir aus dem Weg zu gehen. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen. Ich spüre, wie innerlich aufgewühlt er ist, aber er will nicht, dass es jemand weiß. Auch ich nicht.

Endlich ist das Wochenende da. Ich rede mir ein, dass Ben sich bis Montag schon wieder beruhigt haben wird. Vielleicht braucht er ein bisschen Freiraum. Trotzdem schreibe ich ihm eine Nachricht, einfach um zu fragen wie es ihm geht. Es kommt keine Antwort. Gedankenverloren starre ich auf mein Handy-Display, während das mulmige Gefühl in meinem Bauch immer stärker wird. Vielleicht antwortet er ja später noch. Aber irgendwie weiß ich, dass er das nicht wird. Irgendetwas läuft gewaltig schief.

Dieser Eindruck bestätigt sich, als ich am Montag das Schulhaus betrete und zu meinem Spind laufe. Von weitem sehe ich Ben, er lehnt mit dem Rücken an seinem Spind und lacht über etwas. Er ist von Bellas Clique umringt. Bellas blonde Locken wippen hin und her, als sie gestikuliert, während sie ihre Geschichte erzählt. Ich verlangsame meine Schritte, unsicher wie ich mich verhalten soll.

"Klar hab ich das mitbekommen. War schwer zu übersehen", sagt Ben gerade.

Ich räuspere mich und er dreht sich zu mir um. Er lächelt, aber es ist nicht das typische Ben-Lächeln, sondern gezwungen. "Hi, Sascha."

Gerade als ich dachte, sie kommt nicht mehr. Aber da ist es ja auch schon, sein Schoßhündchen.

Ich kann mich gerade noch zusammenreißen, keinen giftigen Blick in Bellas Richtung zu schießen. Ihr fieses Mundwerk ist nichts gegen ihre fiesen Gedanken.

Ich nicke ihnen zu. "Hey." Vorsichtig werfe ich Ben einen Blick zu, aber er hat sich schon wieder den anderen zugewandt. Seine Gedanken sind zu verwaschen, um daraus schlau zu werden.

"Also, hilfst du mir dann bei dem Aufsatz?", fragt Bella in zuckersüßem Ton und berührt dabei Bens Arm.

Ich verdrehe innerlich die Augen.

"Wie könnte ich da Nein sagen", antwortet Ben mit einem charmanten Lächeln und ich starre ihn verblüfft an. Flirtet er etwa gerade mit Bella?

"Geschichte fängt gleich an. Nicht, dass wir zu spät kommen", meldet sich Lisa mit ihrer piepsigen Stimme. Sie ist von eher kleiner Statur, braunhaarig, und hat einen Pony, der ihre Augenbrauen verdeckt. Sie ist Teil von Bellas Samariter-Projekt, Leute in die Gruppe aufzunehmen, die ohne sie komplette Loser wären, und sie dann die ganze Zeit rumzukommandieren.

"Oh nein, das wäre ja schrecklich, Lisi!", sagt sie übertrieben, als ob sie mit einem Kleinkind reden würde, und alle lachen. Lisa sieht aus, als ob sie jeden Moment im Boden versinken wird.

Ich werfe Ben einen Blick zu und ziehe eine Augenbraue hoch. Aber er zuckt nur mit den Schultern und guckt schnell wieder weg. Mit den anderen zusammen machen wir uns auf den Weg ins Klassenzimmer, und ich bin froh, dass ich wenigstens während des Unterrichts nichts mehr mit ihnen zu tun haben muss. Wir lassen uns ein Stück zurückfallen.

"Seit wann hängst du mit den Dramaqueens rum?", frage ich Ben. Ich kann den anklagenden Ton nicht aus meiner Stimme fernhalten.

"Sie scheinen eigentlich gar nicht so übel zu sein, Sasch", murmelt Ben.

Fassungslos bleibe ich stehen und werfe die Hände in die Luft. "Hast du gerade nicht das selbe mitbekommen wie ich? Warum bist du so komisch zu mir? Rede doch einfach mal mit mir!"

Bens Augen verengen sich. "Vielleicht will ich einfach noch mit ein paar anderen Leuten Kontakt haben, okay?"

Wir müssen ja nicht Tag und Nacht zusammen rumhängen.

Ich schlucke schwer und versuche herauszufinden, ob er das gerade extra gedacht hat. Er schaut mir tief in die Augen und nickt dann wissentlich. "Das hab ich mir gedacht. Du hängst an jedem meiner Gedanken."

Ich versuche verzweifelt, die Tränen fernzuhalten. Das ist nicht wahr", flüstere ich. "Und nicht fair. Du weißt genau, dass ich es nicht kontrollieren kann."

Sein Blick wird weicher, und ich spüre, dass er von einer Hülle schlechten Gewissens umgeben ist. "Bei aller Liebe, Sascha, ich brauche einfach ein bisschen Abstand von dem allen, okay? Dafür, dass du viel mehr über Menschen herausfinden kannst als sonst jemand, bist du manchmal ganz schön voreingenommen."

Ich will ihm antworten dass ich nicht voreingenommen bin, sondern dass ich gerade weil ich so viel weiß gut entscheiden kann, ob es jemand wert ist oder nicht. Aber er hat sich schon umgedreht und ist weitergegangen. Ich hoffe inständig, dass er sich wenigstens trotzdem wieder neben mich setzt. Aber er tut es nicht. Er setzt sich neben Bella.

Als es zur Pause läutet, versuche ich möglichst unauffällig zu den Toiletten zu gehen, aber kaum als ich in einer der Kabinen bin, schließe ich mich ein und lasse den Tränen freien Lauf. Ich habe das Gefühl, Ben für immer verloren zu haben. Das, wovor ich immer solche Angst hatte, ist heute endgültig wahr geworden. Vielleicht war es schon immer so vorherbestimmt. Ich, alleine, heulend in einer der Klokabinen und Ben bei Bella und ihrem Gefolge.

Nachdem mein Anflug von Selbstmitleid vorbei ist, kehrt meine Entschlossenheit zurück. Nicht die Drama-Queens sind der Grund, warum ich meinen besten Freund verloren habe. Der Grund ist das Geheimnis, das er verbirgt. Wenn ich es herausfinde, bekomme ich Ben vielleicht zurück.

Zuhause wird mein Tag auch nicht besser. Meine Mutter kommt noch später als normalerweise nach Hause und beim Thema Abspülen kriegen wir uns endgültig in die Haare. Nachdem das Geschrei vorbei ist, packe ich wutentbrannt ein paar Sachen in meine Tasche und stürme aus dem Haus.

"Was denkst du eigentlich, wo du hingehst? Komm sofort wieder zurück! Sascha, ich..."

Sie ist schon außer Hörweite, und ich ignoriere sie einfach und mache nicht Halt, bis ich unten im Treppenhaus angelangt bin. Erst dann wird mir bewusst, dass ich wirklich nirgendwo hinkann. Meine einzige Option hat mir heute sozusagen die Freundschaft gekündigt. Also wandere ich einfach durch die Straßen und konzentriere mich auf die Gedanken der Menschen um mich herum. Wenn sich der Tag dem Ende zuneigt, werden die meisten Leute traurig und denken über Sachen nach, die sie bedrücken oder die tagsüber nicht gut gelaufen sind. Vielleicht ist das furchtbar, aber ich fühle mich besser, als ich höre, dass manche Leute einen noch beschisseneren Tag als ich hatten.

Ein Mann, der an mir vorbeiläuft, hat gerade eine Krebsdiagnose bekommen. Ich schließe für einen kurzen Moment die Augen und fühle mich grauenhaft. Habe ich überhaupt einen Grund, so traurig zu sein? Wenigstens bin ich gesund. Aber Probleme bleiben nun mal Probleme, egal wie schwerwiegend sie sind.

Irgendwann laufe ich an einem Gebäude vorbei, das mir aus dem Augenwinkel irgendwie auffällt. Ich bleibe stehen und werfe einen Blick hinein. Es ist eine Bar, in der ich einmal mit Ben war. Wir waren erst auf einem Konzert und danach so aufgedreht, dass wir beschlossen haben, noch irgendwo anders hinzugehen. Keine Ahnung warum, aber meine Füße tragen mich beinahe automatisch hinein. Was ist ein besserer Ort für deprimierte Gedanken als eine Bar?

Das Innere der Bar ist gemütlich, alles ist im kubanischen Stil gehalten und hinter dem Tresen befinden sich alle möglichen Alkoholsorten. Ich setzte mich auf einen der Barhocker und bestelle nach einigem Hin- und Herüberlegen einen Touchdown -wofür ich natürlich meinen Ausweis vorzeigen muss- mit extra viel Wodka. Wenn schon, denn schon. Der Barkeeper wirft mir seltsame Blicke zu, während er meinen Drink mixt. Wahrscheinlich ist es einfach ein bisschen ungewöhnlich für ein Mädchen in meinem Alter, um die späte Uhrzeit und unter der Woche alleine in eine Bar zu gehen. Schließlich haben mich ja auch nur die ungewöhnlichen Umstände hier hingeführt. Der Barkeeper schiebt mir mein Getränk zu.

"Willst du noch Erdnüsse?" Er lächelt freundlich.

Ich zucke mit den Schultern. "Klar."

Ich nehme einen Schluck von dem Touchdown und verziehe das Gesicht. Vielleicht war das mit dem Extra-Wodka keine so gute Idee. Eine Weile lang sitze ich einfach nur da, nippe an meinem Cocktail und lausche den Stimmen in meinem Kopf. Es sind nur noch drei andere Leute in der Bar, ein Pärchen und ein älterer Mann, der anscheinend gerade von seiner Frau verlassen wurde. Ich konzentriere mich mehr auf ihn, weil es für mich einfacher ist, die Gedanken von jemandem zu lesen, wenn er nicht noch zusätzlich ein Gespräch führt. Die Wirkung des Alkohols fängt langsam an einzusetzen, und ich fühle mich schon viel besser.

Die Tür öffnet und schließt sich, anscheinend hat noch jemand die Bar betreten. Ich drehe mich aber nicht um, um nachzusehen. Das Glas vor mir ist leer. Plötzlich schiebt sich jemand auf den Hocker neben mir.

"Könnte ich zwei Havanna bekommen?" Die Stimme des Mannes ist klar, selbstbewusst und er spricht mit einem hinreißenden Akzent.

Verblüfft drehe ich meinen Kopf zur Seite, und blicke in die schönsten grün-blau gefleckten Augen, die ich je gesehen habe. In seine Augen.

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