Der ganz normale Wahnsinn
Am nächsten Tag schleppe ich mich ziemlich müde in die Schule. Als ich in Richtung der Spinde gehe, entdecke ich ein vertrautes Gesicht, das mir entgegenlächelt. Ben. Ich grinse und winke zurück. Ich bin froh, nicht noch einen Tag ohne meinen besten Freund verbringen zu müssen. Während ich auf ihn zulaufe, betrachte ich ihn.
Er hat nicht mehr viel mit dem blassen Jungen gemeinsam, den ich vor so vielen Jahren kennengelernt habe. Mittlerweile ist er um einiges größer als ich. Er hat dunkelblonde Haare, die immer ein wenig zerzaust aussehen, blaue Augen die immer zu strahlen scheinen, und ein markantes Kinn. Es lässt sich kaum bestreiten, wie attraktiv er ist. Aber irgendwie sehe ich ihn nicht auf diese Weise, vielleicht weil ich ihn schon so lange kenne. Ich glaube auch nicht, dass er mich so sieht.
Ich erreiche Ben und wir umarmen uns zur Begrüßung.
"Geht's dir wieder besser?"
"Jap. Sieht so aus, als ob du mich ab jetzt wieder an der Backe hast."
"Hmm. Ich glaube, damit kann ich leben."
"Hab ich was wichtiges verpasst?"
"Nicht wirklich. Höchstens Geschichte, aber ich kann dir später meine Notizen geben wenn du willst."
Ben grinst. "Was würde ich nur ohne dich machen."
Er legt mir einen Arm um die Schultern, als wir die Schulgänge entlang zu Bio schlendern. Auf dem Weg kommen wir an Bella und Nadja vorbei, die tuschelnd die Köpfe zusammenstecken und uns missbilligende Blicke zuwerfen. Naja, wahrscheinlich gelten die Blicke eher mir. Ich versuche, ihre Gedanken zu durchsuchen, aber auf dem Gang sind zu viele Schüler, so dass ich keine bestimmten Gedanken ausfindig machen kann.
Die Sache mit Ben ist, er könnte eigentlich richtig beliebt sein, wenn er wollte. Anders als ich wird er nicht als Freak abgestempelt, sie finden es wahrscheinlich nur ein bisschen komisch, dass er die ganze Zeit mit mir rumhängt. Er könnte mit den beliebtesten Mädchen der Schule zusammen sein, wenn er wollte. Aber irgendwie scheint ihn das nicht besonders zu interessieren. Ich bin natürlich froh darüber- ich finde das keines von diesen dauer-kichernden Weibsbildern auch nur annähernd gut genug für ihn ist. Wahrscheinlich wartet er einfach nur, bis er jemanden findet, der wirklich zu ihm passt.
Bio zieht sich quälend langsam dahin. Genau als wir dabei sind etwas aufzuschreiben, geht die Patrone meines Kugelschreibers leer. Ich schiele zu Ben hinüber, aber er scheint total in Gedanken verloren zu sein. Ich stupse ihn mit dem Ellbogen an.
"Hast du einen Stift für mich?"
Er reagiert überhaupt nicht, so dass ich ein bisschen lauter flüstern muss. Er schreckt auf und guckt mich für einen Moment verwirrt an, bis er mir einen Stift leiht. Ich runzle die Stirn. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass er etwas vor mir verbirgt. Er versucht gerade in diesem Moment, gezielt an etwas anderes zu denken als an das, woran er eigentlich denken will. Und das wegen mir.
Ich musste Ben vor einigen Jahren schwören, dass ich niemals versuchen würde, absichtlich seine Gedanken zu lesen. Meine Gabe ist schwer zu kontrollieren. Eigentlich ist sie mehr wie ein Reflex, ähnlich dem Blinzeln. Trotzdem versuche ich, mein Versprechen so gut wie möglich zu halten. Das ist auch der Grund, warum ich es nicht verhindern kann, dass plötzlich ein Bild in meinem Kopf aufblitzt. Ich sehe es nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein junger Mann, dunkle Haare, hellgrüne Augen, Lachfalten. Ein schelmischer Ausdruck in den Augen. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, was mich wundert. Warum will er nicht, dass ich weiß, an wen er denkt? Als es zur Pause läutet, beschließe ich, ihn auf seine Zerstreutheit anzusprechen.
"Hey, ist alles okay bei dir? Du wirkst ein bisschen...abwesend."
"Sascha, du bist ungefähr 60% des Tages abwesend, gerade du solltest wissen, dass das nichts Ungewöhnliches ist."
Verschreckt gucke ich ihn an und dann schnell wieder weg. Seine Worte schmerzen. Sowas ist ziemlich untypisch für Ben, normalerweise würde er nie etwas in der Art sagen. Ich muss also wirklich einen wunden Punkt getroffen haben. Mir ist klar, dass es nicht einfach ist, mit mir befreundet zu sein. Durch meine Fähigkeit weiß ich oft über Dinge Bescheid, die ich gar nicht wissen will, es gibt kaum Luft zum Atmen, kaum Privatsphäre.
Wir gehen runter in die Kantine um uns etwas zu essen zu holen, bevor wir uns an unseren Stammplatz setzen. Ich beiße in mein Sandwich und versuche das Thema auf etwas anderes zu lenken.
"Hast du Lust, heute Nachmittag zur Shopping-Mall zu fahren? Wir waren schon lange nicht mehr da. Wir könnten auch diesen Film ansehen, von dem du erzählt hast."
Ben stochert in seinem Essen. "Sorry, Sasch. Ich würde echt gerne, aber heute muss ich Emily bei Bio helfen. Sie hat morgen einen Test."
Emily ist die neun-jährige Tochter von Bens Nachbarn. Er gibt ihr öfters Nachhilfe, wofür er mehr als gut bezahlt wird. Ich wünschte ich hätte reiche Nachbarn mit einer kleinen Tochter.
"Da wird die gute Emily ja sehr viel lernen, wo du heute in Bio soo gut aufgepasst hast!"
Er grinst und bewirft mich mit einem Stück Brokkoli. Bäh.
Nach dem Unterricht scheint Ben es ziemlich eilig zu haben, er überschlägt sich beinahe dabei, seine Sachen einzupacken. Ich ziehe eine Augenbraue hoch. "Du hast es ja sehr eilig, zu Emily zu kommen. Ist sie nicht ein bisschen zu jung für dich?"
Ben hebt beide Hände in die Luft. "Ertappt. Aber wie sagt man so schön: Wahre Liebe kennt kein Alter." In seine Augen tritt ein Ausdruck, den ich nicht deuten kann.
"Viel Spaß dabei, das ihren Eltern zu erklären."
Wir lachen beide beherzt, und es fühlt sich endlich wieder alles normal an. Trotzdem weiß ich natürlich, dass es etwas gibt, das er mir nicht erzählt. Aber das hätte ich bestimmt auch ohne Gedanken-Radar rausgefunden. Ganz einfach mit dem siebten Sinn einer besten Freundin.
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