Aussprache
Im Schutz der Bäume schleiche ich mich an Ben und seinem Freund vorbei. Es ist bestimmt am besten wenn ich als erstes bei unserem Treffpunkt am Spind bin. Noch bin ich mir nicht sicher was ich sagen soll, aber ich weiß ganz genau dass ich heute alles versuchen muss, um die Sache wieder in Ordnung zu bringen. Ein paar Minuten später stehe ich vor meinem Spind und entdecke voller Erleichterung, dass ich mein Englisch Buch dagelassen habe. Wenigstens das eine muss ich mir nicht ausleihen. Nervös trete ich von einem Fuß auf den anderen und starre auf das Display von meinem Handy. Zwei Minuten später als vereinbart taucht Ben auf.
Vorsichtig geht er auf mich zu und lächelt leicht, bevor er vor mir stehen bleibt. Wir sehen uns einen langen Moment lang an. Es ist merkwürdig, ich habe plötzlich das Gefühl, dass wir beide andere Menschen sind als das letzte Mal, das wir uns gesehen haben. Wir beide haben neue Dinge über uns selbst herausgefunden.
"Sascha, ich hab mir echt Sorgen gemacht," fängt Ben an. "Wo zur Hölle warst du die ganze Nacht?" In einer abwehrenden Geste hebt er die Hände. "Es ist nicht so, als ob ich ein Anrecht darauf hätte, es zu wissen. Ich hab in letzter Zeit als Freund total versagt. Aber ich..."
Bevor er seinen Satz zu Ende bringen kann, überbrücke ich die Distanz und werfe mich in seine Arme. All die Aufregung und neuen Eindrücke der letzten Stunden holen mich ein und meine Augen füllen sich mit Tränen.
"Ich weiß es," murmle ich. "Ich hab dich vorhin im Park gesehen. Es tut mir so leid dass ich nicht für dich da war."
Bens Schultern versteifen sich und er macht sich ein kleines Stück von mir los. Mit großen Augen sieht er mich an. "Du hast...was?"
Ich schüttele den Kopf und senke meine Stimme. "Wie konntest du nur glauben, dass ich ein Problem damit habe?" Tausende von Gedanken wirbeln durch meinen Kopf, nicht nur meine sondern auch die von Ben und den Menschen um uns herum.
Irgendwie rechne ich damit, dass er wütend ist. Doch stattdessen drückt er mich noch näher an sich und ich merke, wie die Anspannung endlich aus seinem Körper weicht. Er seufzt. "Ich bin so bescheuert. Es war einfach so, dass ich nicht wusste, wie ich damit umgehen soll. Und ich hab mich immer in die Ecke gedrängt gefühlt, wegen...naja, der Gedankensache."
Wir lösen uns voneinander und Ben sieht mir tief in die Augen. "Du bist meine beste Freundin, Sascha. Ich brauche dich jetzt mehr denn je. Und ich verspreche dir, dass ich unsere Freundschaft nie mehr in Frage stellen werde. Ich will immer wissen, was in deinem Leben vor sich geht und natürlich ein Teil deines Lebens sein."
Ich kann mir ein gerührtes Lächeln nicht verkneifen. "Geht mir genauso. Ich glaube, wir haben einiges zu besprechen."
Und das tun wir dann auch. Wenn auch erst nach Bio. Ben setzt sich wieder neben mich, was ihm böse/verwirrte Blicke von den anderen einbringt. Im Unterricht zu sitzen, an die Tafel zu starren und Ben neben mir zu wissen fühlt sich so vertraut und normal an, dass ich jeden Augenblick davon in vollen Zügen genieße. Ich kann fast so tun als ob es die letzte Nacht nicht gegeben hätte. Auch wenn ich mir nicht sicher bin ob ich will dass es sie nie gegeben hat. Es ist einfach alles ein wenig überfordernd und furchteinflößend, dass sich plötzlich ganz neue Welten eröffnet haben. Immer wieder sehe ich funkelnde grün-blaue Augen vor mir, die mich nicht mehr loslassen wollen.
Als ich mit Ben in der Kantine sitze gibt es kein Halten mehr und alles sprudelt nur so aus mir heraus. Ich erzähle ihm alles, von Anfang bis Ende.
Statt auf meine Begeisterung einzugehen, runzelt er irritiert die Stirn. "Sascha...Nicht, dass es nicht super ist dass es jemanden zu geben scheint der so ist wie du, aber findest du das nicht ein bisschen merkwürdig? Dass er dich verfolgt hat und alles. Wie ein...Stalker. Er schien schon vorab eine ganze Menge über dich zu wissen."
Ich schlucke verärgert. "Wie hättest du es denn gemacht? Er konnte ja schließlich schlecht einfach zu mir hingehen und offen darüber reden. Ich hätte ihm niemals geglaubt. Der einzige Weg war, es mir zu beweisen. Er hat genau das Richtige getan." Beinahe überrascht bemerke ich, wie defensiv meine Stimme klingt.
Ben hebt eine Augenbraue. "Ohhhje. Um dich ist es schon geschehen, oder? Sieht er gut aus?"
Ich muss grinsen. "Darauf antworte ich nicht. Nicht, dass du ihn mir noch ausspannst."
Wegen seinem verdutzten Gesichtsausdruck habe ich einen Moment die Befürchtung, zu weit gegangen zu sein, aber ein paar Sekunden später bricht er in Gelächter aus, woraufhin ich schnell einstimmen muss.
Wir reden noch eine ganze Weile über Bens Freund und am Ende des Schultags trennen sich unsere Wege, weil Ben sich noch mit ihm treffen will. Er rät mir, vorsichtig zu sein und ist dann mit ein paar schnellen Schritten auch schon verschwunden. Da hat es jemand definitiv sehr eilig.
Gedankenverloren verlasse ich das Schulhaus und stoße dabei fast mit einem jungen Mann zusammen, der draußen steht. Ich murmle schnell eine Entschuldigung und will schon weitergehen, als mir plötzlich bewusst wird vor wem ich stehe. "Luke?? Was machst du hier?"
Er lächelt sein umwerfendes Lächeln. "Freut mich auch sehr, dich wiederzusehen."
Als ich ihn nur weiterhin geschockt anstarre, räuspert er sich. "Ich war gerade in der Gegend und wegen heute Morgen wusste ich ja, dass du hier aufs Gymnasium gehst. Hör zu, ich wollte dich etwas fragen."
Gebannt starre ich ihn an und frage mich, ob ich es nicht eher beunruhigend finden sollte, dass er sogar hier an meiner Schule aufkreuzt. Aber es stört mich kein bisschen.
Das erleichtert mich jetzt ein bisschen.
Beschämt kneife ich die Augen zusammen, was er mit einem Lachen quittiert. "Das bringt mich jetzt endlich zu der Frage. Hättest du gerne, dass ich dich unterrichte? Wie du deine Gedanken kontrollieren und filtern kannst. Ich denke, das würde dir das Leben ganz schön erleichtern. Du könntest nach der Schule immer für ein paar Stunden mit zu mir kommen. Ich arbeite viel vom Laptop aus, von daher bin ich ziemlich flexibel."
Bevor die Nervosität noch ganz mit mir durchgeht und ich etwas dummes machen oder sagen kann, nicke ich einfach. "Ja, ich meine...das klingt gut."
Er strahlt mich an. "Okay. Dann geh heute Abend mit mir Essen und wir besprechen alles." Mühelos schnappt er sich mein Handy und beginnt, seine Nummer einzuspeichern.
Ich hebe lachend die Hände in die Luft. "Wow. Habe ich überhaupt eine Wahl?"
Betont lässig gibt er mir das Handy zurück. "Du hast immer eine Wahl." Komischerweise klingen die Worte viel zu ernst für seine Fröhlichkeit noch ein paar Sekunden zuvor. Ich frage mich, ob ich ihn irgendwie gekränkt habe, aber das passt so gar nicht zu seiner lockeren, unbeschwerten Art. Ich habe das Gefühl, dass es mit etwas anderem zu tun hat.
Lass mich deine Wahl sein, Sascha.
Sein Gedanke löst bei mir eine kribbelnde Gänsehaut aus und ich erschaudere. Mit einem letzten Blick dreht er sich um und läuft die Stufen herunter. Unten biegt er nach links ab, was ein bisschen ungewöhnlich ist. Die meisten Besucher verlassen das Schulgelände immer über den Innenhof. Links führt ein kürzerer Weg an der Sporthalle vorbei, aber dafür muss man erst wieder ins Gebäude hinein und dann hinten durch das Tor raus. Diesen Weg benutzen Schüler, die sich hier gut auskennen. Oder eben Leute, die schon oft hier waren.
Bens Worte fallen mir wieder ein. "Er schien schon vorab eine ganze Menge über dich zu wissen."
Verärgert schiebe ich sie von mir. Wenn eins klar ist, dann das Luke nicht so ist wie andere Menschen. Er hat viel mehr Informationen zur Verfügung, hat viel mehr Möglichkeiten als normal. Und außerdem scheint er nicht nur Interesse an unserer gemeinsamen Fähigkeit zu haben, sondern auch an mir. Das ganze ist eigentlich ein unheimlicher Glücksfall.
Zufrieden schlendere ich den Weg entlang und stelle mir eine der banalsten Fragen der Welt, und zwar was ich heute Abend anziehen soll, während der Junge vor mir überlegt, ob er es heute auf Level 91 in World of Warcraft schaffen kann, wenn er noch ein paar größere Quests annimmt. Das ist eindeutig ein guter Tag.
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