Auch Freaks finden Freunde
Ich mache mich auf den Heimweg, zum Glück habe ich es nicht besonders weit. Das beste ist, dass ich nicht mit dem Bus oder mit der U-Bahn fahren muss, um nach Hause zu kommen. Mit so vielen Menschen auf engstem Raum eingepfercht zu sein ist auch schon unangenehm genug ohne tausende von fremden, intimen Gedanken durch den eigenen Kopf schwirren zu haben. Erleichtert biege ich in meine Straße ein und laufe die letzen Schritte zu dem Mehrfamilienhaus, in dem ich mit meiner Mutter wohne, öffne die Tür, sprinte die Stufen hinauf und hole den Schlüssel heraus. Wir wohnen im ersten Stock. Als ich eintrete, werde ich von Totenstille begrüßt. Natürlich, meine Mutter wird erst gegen sieben da sein. Sie arbeitet als Rechtsanwaltsfachangestellte in einer Kanzlei, und verbringt eigentlich den größten Teil ihrer Zeit dort. Nicht dass ich ihr Vorwürfe machen würde, schließlich muss sie genug Geld für uns beide verdienen.
Nachdem ich meine Schuhe und Jacke ausgezogen und meine Tasche in die Ecke gepfeffert habe, werfe ich mich auf mein Bett. Home sweet home. Ich greife nach meinem Handy und schreibe Ben.
Hey, Langschläfer. Geht's dir schon besser?
Wenige Sekunden später kommt schon eine Antwort.
Jap, danke der Nachfrage. Morgen werd ich dir wieder auf die Nerven fallen ;)
Ich grinse, zum einen weil ich froh bin, nicht noch einen Tag ohne meinen besten Freund durchstehen zu müssen, und zum anderen wegen den bescheuerten Zwinkersmileys, die er die ganze Zeit macht. Erschöpft lege ich mein Handy beiseite, schließe die Augen und reibe mir die Schläfen. Das ist noch so eine Sache mit dem Gedanken-Ding. Ich bin schon von wenigen Stunden die ich mit mehreren Menschen in einem Raum verbringen muss, so erschöpft wie nach einer Bergwanderung. Wenn auch nur mental erschöpft, natürlich. Aber ich sollte mich nicht die ganze Zeit beklagen. Es gibt auch Vorteile. Die Tests und Klausuren zum Beispiel. Es ist ziemlich cool, von anderen "abzuschreiben" ohne jemals erwischt zu werden. Vor allem wenn man sich den Klassenbesten aussuchen kann, auch wenn er ganz weit von einem entfernt sitzt. Ich habe eine neue Nachricht von Ben.
Sind deine Kopfschmerzen wieder schlimmer geworden?
Ich kann mir ein gerührtes Lächeln nicht verkneifen. Er ist der einzige, der in alles eingeweiht ist. Der mich kennt. Nicht Freak-Sascha, sondern einfach nur Sascha, die eben zufällig eine besondere Fähigkeit besitzt. Meine Gedanken wandern zurück zu dem Tag, an dem Ben und ich offiziell beste Freunde geworden sind.
Wir sind in der ersten Klasse, also so an die sieben Jahre alt. Es ist der erste Schultag. Schon damals war es nicht besonders leicht, Freunde zu finden. Kinder spüren, wenn du irgendwie anders bist. Sie riechen es förmlich.
Jeder bekommt einen kleinen Kasten, in dem sich Sand befindet. Dann sollen wir Zweier-Teams bilden. Unsere Aufgabe ist es, jeweils den Namen des Partners hineinzuschreiben. Gegenüber von mir sitzt ein Mädchen mit glatten, blonden Haaren und einem Stirnreif. Sie ist schon ziemlich früh weggezogen, nach der dritten Klasse glaube ich, deshalb erinnere ich mich nicht mehr besonders gut an sie. Ich weiß noch, wie intensiv ihre Gedanken in meinem Kopf widerhallen, weil sie mir so dicht gegenübersitzt.
Ich würde viel lieber auf Papier schreiben, wie Erwachsene. Niemand schreibt auf Sand. Sand ist doof.
Ihr Name ist deshalb natürlich eines der ersten Dinge, die ich mitbekomme. Ich schreibe mit großen Schnörkeln Leonie in den Sand und gebe mir extra viel Mühe. Das Mädchen hebt den Kopf und runzelt die Stirn. "Kennen wir uns?"
Ich schüttle den Kopf. Mir ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollkommen bewusst, dass andere negativ auf mein Zusatzwissen reagieren könnten.
"Aber du kennst meinen Namen!" Leonie rümpft entrüstet die Nase und wirft ihre blonden Haare zurück.
Die Lehrerin dreht ihre Runde und kommt an unserem Tisch vorbei. "Ich will eine andere Partnerin. Die da ist komisch!", nörgelt Miss Stirnreif und deutet anklagend auf mich. Mir ist zum Heulen zumute und ich starre die Lehrerin mit großen Augen an.
"Das ist aber nicht sehr freundlich...Leonie, richtig?" Die Lehrerin liest, was ich in den Sand geschrieben habe. "Wo liegt das Problem?"
Aber Leonie hört ihr schon gar nicht mehr richtig zu. Sie klettert von ihrem Stuhl und mischt sich unter die anderen Kinder. In diesem Moment wird die Lehrerin von einem Mädchen mit schwarzen Zöpfen links von mir gerufen. Ich bleibe sitzen und starre auf das Kästchen mit Sand vor mir. Leonie. Der blöde Name scheint mich höhnisch auszulachen. Wütend verwische ich den Namen mit aller Empörung, die eine Siebenjährige nur aufbringen kann.
"Ich will nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten. Er hat meinen Namen falsch geschrieben!", quengelt das Mädchen mit den schwarzen Zöpfen. Neben ihr sitzt ein blasser Junge mit blonden Haaren, ein verschreckter Ausdruck auf dem Gesicht. Unsere Blicke treffen sich. Erleichterung durchströmt mich in diesem Moment. Ich bin nicht die einzige, die von jemandem zurückgewiesen wurde. Wir sind beide Außenseiter.
Die Lehrerin lächelt gutmütig. "In Ordnung, wie wäre es, wenn wir einfach Partner tauschen?" Sie deutet auf den Jungen, dann auf mich. "Ihr beide...und ihr beide." Sie deutet auf Leonie und das schwarzzopfige Mädchen.
Zögernd setzt sich der fremde Junge zu mir. Ich habe große Angst, wieder etwas falsch zu machen. Auf keinen Fall werde ich sofort seinen Namen in den Sand schreiben. Ich versuche, seine Gedanken möglichst abzuschotten.
"Wie heißt du?", fragt der Junge ängstlich.
"Sascha."
"Denkst du...denkst du, du kannst das vielleicht durchstabieren?"
(Ich denke mal, er hat damals buchstabieren gemeint, aber hey, wir waren sieben und ich wusste was er meinte.)
Ich buchstabiere meinen Namen und erinnere mich, dass das Mädchen nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten wollte, weil er ihren Namen falsch geschrieben hat. Daher also der Aufwand.
"Wie hieß das Mädchen? Das davor deine Partnerin war?", frage ich, während er meinen Namen sorgfältig in den Sand schreibt.
Der Junge schaut auf und runzelt die Stirn. "Aasthatya."
Vollkommen überraschend pruste ich los. "Das ist der dämlichste Name den ich je gehört habe."
Das Gesicht des Jungen hellt sich auf, und kurze Zeit später lachen wir zusammen. Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, mustert er mich neugierig. "Warum wollte deine Partnerin nicht mehr?"
Ich erstarre und kaue auf meiner Unterlippe herum. Das ist jetzt eine ziemlich verzwickte Situation. "Weil ich komisch bin", antworte ich nach einer Weile.
Der Junge nickt einfach nur, was ihn mir noch symphatischer macht. "Die meisten hier sind komisch. Aber du bist gut komisch." Er lächelt schief und ich lächle zurück. "Willst du mir zeigen, warum sie dich komisch findet?"
In diesem Moment weiß ich, dass er nicht so reagieren wird wie das Mädchen. Es gibt etwas, das uns verbindet. Also nicke ich zustimmend und durchforsche seine Gedanken, bis ich weiß, wie er heißt. Dann schreibe ich seinen Namen in den Sand.
Ben.
Die Augen des Jungen weiten sich, und für einen Moment habe ich fürchterliche Angst, ihn auch vergrault zu haben. Dann guckt er mir direkt ins Gesicht, und grinst bis über beide Ohren.
"Das ist sooo cool."
Was soll ich noch sagen? Das war der Beginn unsere Freundschaft. Und von da an waren wir unzertrennlich.
Mein Handy vibriert.
Saaaschaaaaa??
Ich habe Ben noch nicht geantwortet. Ich grinse in mich hinein, während ich eine Antwort tippe. Vielleicht hat er ja dieses Mal meine Gedanken gelesen.
Der Tag vergeht relativ ereignislos. Ich esse etwas, mache Hausaufgaben, schaue ein bisschen fern, und zeichne am Küchentisch an meinem Bild weiter. Zeichnen ist wahrscheinlich so ziemlich mein größtes Talent- nach Gedanken lesen, versteht sich. Meine Mutter kommt noch später nach Hause als gewöhnlich. Ich schaue von meiner Zeichnung auf und murmle eine Begrüßung. Sie läuft gehetzt überall in der Wohnung herum und kommt dann in die Küche.
"Tut mir leid, heute war so viel zu tun." Sie lächelt gezwungen und streicht mir über die Haare, was ich absolut nicht leiden kann. "Ich nehme an, du hast schon was gegessen?"
"Ja. Hab mir was in der Mikrowelle warm gemacht."
Meine Mutter hantiert in der Küche herum, um sich auch etwas zu essen zu machen. Als sie fertig ist, setzt sie sich mit ihrem Teller zu mir an den Tisch. Sie fängt an zu essen. Wir schweigen.
"Wie war dein Tag?", fragt sie in die Stille hinein.
"Gut. Wie immer", antworte ich.
Ich weiß, dass das nur eine rhetorische Frage ist. Jedes Mal wenn ich ihr etwas aus meinem Leben erzähle, nickt sie nur an den passenden Stellen und macht hmm oder aha, während sie über etwas komplett anderes nachdenkt, meistens über die Arbeit. Irgendwann habe ich es aufgegeben, ihr Dinge zu erzählen. Trotzdem habe ich heute - warum auch immer - das Bedürfnis, mehr zu sagen.
"Ich hab meine Chemie Hausarbeit fast fertig. Und für Kunst sollen wir irgendwas mit dem Thema Fabelwesen zeichnen. Ich hätte da eine richtig gute Idee, hab sogar schon angefangen. Also den Hintergrund will ich in Mitternachtsblau malen und dann mit Silber vermischen, das ergibt so einen schönen Glanz..."
Vielleicht hätte ich die 304 Akte doch lieber zu den Ordnern im oberen Regal stellen sollen? Der Fall ist ja noch nicht abgeschlossen, aber es sollte schließlich nicht mehr lange dauern. Hoffentlich findet Robert sie, wenn sie nicht im üblichen Regal steht...
Ich beiße die Zähne zusammen. "Mama? Hörst du mir überhaupt zu?"
Sie guckt mich an und zieht eine Augenbraue hoch. "Natürlich, Schatz, ich höre dir sogar ganz aufmerksam zu. Du hast über dein Bild gesprochen."
Ich atme einmal tief durch und spreche weiter, erzähle noch etwas von den letzten Noten, die ich in Kunst bekommen habe.
Ich hoffe, der Novotny-Fall ist bald abgeschlossen. Immer die selbe Prozedur und nichts scheint voranzugehen. Mir ist noch nie so ein verstrickter Fall untergekommen wie...
Ich stoppe. Es hat keinen Sinn. "Kannst du mir nicht einmal zuhören?", flüstere ich.
Meine Mutter wird wütend. "Ich schaue dir gerade in diesem Moment ins Gesicht, Sascha, und höre alles was du sagst. Wie kommst du überhaupt andauernd darauf, dass ich dir nicht zuhöre? Wie viel Aufmerksamkeit soll ich dir deiner Meinung nach schenken?"
Ich springe mit einem Ruck auf, was die Stuhlbeine über den Boden schaben lässt, und drehe mich wortlos um. Ich weiß nicht, was mehr schmerzt. Dass sie mir mitten ins Gesicht lügt, oder das selbst meine eigene Mutter mich nicht kennt.
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