1 - Das Ende der Idylle - [Asha] (überarbeitet)

Das Ende der Idylle

Es war schon Abend, als der Schrei die Stille zerschnitt. Die Sonne hing tief über den Hügeln und tauchte das Gebiet in ein strahlendes Orange.

Der Schreck fuhr Asha bis ins Mark und ruckartig blieb sie stehen, ihren Korb fest umklammert.

"Was war das?", fragte Ivor neben ihr mit zitternder Stimme und zog damit Ashas Blick auf sich.
Das Mädchen sah ihrer Begleiterin an, dass sie genauso erschrocken war. Es dauerte, bis Asha sich soweit gefangen hatte, dass sie antworten konnte.
"Ein Schrei", belehrte sie Ivor altklug, um zu verstecken, dass ihr der Schock auch tief in den Gliedern saß.
"Ach, wirklich?" Genervt durchbohrten sie Ivors Augen, bevor diese ihren Blick verloren in die Richtung wendete, in der gerade ein paar empörte Krähen über den Baumkronen aufstoben.

"Ich meine, was ist da los? Wollen wir nicht nachschauen gehen? Vielleicht ist jemand in Gefahr..."
"Lass uns besser schnell hier verschwinden", unterbrach Asha ihre Freundin nervös. Sie wollte ihren Vater unter gar keinen Umständen noch einmal enttäuschen, indem sie nun zu spät kam. Die Erinnerung an das letzte Mal lastete noch schwer auf ihren Schultern und es bestand definitiv kein Wiederholungsbedarf.

Ivor sah sie so verständnislos an, als wäre sie von der anderen Seite.
"Aber was ist, wenn da jemand Hilfe braucht?"
Postwendend zuckte Asha nur mit den Schultern. Sie wollte nichts riskieren.
"Und wenn schon. Ich habe keine Lust auf unnötig viel Ärger"
Die Antwort darauf war Kälte in den Augen von ihrer liebreizenden Begleitung.
"Du kommst jetzt mit, du Egoist. Denk auch mal an andere", schnaubte Ivor.

Asha knickte resigniert ein und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, während Ivor sich verärgert vor sich hin murmelnd schwunghaft umdrehte und fest entschlossen zu dem Waldrand marschierte, wo die Bäume unheimliche Schatten warfen. Bei Ivor hätte Widerspruch nichts gebracht.

Toll, damit konnten sie es vergessen, noch rechtzeitig vom Bäcker heimzukommen. Ashas Vater würde sehr erfreut sein.

Für eine Weile blieb das schwarzhaarige Mädchen unentschlossen stehen, bevor sie sich zusammenriss und Ivor zögerlich folgte.

Doch dann kam ihr ein Gedanke, der ihr Herz vor Aufregung schneller klopfen ließ. Ob dort womöglich ein Nachtalb für den Schrei verantwortlich gewesen war? Ashas Beine trugen sie schneller, der Abstand bis zum Waldrand und zu Ivor schrumpfte.
Bitte, lass es ein Nachtalb sein, betete sie im Stillen. Bitte, bitte.
In Ashas Kopf tauchte ein Bild auf, zuerst verschwommen, doch mit jedem Laufschritt, den sie setzte, wurde es schärfer. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten keimte Hoffnung in ihr auf.

Als der Waldrand nur noch wenige Schritte entfernt war, kam sie neben Ivor zum Stillstand. Bedrohlich ragten die hohen Spitzen über ihnen auf und Asha zog den Mantel reflexartig enger um sich. Ein beißender Gestank lag schwer in der Luft und ließ sie ihre Nase rümpfen.
Das Waldinnere schien zu flüstern; die Blätter rauschten leise im Wind. Kein Vogel zwitscherte. Nicht mal mehr die Krähen waren da. Eine dunkle Vorahnung nistete sich in Asha ein, denn ihr wurde eines klar:

Im Wald, keine zehn Meter von ihnen weg, befand sich kein Nachtalb. Sondern etwas weitaus Bedrohlicheres.

Das wuchernde Gestrüpp peitschte Asha angriffslustig entgegen, als sie sich erfolglos abmühte, Ivor einzuholen. Diese rannte ohne Rücksicht auf die vielen spitzen Pflanzen durch das Dickicht, als gäbe es kein Morgen. Mehr als einmal fluchte Asha lautlos, als sich die Dornen schmerzhaft in ihre Beine bohrten.
"Ivor!", brüllte sie völlig abgekämpft. "Lass uns lieber umkehren! Unsere Eltern fragen sich sicher schon, wo wir uns herumtreiben!"
Die Antwort kam so verzögert, dass sie schon dachte, ihre Freundin hätte sie nicht gehört.
"Halt die Klappe und leg einen Zahn zu! Wir finden sicher was."
Eingeschnappt wollte Asha protestieren, heulte jedoch im nächsten Moment wegen eines besonders aggressiven Asts auf.

Sie waren noch eine Weile streitend durch das Dickicht gelaufen, bevor sich herausstellte, dass Ivor Recht behalten sollte. Die beiden hatten tatsächlich etwas gefunden.
Das Bild, das sich ihnen eine Meile vom Waldrand bot, war wahrhaftig schaurig. Asha wäre es lieber gewesen, sie hätten nie den Westwald durchforstet, denn direkt vor ihren Füßen lag ein Mensch mit unzähligen klaffenden Wunden. Aus einer sickerte noch frisches Blut, an den anderen hatten schon leise surrende Mücken Gefallen gefunden. Das Entsetzen wuchs, als Asha weiter hinten den Umriss einer weiteren Person bemerkte.
Rechts von ihr erklang ein geschocktes Aufkeuchen von Ivor. Auch Asha drehte sich der Magen um, mitunter wegen des üblen Geruchs, der sie schon vor dem Gehölz empfangen hatte. Während der Suche war er verflogen, er kam nun aber umso stärker zurück und schnürte ihr regelrecht die Kehle zu. Es war eine Mischung aus einer metallischen Note und dem Mief von Verwesung, die Asha glauben ließ, nie wieder mit Appetit speisen zu können.
Ivor gab das wohl den Rest, denn sie würgte und entleerte ihren Mageninhalt in ein Gebüsch. Als sie sich wieder aufrichtete, hatte ihr Gesicht eine grünliche Färbung angenommen.
"Asha, lebt er noch?", ertönte ihr dünnes Stimmchen neben Asha.
"Keine Ahnung. Hoffen wir es", murmelte sie aufgewühlt.
Asha kniete sich neben den jungen Mann und prüfte, ob er noch atmete. Der Brustkorb des Fremden schien sich weder zu senken noch zu heben. Betroffen sah sie zu Ivor auf und schüttelte den Kopf.

Sie wandte sich ihm wieder zu und betrachtete ihn näher, um zu erkennen, ob er aus Klingendorf oder der Umgebung kam. Die dunkelblonden Haare, die trotz Schmutz gepflegt aussahen, fielen dem Unbekannten ins Gesicht, so, als wären sie schon mindestens seit einem Quartal nicht mehr geschnitten worden. Dabei umrahmten sie sein Gesicht, das vereinzelt mit Sommersprossen besprenkelt war. Seine Haut war so weiß wie frisch gefallener Schnee, sodass es schon fast kränklich aussah. Asha schätzte ihn auf ein Alter von etwa neunzehn Jahren, vielleicht zwanzig.
Ganz sicher war sie sich nicht, aber sie glaubte, ihn noch nie gesehen zu haben.
"Könntest du nachschauen, ob der da hinten noch am Leben ist?", fragte Asha Ivor, die ziemlich zerstreut dreinsah. Als diese nickte und von dannen schlurfte, fiel Asha ein Stein vom Herz. Den genaueren Anblick einer weiteren Leiche hätte sie nicht verkraftet.

Heilige Dellwyn, so hätte sie sich den Tag definitiv nicht vorgestellt. Wer denkt schon, dass er bei einem einfachen Spaziergang zum Bäcker zwei Tote findet? Ihre Haare raufend lief Asha ein paar Schritte, um irgendwie einen freien Kopf zu bekommen. Was sollten sie nun tun? Die beiden ins Dorf tragen wäre wohl das angebrachteste Angebrachteste, aber was sollten sie dann mit ihren Körben machen?

Aus dem Augenwinkel bemerkte Asha plötzlich eine Bewegung. Sie drehte ihren Kopf ruckartig in die Richtung. Es raschelte in ein paar Büschen. Still blieb sie stehen, in der Hoffnung, dass was auch immer da war sie nicht bemerkt hatte, dabei schoss ihr Puls in die Höhe. Verdammt, Ivor hätte auf sie hören sollen! Goblins waren hier im Westwald zwar nur selten anzutreffen, aber es kam trotzdem hin und wieder vor, dass sich einer hierher verirrte. Und wenn man einem begegnete, stand die Überlebenschance so unvorbereitet unter keinem guten Stern. Asha hielt die Luft an, darauf bedacht, nicht ein Geräusch zu machen. Sie malte sich schon die schlimmsten Szenarien aus, immerhin waren die Krallen dieser Kreaturen wegen ihrer Schärfe auf dem Markt heißbegehrt. Was würde wohl auf ihrem Grabstein stehen?

Aber die Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Das Rascheln stellte sich ein und Asha atmete erleichtert aus. Das war zu viel für einen Tag.

"Ivor, komm endlich!", brüllte Asha, fertig mit den Nerven, in ihre ungefähre Richtung. Sie sollten besser schnell hier verschwinden, wenn sie morgen noch leben wollten.

Kurz darauf kam Ivor vor Anstrengung schnaufend bei ihr an. Sie trug einen schwarzhaarigen Mann Huckepack und hatte dabei alle Mühe, weder den Korb noch ihn fallenzulassen. Anscheinend war dieser auch nicht mehr bei den Lebenden. Asha tat es ihr mit dem Dunkelblonden gleich. Sie begannen ihren mühseligen Marsch, den sie vermutlich nur wegen ihrer Muskelkraft, die durch die viele Schufterei kam, meisterten.

Einige Stunden später saß Asha in dem Krankenlager von Klingendorf, ihrer Heimat und kaute sich die Lippe wund. Es hatte sich herausgestellt, dass der blonde Junge glücklicherweise doch noch lebte, da Asha es nicht gründlich überprüft hatte, aber bei dem anderen hatte Ivor recht gehabt. Die Pfleger hatten gemeint, dass der Dunkelblonde bald aufwachen würde und sie müsste lügen, wenn sie behaupten würde, dass es sie nicht brennend interessierte, was er zu erzählen hatte.

Schon von weitem hörte man Caltaines gackerndes Lachen. Sieh an, die Tochter des Bürgermeisters höchstpersönlich. Bei ihnen im Dorf waren alle eher dürr, aber Caltaine glänzte mit ihrer im Vergleich zu allen anderen kräftigeren Figur.
Mal sehen, ob sie noch so gute Laune hatte, wenn sie hier aufkreuzte.

"Juno meinte, sie hätte dich gesehen, wie du dich mit einem Jungen aus dem Wald geschlichen hättest. Stimmt das?", schleuderte sie Asha entgegen, nachdem sie grinsend um die Ecke geschlendert kam. Dicht vor ihr blieb sie stehen. Asha wollte gerade fragen, wer zum Henker Juno sei, doch Caltaine nahm ihr die Worte aus dem Mund. "Wer ist das?", fragte sie mit einem Blick auf die Liege zu meiner Rechten, doch es hörte sich so an, als würde sie keine Antwort erwarten.

Als Caltaine das sagte, verschwand alle Amüsierung aus ihrer Stimme. Kurz musterte sie die Verletzungen bestürzt, ohne einen weiteren Ton zu sagen. Dann huschten ihre Augen weiter zu dem Bett, auf dem der schwarzhaarige Mann lag, und sie weiteten sich.

"Was - " Ihre Stimme brach. Sie konnte ihren Blick nicht von der Leiche abwenden und genauso wenig konnte Asha den ihren von Caltaine abwenden. Der stechende Blick war wohl nicht sehr unauffällig, denn die Bürgermeistertochter sah träge auf und direkt in ihre Augen. Und Asha sah etwas in dem Blau, was sie sonst nie gesehen hatte. Leere. Und etwas, das verdächtig nach Schmerz aussah, aber das war sehr fragwürdig. Sonst war da immer dieses schalkhafte Funkeln, aber gerade war sie wirklich am Zweifeln, ob sie sich dieses immer nur eingebildet hatte, so leer waren ihre Augen.
Caltaine schwankte gefährlich und Asha stürzte vor, um sie zu halten. "Schhh, alles gut. Glücklicherweise war es niemand, den wir kannten", versuchte sie das Mädchen aufzumuntern. Die Worte verfehlten jedoch ihre Wirkung.
Unerwartet riss Caltaine sich los und Asha stolperte nach hinten. "Hör auf zu reden", zischte sie, im Moment darauf fingen ihre Augen an zu glänzen. Vollkommen überfordert schwieg Asha weiter und verstand nicht, was den plötzlichen Wandel von traurig zu wütend verursacht hatte.

Nachdenklich starrte sie den Körper der Person an, der Caltaine so aus der Fassung gebracht hatte. Die dicke Wunde prangte unübersehbar auf seinem Bauch. Nachdenklich legte Asha den Kopf schief und vergaß, dass Caltaine noch anwesend war. Was für ein Wesen hatte ihn so zugerichtet? Sicherlich eines mit scharfen Krallen... allerdings konnte das kein Goblin gewesen sein.
Und warum bitte reagierte Caltaine so seltsam?

Das Knallen der Tür riss Asha aus ihren Überlegungen und sie schreckte hoch. Na super. Caltaine hatte sie mit ihren verwirrenden Gedankenfragen, einer Leiche und einem Schwerverletzten alleine gelassen.

"War das Caltaine?", erschreckte Asha plötzlich eine Stimme. Wie paralysiert drehte sie sich langsam zu der Liege um. Der Fremde musterte Asha trotz offensichtlicher Erschöpfung unverhohlen und rief in ihr eine Frage auf.

Woher kannte der Unbekannte das Mädchen, das sich nie traute, Klingendorf zu verlassen?

..und damit herzlich Willkommen!
Ich weiß nicht, ob ich mit dem Kapitel zufrieden sein soll, aber das ist der 7. Versuch und ich bin froh, dass ich den wenigstens zu Ende gebracht habe.
Geplant ist wöchentlich ein neues Kapitel.

Wie findet ihr das erste Kapitel?
Und was ist euer erster Eindruck von den Personen? :D

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