Versprechen
Langsam ließ Adele sich zurück auf den Boden sinken. Wie aus dem Nichts waren diese schier unerträglichen Schmerzen gekommen. Sie waren so schlimm, dass sie sich bis eben in krampfartigen Wellen hatte übergeben müssen. Nun fühlte sie sich ausgelaugt und leer. Eisige Kälte schlich sich in ihre Knochen und ließ sie frösteln. In diesem Moment sehnte sie sich nach ihrer besten Freundin, die bestimmt bei ihr hocken, sie in warme Decken wickeln und ihr gut zureden würde. Aber Ria war nicht da. Sie konnte nicht einmal sagen, wo sie war. Aram hatte ihr vor ihrer Abreise versichert, dass Ria alles tun würde, um ihr in dieser Welt beistehen zu können. Hoffnungsvoll hatte sie sich an seine Worte geklammert, doch Ria war nicht aufgetaucht. An diesem schrecklichen Tag, als der Vampir sie brandmarkte, hatte sie geglaubt, ihre Stimme zu hören. Hoffnung war in ihr aufgekeimt, dass Ria kommen und sie retten würde. Wenigstens Ria, wenn Aram sein Versprechen, sie zu beschützen schon nicht gehalten hatte. Eine Hoffnung, die ebenfalls bitter enttäuscht wurde. Vergangene Woche war die Hölle für sie gewesen. Zwar wurde sie gut behandelt, doch war dieser Vampir, an den sie aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen gekettet war, nicht gerade unaufdringlich. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt.
Heute Morgen war ein Bote aufgetaucht, der Ludwig, so hieß besagter Mann, zum König bringen sollte. Aram hatte ihr einst von ihm erzählt. Er war der älteste aller Vampire und man tat gut daran, ihn sich nicht zum Feind zu machen. Mehr wusste sie nicht.
Mit einem Knarren öffnete sich die Tür zum heruntergekommenen Bad. Adele war zu müde, zu erschöpft, um sich umzudrehen und eh nur Ludwig ansehen zu müssen. Leise Schritte verstummten langsam und wurden wieder lauter. Eine Decke wurde um sie gelegt und jemand ließ sich neben ihr nieder.
„Ich wünschte, ich könnte deine ersten Erfahrungen hier ungeschehen machen."
Sie war überrascht, Arams Stimme zu hören. Seine Präsenz tat so unendlich weh. Sie wollte nicht an seinen Verrat erinnert werden. „Bitte geh. Wir haben nichts mehr miteinander zu tun." Ihre Stimme klang schwach, war kaum mehr als ein klägliches Krächzen.
Seufzend stand Aram auf und hob sie unter ihrem schwachen Protest hoch. „Du musst nie wieder in dieser niederen Wohnung leben, Liebste. Ich bin hier, um mein Versprechen einzulösen."
Eine neue Welle des Schmerzes überrollte sie, beraubte sie ihrer Sinne. Besorgt eilte Aram in seine Zimmer und legte das mittlerweile fiebernde Mädchen in sein weiches Bett.
Als Adele wieder zu sich kam, stritten sich zwei Personen in ihrer Nähe.
„Ich habe dir doch gesagt, dass es ihr richtig mies gehen wird, aber niemand will hier auf mich hören!"
„Es war ein Planungsfehler, der jetzt auch nicht wieder rückgängig zu machen ist."
„Wehe du erzählst ihr, dass es ein Planungsfehler war. Wärst du nicht so gut wie unsterblich, hätte ich dir schon längst den Kopf abgerissen."
„Du warst es doch, die Ludwig ohne mit der Wimper zu zucken umgebracht hat."
„Und wer hat mir die Waffen dafür gegeben? Wenn sie die Schmerzen überwunden hat, wird sie für den Rest ihres Lebens frei von diesem Widerling sein."
„Wie lange dauert das?"
Ein aufgebrachtes Schnauben. „Keine Ahnung."
„Du sprichst davon, als hättest du Erfahrungen damit."
Totenstille. Dann: „Das ist keine Frage, die ich dir beantworten werde. Wenn sie Glück hat, wird sie die Trennung nach diesen paar Tagen schnell verkraften."
Verwirrt versuchte sie sich aufzusetzen, musste sich vor Schmerzen stöhnend jedoch wieder in die herrlich weichen Kissen sinken lassen. Sie wünschte sich, sie könnte wenigstens die Stimmen auseinander halten. Dann wüsste sie, wer da war und sich um sie sorgte. Sie zwang ihre Augen auf, musste jedoch sofort blinzeln, weil das Licht sie blendete.
„Adele?" Arams besorgtes und unnatürlich blasses Gesicht tauchte vor ihren Augen auf. Erleichterung breitete sich darauf aus, als sie ihn schwach anlächelte. „So ein Glück, du bist wach."
„Was meinst du?", fragte sie mit kratziger Stimme. In ihrem Hals herrschte größere Trockenheit als in der Sahara.
Aufrichtig lächelnd griff der Vampir nach hinten und zauberte scheinbar aus dem Nichts ein Glas Wasser hervor. „Trink, dann fällt dir das Sprechen gleich leichter."
Geduldig wartete er, bis sie das Glas geleert hatte. Erst als er das Leere Gefäß wieder in den Händen hielt, klärte er sie auf. „Du hast zwei Tage geschlafen und an Fieberkrämpfen gelitten."
Mit großen Augen sah sie ihn an. „Ich bin doch nicht schwanger oder?"
Ein belustigtes Schnauben erinnerte Adele daran, dass noch jemand im Raum war. Mit Arams Hilfe richtete sie sich ein wenig auf. Schwarzes Haar umflutete anmutige Züge und hellbraune Augen musterten sie intensiv. „Ria." Erfreut wollte sie zu ihrer Freundin eilen, wurde aber von zwei starken Armen wieder zurück in die Kissen gedrückt.
Zögerlich trat ihre Freundin ans Bett. Jetzt trug sie eine reservierte Miene zur Schau. „Schön, dass es dir besser geht."
Erschöpft schloss sie ihre Augen. So glücklich sie auch war, ihre beiden Liebsten wieder an ihrer Seite zu haben, so hatte sie vorhin etwas wenig Erfreuliches mit angehört. „Habt ihr euch gerade gestritten?" Der Blickwechsel der beiden entging ihr nicht.
„Wir hatten nur unterschiedliche Ansichten." Beschwichtigend strich Aram ihr ein paar verschwitzte blonde Strähnen aus dem Gesicht.
„Was ist passiert?"
„Du bist frei", antwortete Ria mit seltsam unterdrückter Stimme. „Du bist nicht länger an diesen Ludwig gebunden. Das Auflösen eures Bundes hat deinen Zusammenbruch ausgelöst. Du bist bestimmt nicht schwanger, das wüsste ich."
Irritiert musterte Adele ihre schwarzhaarige Freundin. Ria sah müde und abgespannt aus. „Was ist mit dir passiert?"
„Interessiert dich gar nicht, woher ich das alles weiß?", lautete ihre verwunderte Gegenfrage.
Adele schüttelte ihren Kopf. „Du bist auch ein Wesen. Du erzählst es mir bestimmt irgendwann."
Unter ihrem abwartenden Blick fuhr Ria sich hilflos durch die Haare. „Du bist mir ein Rätsel. Aber jetzt ist tatsächlich nicht die Zeit, um unnötige Fragen zu beantworten. Du wirst dich in den nächsten Tagen vermutlich noch etwas schwach fühlen. Die Anfälle sollten sich erledigt haben. Am besten ihr macht euch für euer Rendezvous fertig." Mit hängenden Schultern wandte sie sich zum Gehen.
Entsetzt setzte Adele sich ruckartig auf. Kurz verschwamm alles vor ihren Augen. „Wohin willst du? Wir haben uns doch gerade erst wiedergefunden, du kannst jetzt nicht einfach gehen." Sie durfte nicht schon wieder spurlos verschwinden!
Etwas schlich sich in Rias Augen. War es Schmerz? „Ich durfte her kommen, weil Aram wissen wollte wie lange du noch vor dich hin leidest. Es hat ihn fast verrückt werden lassen nicht zu wissen, wann es dir besser geht."
„Warte." Hilflos streckte Adele den Arm nach ihrer Freundin aus. „Bitte, bleib hier."
Begütigend strich Aram ihr über den Rücken. „Ich werde dafür sorgen, dass du sie sehen kannst, wenn du willst. Ria muss jetzt gehen, Liebste."
Adele wollte protestieren, doch als sie wieder zu ihrer Freundin blickte, war sie schon nicht mehr dort.
Vor der Tür schlug Ria frustriert auf die Wand ein. Es tat weh, ihre beste Freundin so sehen zu müssen. Trotzdem bereute sie es keinen Augenblick, ihren vorherigen Partner umgebracht zu haben. So gern sie ihr unter anderen Umständen diese Qualen auch erspart hätte. Glücklicherweise hatte es Adele nicht so stark erwischt wie sie.
Als sie von ihrer Faust aufsah, starrte sie auf Marjans karmesinrotes Hemd. „Ich hatte nicht vor zu fliehen", resignierte sie und ließ sich müde an der Wand nach unten sinken.
„Das habe ich nicht angenommen. Du solltest Aram keine Vorwürfe machen. Das war ein Fehler des Vergabe-Beauftragten."
Zornig funkelte sie zu ihm auf. Ihre Niedergeschlagenheit hatte sich im Nu in Wut gewandelt. „Warum tut ihr so etwas? Warum entführt ihr zwanzig Menschenmädchen und bringt sie her?"
Mit undurchdringlicher Miene deutete der Vampirkönig auf den Gang. „Du solltest in dein Zimmer gehen, du bist schwach."
Ria machte keinerlei Anstalten aufzustehen. „Wer enthält mir denn mein Essen vor?"
„Du hast ein Messer nach mir geworfen. Das ist eine angemessene Strafe."
Ächzend richtete sie sich auf. Dieser Vampir war in etwa so nachgiebig wie eine Eisenwand. „Na, wenn du meinst." Sie fühlte sich leer und elendig. Adele so leiden zu sehen, hatte ihr den letzten Rest gegeben.
Marjan war überrascht, die Fassade dieses taffen Mädchens bröckeln zu sehen. Egal, wie oft er es ihr angedroht hatte, er hatte nie beabsichtigt, sie zu brechen. Er hoffte, dass all das ihrem Schockzustand zuzuschreiben war. Andernfalls hatte er ein ernsthaftes Problem. Nachdenklich beobachtete er, wie sie sich in das Zimmer schleppte, das in den vergangenen Tagen ihr Gefängnis gewesen war. Erst dann machte er sich auf dem Weg in den Thronsaal, um seine Söhne zu empfangen.
Unterdessen brach Ria auf dem Teppich vorm Kamin zusammen. Verschwinde bitte für eine Weile aus meinem Geist. Tob dich draußen aus, befahl sie ihrem Gefährten.
Sie spürte Ragnas Verwirrung über ihren Wunsch. Dennoch sagte er kein Wort und empfahl sich mit einem tröstenden Gefühl.
Halt suchend vergrub Ria ihre Hände in den lange Zotteln des Teppichs. Sie musste dringend Ordnung in ihre Gefühle bringen. Die Geschehnisse hier hatten eindeutig zu viele tief vergrabene Erinnerungen zurück an die Oberfläche gebracht. Hinzu kam der Druck, die Notwendigkeit, dass sie zurückkehrte und sich um ihren Clan kümmerte.
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