Verschwundenes Blut

Vorsichtig schlüpfte Ria in die kleine Kammer, in der Gians Leiche lag. Es war ein kleiner Raum, kaum mehr als eine Putzkammer, vielleicht ein Hausmeisterraum. Er befand sich im zweiten Stock eines an sich ansehnlichen Miethauses. Die Mieter hier mussten gut situiert sein. Ob der Ablageort relevant war? Sie musste sich den Leichnam nur kurz ansehen um festzustellen, dass ihm das Genick gebrochen worden war. Worauf sie sich keinen Reim machen konnte, waren die definitiv nicht todesursächlichen aufgeschnittenen Pulsadern. Sie spürte Aleix hinter sich und präsentierte ihm ihren ersten Eindruck. „Entweder ist er hier nicht umgebracht worden oder aber seine Mörder haben ihn äußerst sorgfältig ausbluten lassen und ihm anschließend das Genick gebrochen. Ich denke, dass er hier getötet wurde. Zumindest sprechen die kleinen Blutflecken auf dem Boden und den Regalen dafür."

„Bleibt nur noch zu klären, wo sein Blut geblieben ist", merkte Aleix fachmännisch an.

Ria lachte bitter. „Also, ich glaube nicht, dass es einfach so davongelaufen sein wird." Ragnarök.

Es dauerte keine Sekunde, da nahm sie die schwarzen Schatten in ihrem Bewusstsein wahr, die von der Präsenz des Schattendrachens kündeten.

Meinst du, wir finden noch irgendwelche Spuren der Täter?

Der Drache ließ ein tiefes Grollen hören. Darauf will ich meinen Hintern verwetten.

Mit geschlossenen Augen hockte Ria neben dem toten Jäger und versuchte Spuren in den hinterbliebenen Emotionsfetzen zu finden. Da waren vor allem Gians Angst und der Friede, der ihm kurz vor seinem Tode erfüllt hatte, aber auch andere, weniger klare Noten. Gemeinsam sortierten sie die Spur des Toten aus und schoben sie quasi in den Hintergrund. Immer weiter steckten sie die Eindrücke in verschiedene Schubladen, bis sie sich sicher waren, Spuren von insgesamt fünf Anwesenden gefunden zu haben. Einer von denen war der tote Jäger.

„Vier Leute, drei davon hatten ihre sadistische Freude daran, ihn zu quälen. Die vierte Person hatte wohl einige Bedenken."

„Was gedenkst du nun zu tun?", erkundigte sich ihr Mentor erwartungsvoll.

Ein grausames Lächeln legte sich auf ihre Lippen, langsam meldete sich ihr Jagdinstinkt. „Sie umbringen, was denn sonst?"

Von unten drangen Laute nach oben. Es klang ganz so, als wären die übrigen Polizisten eingetroffen. Ria überlegte, wie lange sie wohl gebraucht haben mussten, um die Spuren zu finden. Da es ihnen erst ein einziges Mal zuvor gelungen war, musste wohl einiges an Zeit ins Land gegangen sein.

Der Hauptkommissar räusperte sich dezent im Hintergrund.

„Ich geh dann mal. Immerhin müssen deine Kollegen mich hier nicht unbedingt sehen." Während Ria aus dem Fenster kletterte, machte Aleix sich auf den Weg, seinen Kollegen die Tür zu öffnen. Dabei fragte er sich, wie um alles in der Welt sie das schaffen wollte. Leider wurde seine Aufmerksamkeit von der Spurensicherung in Beschlag genommen, sodass er ihr Verschwinden nicht bemerkte.

Ria suchte sich eine ruhige Ecke in einer schmuddeligen, abseitsgelegenen Nebengasse. Dort rief sie wieder nach ihrem Geist. Kannst du mir den Gefallen tun und versuchen, diejenigen zu finden, die dafür verantwortlich sind?

Ragnaröks rote Augen glühten gefährlich auf. Natürlich. Ich werde nur eine Weile brauchen.

Alles klar. Ich rufe dich wie üblich, wenn ich dich brauche. Bis dahin halte auch ich Augen und Ohren offen.

Der Drache löste sich langsam aus ihrem Bewusstsein. Unterdessen machte Ria sich auf den Heimweg und überlegte, wie sie diese Aufgabe meistern konnte, ohne sich in die Polizeiarbeit einzuklinken.

Tonlos vibrierte das Telefon in ihrer Tasche. „Was gibt's?"

Es war Kemal. „Süße, schön wieder deine Stimme zu hören. Ich rufe an, weil Gian verschwunden ist."

Seufzend stieß sie ihre Luft aus. „Ich weiß, ich habe seine Leiche gesehen. Es war ein dilettantischer Mord. Ich kümmere mich darum. Sonst noch etwas?" Abgehackt und unfreundlich kamen ihr die Sätze über die Lippen. Nach dem ganzen Theater um Blake brachte sie es einfach nicht über sich, nett zu ihrem Ziehvater zu sein.

„Melde dich, wenn wir dir helfen können."

Mit zusammengekniffenen Lippen legte sie auf. Sie wusste noch immer nicht, wie sie mit ihm umgehen sollte. Sie war sich ziemlich sicher, dass er mit Blakes Ermordung in Verbindung stand. Wortlos steckte sie ihr Handy weg und rannte über die unbelebten Pflasterwege. Sie musste dringend dem Wirrwarr in ihrem Kopf entkommen, das immer dann aufkam, wenn sie an ihren Ziehvater dachte.

Anstatt zur Schule zurückzukehren und dort auf Aleix zu warten, lief sie sofort in ihre Wohnung. Er würde ihr ihre Sachen schon vorbei bringen, schließlich sah er regelmäßig nach ihr.

Cora saß maunzend vor ihrem leeren Napf, als sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ.

Schockiert schlug sie die Hand vor den Mund. Hatte sie etwa ihre geliebte Katze vergessen? „Habe ich dir nichts zu fressen gegeben?"

Mit einem anklagenden Blick auf sie erhob sich die schwarze Katze und strich schnurrend um ihre Beine. Lachend schnappte Ria sich das Tier und knuddelte sie innig. Den Weg zu rennen, hatte ihr gut getan und sie von ihren lästigen Gedanken befreit. „Du bekommst ja dein Futter." Gut gelaunt setzte sie Cora auf den Boden und kramte die Schachtel Katzenfutter aus dem Schrank. „So, hier hast du dein Fresschen."

Kaum hatte sie das Schälchen auf den Boden gestellt, stürzte die junge Katze sich auch schon auf ihre Mahlzeit.

Während Cora in Ruhe fraß, fuhr Ria im Wohnzimmer ihren Laptop hoch. Heute Abend hatte sie zwei Dinge zu erledigen: zuerst musste sie ein Rundschreiben zu Gians Tod anfertigen. Danach wollte sie jetzt kurzerhand die Umstrukturierung des Clans in Angriff nehmen, damit sie sich von nun an nicht mehr persönlich um jeden Todesfall kümmern musste.

So kam es, dass Aleix sie am Abend bis über beide Ohren in ihre Arbeit versunken vorfand. Es schien sie nicht zu interessieren, dass er sich in der Küche zu schaffen machte und begann, ihnen ein Abendessen zuzubereiten.

„Ria."

Wieder ignorierte sie ihn und hämmerte ungerührt auf die Tasten ihres Laptops.

Verärgert räusperte er sich. „Ria."

„Scht!" Ungehalten schlug sie mit der Hand in seine Richtung.

„Nein, nicht ‚Scht'. Du hörst mir jetzt zu!"

Finster sah sie von ihrer Arbeit auf. „Was willst du?"

Angesichts ihrer kratzbürstigen Haltung nahm er eine ablehnende Position ein. „Habe ich dir etwas getan?"

Ria betrachtete ihn, wie er mit verschränkten Armen an der Wand neben der Tür lehnte und sie eindringlich musterte. Nein, er hatte ihr nichts getan. Sie war einfach nur frustriert. „Also?", brummte sie verstimmt.

Ausdruckslos deutete er auf den neben ihr stehenden Teller. „Du musst etwas essen."

Wütend starrte sie auf die Portion Rührei. Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie sie zu einem Kräftemessern herausgefordert, dessen war Aleix sich sicher.

„Wann hast du die denn gemacht?"

„Gerade eben. Deshalb sind sie jetzt noch warm."

Ächzend griff sie nach dem Teller und schaufelte das Essen geradezu in sich hinein, um ihn kurz darauf beiseite zu stellen und sich wieder in ihre Arbeit zu vertiefen. Allerdings kam sie nicht dazu, da Aleix den Laptop zuklappte und die aufgeschlagenen Bücher lieblos vom Tisch fegte.

Augenblicklich sprang sie auf und schrie ihn an: „Was soll das?!"

„Macht es dir Spaß, dich so zu quälen?"

Ria sprang geradezu im Dreieck. Sie tobte und schrie, doch Aleix gab nicht nach. Immer wieder hielt er sie davon ab, nach ihren Büchern oder dem Laptop zu greifen.

Irgendwann sprang sie frustriert zur Tür. „Gut, dann geh ich eben und komme erst wieder, wenn du weg bist."

Erneut war er schneller und blockierte die Tür mit seinem Fuß. „Beantworte meine Frage." Sein Tonfall war schmerzhaft ruhig.

Sie sah ein, dass es keinen anderen Ausweg für sie gab und bemühte sie sich darum, wieder zur Ruhe zu kommen. „Nein, es macht mir keinen Spaß und wie kommst du überhaupt darauf, dass ich mich quäle? Je schneller ich den Kram hier fertig hab, desto eher habe ich meine Ruhe."

Entschlossen griff er nach ihr. Mit einer Hand packte er sie am Arm, die andere legte er unter ihr Kinn und zwang sie dazu, ihn anzusehen. „Das denkst du dir nur." Zärtlich ließ er seine Finger über ihr Kinn wandern, bis er sachte über ihre Wangen strich. „Du musst lernen abzuschalten und dir eine Beschäftigung suchen, die dir Spaß macht. Dein Leben besteht ja nur aus Kämpfen."

Ihre hellbraunen Augen wurden riesig. „Aleix." Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.

Es war schwer, der Versuchung zu widerstehen. Sie war ihm so nah, ihr Atem kitzelte auf seiner Haut und die hitzige Röte auf ihren Wangen ließ sie so unglaublich unschuldig wirken.

Ein vorsichtiges Räuspern ihrerseits brachte ihn wieder zur Besinnung. „Aleix es... es tut mir leid. Ich fühle mich einfach überfordert."

„Ich weiß." Fürsorglich strich er ihr durchs nachtschwarze Haar. „Ich weiß. Lass uns etwas essen gehen. Ich hatte noch kein Abendessen und deines war wohl eher ein kleiner Snack."

Dankbar lächelte sie ihn an. „Das ist eine gute Idee." Verlegen löste sie sich aus seinem Griff und verschwand in ihrem Schlafzimmer. „Ich ziehe mir nur noch schnell etwas anderes an."

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Wütend schlug er auf die Wand vor ihm. Diese Nachricht schmeckte ihm ganz und gar nicht. Wie konnten diese Jugendlichen nur so dumm sein und ausgerechnet einen von denen töten?!

Er würde sich auf den Weg machen und die dafür verantwortliche Person zurechtweisen müssen, bevor sie noch für diverse Eklats sorgte.

Er rief einen Boten zu sich, der seinen Vater informieren sollte und packte eilig ein paar Sachen für die Reise zusammen. Wenn alles glatt lief, würde er nicht lange fort bleiben. Geradezu überstürzt machte er sich auf den Weg.

Ehrfurchtsvoll verneigten sich die Leute, die ihm unterwegs begegneten. Diese Ergebenheit war ihm zuwider. Er sehnte sich nach nichts mehr, als nach einer Person, die auf gleicher Ebene mit ihm sprechen konnte. Jemanden, der nicht bei seinem bloßen Anblick devot auf alle Viere sank und dort verharrte, bis er den Raum verlassen hatte. Irgendwo musste sie doch sein, diese Person, die seine Aufmerksamkeit fesselte und ihn als das sah, was er wirklich war.

Wortlos eilte er an den Niederknienden vorbei und blinzelte beim Hinaustreten in das Licht der untergehenden Sonne. Das alarmierend tieforangene Licht wies ihn darauf hin, dass er nicht mehr allzu viel Zeit hatte. Wenn er nicht bis zu Morgen warten wollte, musste er zusehen, dass er Land gewann.

Ein letztes Mal ließ er seinen Blick über das sich vor ihm erstreckende Land gleiten, bevor er sich einen Mantel überwarf, die Kapuze tief ins Gesicht zog und in eiligen Schritten über den gepflasterten Weg gen Horizont marschierte. Es behagte ihm gar nicht, seine Heimat schon wieder verlassen zu müssen.

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