Verschwunden

Sie küssten sich, als stünde das Ende der Welt bevor. Wie Ertrinkende, die nach Luft schnappten. Die zarten Fäden, die ihre Seelen bereits miteinander verknüpften, verstärkten sich, formten ein festes Band. Machtlos spürte Eleasar, wie sie immer stärker zueinander fanden. Er wollte es noch immer nicht. Doch genauso wenig, wie er sie vorhin im Wald verletzen konnte, konnte er jetzt von ihr lassen.

Schließlich war es Ria, die sich von ihm löste. „Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht, aber ich muss langsam etwas essen." Verlegen lächelnd trat sie einen Schritt zurück. „Ich schau mal nach, was noch so da ist."

Wie zu erwarten, war nichts mehr im Kühlschrank. Frustriert kehrte sie ins Wohnzimmer zurück und griff nach dem Telefon. „Gibt es etwas, was du nicht gerne isst? Oder liebst?"

Fragend musterte er sie. „Nicht wirklich. Was hast du vor?"

Ria tippte die Nummer des Lieferservices ein. „Essen bestellen. Es sei denn, du möchtest einkaufen gehen." Sie überlegte kurz. „Wir gehen einkaufen." Ihr Blick blieb an seiner Kleidung hängen. „Du brauchst etwas anderes."

Ratlos zuckte er mit den Schultern. „Im Haus gibt es bestimmt genügend."

Sie strahlte ihn an. „Klar, Arams Haus. Aber das ist so weit weg. Ich hab ne bessere Idee." Sie löschte die bereits eingegebene Nummer und wählte erneut.

Jemand meldete sich nach dem zweiten Klingeln. „Ja?"

„Ich möchte Andreas sprechen."

„Ria?", fragte eine ihr bekannte, freudig überraschte Stimme. Es war Kemal.

„Paps. Wir reden morgen. Ich bin gerade erst wieder da. Gib mir einfach Andreas."

„Aber..."

„Rede ich Chinesisch? Weißt du was? Vergiss es." Genervt wollte sie auflegen.

„Ria, warte. Andreas ist nicht da. Womit kann ich dir helfen?"

Sie überlegte einen Augenblick, kam zu dem Schluss, dass Kemal diese Aufgabe ebenso gut erledigen konnte und gab ihre Anweisung durch: „Ihr habt noch Sachen von Blake. Ich bin nicht blöd, also hör auf das abzustreiten. Stoffhose, Sporthose, Shirt und Pullover. In zehn Minuten. Ach, und du könntest auf dem Weg zwei Pizzen mitbringen. Normal, ohne alles." Abschiedslos legte sie auf.

„Probleme?", erkundigte sich Eleasar mitfühlend. Er stand noch immer dort, wo sie ihn hatte stehen lassen.

Verliebt lächelte sie ihn an. „Na ja, wie man's nimmt. Ich muss mir jetzt nur eine gute Antwort überlegen. Ich kann ja nicht jedem erzählen, wo ich gut vier Wochen war."

Langsam ging er zu ihr, nahm ihr das Telefon aus der Hand und zog sie in seine Arme. „Gibt es hier viele wie dich?"

„Ich habe keine Ahnung. Da müsste ich nachsehen. Bislang bin ich nur zweien begegnet. Einer davon ist tot." Vertrauensvoll lehnte sie sich an ihn. „Das ist schön."

Seine Antwort bestand aus einem gefühlvollen Kuss. „Ja."

Sie standen noch immer Arm in Arm, als es klingelte. Auf ihre Bitte hin setzte er sich auf das Sofa. Dann erst öffnete sie die Tür.

„Ria." Stürmisch schloss Kemal sie in seine Arme. „Schön, dass du wieder da bist. Wo warst du?"

Sie nahm ihrem Ziehvater die Pizzaschachteln ab. „Danke. Hast du alle Sachen auftreiben können?"

Er hielt ihr die Tasche hin. „Lässt du mich rein?"

Zögernd öffnete sie die Tür ein Stück weiter. „Klar, schneid doch die Pizzen an." Geschickt lotste sie Kemal in die Küche. Sie selbst verschwand mit der Tasche in ihr Schlafzimmer und zog Eleasar hinter sich her. „Pass auf, Kemal weiß meines Wissens nach nichts von der anderen Welt. Die Sachen hier sollten fürs Essen und Einkaufen reichen." Betreten starrte sie auf die Tür. „Ich kann ihn nicht einfach her zitieren und dann wieder weg schicken. Er hat mich großgezogen."

Überrascht drehte er sie zu sich um. „Dein Ziehvater?" Seine Miene verfinsterte sich.

Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie ihm von Kemals Verrat erzählt hatte. Eindringlich sah sie ihm in die Augen. „Es gibt keinen besseren Diener als einen, der seinen Meister liebt. Ich brauche ihn. Zumindest vorerst." Mit einem flehenden Blick ließ sie ihn allein.

Kemal hatte das Essen bereits im Wohnzimmer aufgebaut. „So ausgehungert, dass du gleich zwei Pizzen brauchst?"

„Nicht ganz", entgegnete sie betont gelassen und setzte sich in den Sessel. „Wie ist die allgemeine Stimmung?"

Kemal wischte ihre Frage beiseite und baute sich vor ihr auf. „Wo warst du? Wir haben nach dir gesucht, alle."

Böse starrte Ria ihn an. „Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig. Denk dran, dass ich jederzeit meine Meinung ändern und dir doch noch den Hals umdrehen kann."

„Warum dann Blakes Sachen?" Kemal ließ einfach nicht locker.

Verärgert sprang Ria auf. „Mein Privatleben geht dich einen Scheiß an."

„Ich will dir nur helfen."

Seine Gefühle strömten über sie hinweg, machten sie fast wahnsinnig. Sie hatte ganz vergessen, wie intensiv sie ihre eigene Art wahrnahm. Mit zusammengebissenen Zähnen massierte sie sich die Schläfen. „Danke für deinen Besuch. Du solltest jetzt besser gehen. Ich werde mich morgen mit Andreas in Verbindung setzen."

Widerstrebend trat Kemal einen Schritt zurück. „Bist du dir sicher?"

„Gibt es hier ein Problem?" Eleasar stand im Türrahmen und beäugte Kemal misstrauisch.

„Daher also Blakes Sachen."

Die Feindseligkeit, die er Eleasar entgegenbrachte, war nicht zu ertragen. „Lass stecken."

Kemal sah von ihr zu Eleasar und wieder zu ihr. „Bist du durchgebrannt?"

Ria starrte ihn an, als wolle sie ihm an die Gurgel, fing sich aber erstaunlich schnell. „Danke fürs Vorbeibringen der Sachen. Du gehst jetzt besser."

„Das ist nicht dein Ernst." Kemal weigerte sich standhaft, zu gehen.

„Hör zu." Ria lächelte ihn kalt an. „Du hast deinen Vater-Bonus bereits verspielt. Darf ich dich daran erinnern, dass du dich bis vor ein paar Jährchen überhaupt nicht für mich interessiert hast? Was hältst du davon, wenn du einfach zu diesem Status Quo zurückkehrst?"

Kemal zuckte zusammen, wollte aber noch immer nicht kleinbeigeben. „Du wirst so nicht glücklich."

Kompromisslos drehte Ria ihm die Arme auf dem Rücken. Wie Eis rollten ihr die Worte über die Lippen. „Denk dran, ich sehe dich nicht länger als Ziehvater. Du unterstehst mir. Verhalte dich dementsprechend. Sollest du bei unserem nächsten Treffen deinen Platz nicht kennen, sorge ich dafür, dass du dich daran erinnerst." Sie lockerte den Griff um seine Arme. „Und jetzt geh."

Der Araber rieb sich die schmerzenden Handgelenke. „Du bist stärker geworden."

„Vielleicht habe ich dich das letzte Mal nicht fest genug zusammengeschlagen", grollte sie.

Beschwichtigend hob er die Hände. „Soll ich irgendetwas tun?"

„GE-HEN." Sie betonte jede einzelne Silbe.

Endlich schien Kemal zu verstehen. Mit einem letzten ablehnenden Blick auf Eleasar verschwand er aus der Wohnung.

„Entschuldige." Müde deutete Ria auf das Essen. „Bevor es kalt wird."

Eleasar zog sie mit sich aufs Sofa, wo er sie fürsorglich an sich drückte. „Ist er immer so aufdringlich?"

Sie griff nach einem Stück Pizza. „Das letzte Mal habe ich ihn zusammengeschlagen. Das war, als er mir gestanden hat, dass er hinter dem Verrat am früheren Clanführer steckt."

Mit gerunzelter Stirn schnappte er sich ihr Pizzastück. „Besser, du gibst dich nicht allzu viel mit ihm ab."

Unverfroren grinste sie ihn an. „Eifersüchtig? Seit drei Jahren habe ich kaum Kontakt zu ihm. Hätte er mich in den letzten zwei Jahren angemacht, hätte Blake ihm den Kopf abgerissen. Seit ich meine Kräfte habe, kann ich selbst auf mich aufpassen."

Verwundert musterte er sie von der Seite. „Du bist mit deinen Kräften geboren."

Ria verputzte den letzten Rest ihrer und die Hälfte seiner Pizza, bevor sie antwortete. „Das weiß ich jetzt auch. Nach dem Zwischenfall in Wasserstadt sind viele Erinnerungen aus ihrer Versenkung aufgetaucht. Ich erinnere mich bruchstückhaft an meinen ersten Aufenthalt drüben. Ragna hat mir erzählt, dass ich dort geboren wurde. Und ich erinnere mich daran, dass meine Mutter und Ragna meine Kräfte quasi gebannt haben. Blake hat mir erzählt, es sei normal, dass geborene Jäger ihre Kräfte erst mit der Volljährigkeit erlangen. Selbstschutz oder so. Aber irgendwie passen diese Geschichten nicht zusammen. Warum hatte ich meine Kräfte dann von Anfang an? Vielleicht ist es ja der Unterschied zwischen den Welten." Zutraulich lehnte sie sich an ihn.

Automatisch legte er seinen Arm um sie. „Vielleicht. Wie alt bist du?"

Überrascht drehte sie ihren Kopf. „Warum fragst du?"

Schmunzelnd legte er seine Stirn an ihre. „Weil ich dich nicht einschätzen kann."

„Es gibt doch keine Altersbeschränkungen für Beziehungen oder?"

Er blinzelte sie erstaunt an. Dann lachte er belustigt auf. „Nein, ich bin nur neugierig."

Nachdenklich griff sie nach dem Telefon, um nach dem Datum zu sehen. Der neunte Januar. Sie hatte noch ein paar Tage, bis zu ihrem Geburtstag. „Zwanzig."

„Was machst du?"

Lächelnd legte sie das Telefon beiseite. „Nach dem Datum sehen. Stört es dich, wenn wir später einkaufen gehen?"

Aufmerksam musterte er ihre erschöpften Züge. Konnte er es verantworten, sie in diesem Zustand aus dem Haus zu lassen? „Ruh dich aus. Kilian ist kein leichter Gegner, du hast dir deine Pause verdient."

Die Wärme, die er ausströmte, machte sie schläfrig. Müde entschloss sie sich, darauf zu vertrauen, dass er auf sie Acht geben würde.

Schneller, als erwartet war sie eingeschlafen. Eleasar lauschte ihrem ruhigen Atem und dachte darüber nach, ob die Gefühle, die sie füreinander hegten es wert waren, dass sie ihr Leben dafür aufs Spiel setzte. Talisha hatte versprochen, sich um Kilian zu kümmern. Doch wie weit würde er sich von ihr beruhigen lassen? Ria war erstaunlicherweise dazu bereit, alles für ihn aufzugeben. Aber war er auch bereit, ihr Opfer anzunehmen? Gedankenverloren strich er über ihren weichen Arm. Als ihm die Nachricht überbracht wurde, sie würde sich mit Kilian duellieren, war er vom Schlimmsten ausgegangen. Es hatte sich schrecklich angefühlt, um sie zu bangen. Zwischenzeitlich war er sogar kurz davor gewesen, einzugreifen. Doch Ria hatte ihn überrascht. Als er dachte, sie würde verlieren, hatte sie ihren Geist gerufen und damit das Blatt zu ihren Gunsten gewendet. Eine beeindruckende Leistung für ihre zwanzig Jahre.

Tief durchatmend drückte er sie an sich. Sie war so zart und zerbrechlich. Der Jäger hatte gesagt, sie sei stärker geworden. Er konnte nur hoffen, dass es stimme. Schweren Herzens traf er seine Entscheidung.

Munteres Vogelgezwitscher weckte Ria. Müde blinzelte sie ins Sonnenlicht. Es dauerte einen Augenblick, bis sie sich erinnerte, weshalb sie wieder in ihrer Wohnung war.

„Elea?" Mit klopfendem Herzen lief sie ins Wohnzimmer. Es war leer. „Elea?" Er konnte sie doch nicht verlassen haben. Nicht, nachdem sie beschlossen hatte, ihm zu vertrauen. Doch weder in der Küche, noch im Bad traf sie auf ihn. Sie spürte ihn in ihrer Wohnung. Überall, wo er gewesen war. Doch er selbst war nicht mehr da. Seltsam leer sank sie auf dem Flur in sich zusammen. Warum war er verschwunden? Und das ohne Erklärung? Liebte er sie etwa doch nicht?

Als es an der Tür klopfte, sprang sie erwartungsvoll auf und rannte zur Tür. „Wo warst du?" Erst da fiel ihr auf, dass Aleix vor der Tür stand, nicht Eleasar. „Oh, komm rein." Enttäuscht ließ sie ihn ein.

Unschlüssig musterte er sie. „Wo warst du?" Nachdem er ihre unerwartete Begrüßung verwunden hatte, schloss er sie erleichtert in seine Arme. „Du bist unverletzt."

Ria erwiderte seine Umarmung. „Ja. Hat Kemal dich angerufen?"

Nickend unterzog er sie einer eindringlichen Musterung. „Geht es dir gut? Er klang sehr besorgt, meinte, du würdest dich mit einem Flüchtigen abgeben."

Entrüstet stapfte sie ins Wohnzimmer. „Wohl kaum." Plötzlich hielt sie inne. „Du hast doch nicht offiziell ermittelt?"

Er schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. „Ist deine Freundin auch wieder da?"

Zurückhaltend biss sie sich auf die Lippe. Es fiel ihr schwer auseinanderzuhalten, was in welche Welt gehörte. Schließlich war sie bis quasi eben noch fort gewesen. „Dort, wo sie ist, geht es ihr besser. Wenn du deine Arbeit gemacht hast, weißt du, dass ihr Vater Alkoholiker ist und ihre Mutter einsitzt." Und wo zur Hölle war bloß Eleasar? Hatte er ihr vielleicht eine Nachricht hinterlassen? Sie sollte danach suchen.

„Ria." Besänftigend legte er ihr einen Arm auf die Schulter. „Niemand will dir einen Vorwurf machen. Du warst vier Wochen weg. Viele haben sich Sorgen um dich gemacht."

Mit schlechtem Gewissen lehnte sie sich an ihn. Zeitgleich drängte ein anderer Teil in ihr darauf, endlich mit der Spurensuche zu beginnen. Dieser Idiot konnte nicht einfach verschwunden sein. Es kostete sie ihre ganze Selbstbeherrschung, sich auf Aleix zu konzentrieren. Niedergeschlagen erklärte sie: „Es war nicht leicht. Ich kann dir nicht sagen, wo ich war. So genau weiß ich es selbst nicht. Kannst du die Suche nach Adele nicht einfach einstellen? Sie kommt nicht wieder zurück." Dabei versuchte sie krampfhaft, nicht an denjenigen zu denken, der durch Abwesenheit glänzte.

„Du musst in dein Leben zurückkehren, egal wie schwer es scheinen mag." Tröstend drückte er sie an sich. „Setz dich, ich koch uns Kaffee." Er sagte das so leicht. Hatte der eine Ahnung.

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