Seelenschmerz
Ria schlief ganze drei Tage. Wann immer sie kurz aufwachte, brach sie sofort wieder in Tränen aus. Die zu Rate gezogene Psychologin konnte sich das nicht erklären und meinte, sie müsse tiefe seelische Wunden davongetragen haben.
Rastlos kritzelte Aleix auf seinem Notizblock herum. Es konnte keine gelöste Bindung sein. Nach Blakes Tod musste sie vor allem körperlich leiden. Was immer ihr nun die Seele zerriss, musste anderer Natur sein. „Ria, Süße. Was ist nur passiert? An deinen Erinnerungen kann es nicht liegen."
Mach kein Drama draus. Ungehalten beäugte Storm das schlafende Mädchen. Sie geht dir unter die Haut, das ist nicht gut. Was ist mit der hübschen Ärztin? Sie mag dich. Und du sie auch. Die ist eher deine Liga. Geh mit ihr aus.
Seufzend legte er seinen Stift beiseite. Nicht, solange ich auf sie Acht geben muss.
Plötzlich flog die Tür auf und die in seinem Kosmos am meisten verachtete Person trat ein. Sein besorgter Blick fiel auf Ria, die mit kalkweißem Gesicht und tiefen Ringen unter den Augen dalag. „Ist das dein Werk?" Seine Stimme klang unnatürlich kalt, als er seine Aufmerksamkeit Aleix zuwandte.
Der war fest entschlossen, sich von dessen unausgesprochener Drohung nicht unterkriegen zu lassen. „Wohl kaum. Mir liegt an ihr. Warum kümmert sich Marjans Sohn höchstpersönlich um eine unbedeutende Jägerin?"
„Ria!" Ein blondes Mädchen tauchte quasi aus dem Nichts auf, stürzte auf das Bett zu und ersparte Eleasar eine Antwort, die er ihm sowieso nicht gegeben hätte. „Ria, nein. Was ist passiert?" Anklagend sah sie zu Eleasar. „Ihr habt gesagt, sie sei hier in Sicherheit."
„Du bist Marlen." Überrascht musterte Aleix die feiner gewordenen Züge von Rias menschlicher Freundin.
„Adele", verbesserte sie ihn nachlässig und griff nach Rias lebloser Hand. „Macht doch was, bitte. Sie leidet."
Eine dritte Person trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Er hatte langes schwarzes Haar, ebenfalls feine Züge und eine Präsenz, die Aleix innerlich schaudern ließ. Wenn er eines nicht vermisste, dann die Gegenwart von Vampiren. Der Unbekannte legte eine feingliedrige Hand auf Adeles Schulter. „Liebste, wenn du so ein Theater machst, hört dich noch die ganze Station. Eleasar ist kein Arzt, er kann sie nicht heilen." Mit einem entschuldigenden Lächeln wandte er sich an Aleix. „Dieser Überfall war nicht geplant."
Das Menschenmädchen schnaubte abfällig. „Aram! Ihr könnt doch nicht erwarten, dass ich ruhig zuhause sitzen bleibe, während meine beste Freundin im Krankenhaus liegt. Was hat sie überhaupt?" Fragend sah sie zu Aleix. „Sie wissen das doch bestimmt."
Aleix schüttelte bloß den Kopf. Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. „Keiner weiß, was sie hat. Sie ist hier zusammengebrochen und schläft, weil die Beruhigungsmittel so stark sind."
Arams Blick wanderte zwischen der schlafenden Ria und seinem wie erstarrt dastehenden besten Freund hin und her. Erleichtert zog er sich einen Stuhl heran. Das ging ja schneller als er erwartet hatte. „Ich würde sagen, sie hat das gleiche, was Eleasars Laune in den letzten Tagen so vermiest hat."
Die Augen seiner Frau wurden groß. „Du meinst...?" Dann wandte sie sich an den Prinzen, die Wangen vor Zorn rot gefärbt. „Wie könnt Ihr sie nur alleine lassen? Kein Wunder, dass sie so fertig ist!" Fürsorglich strich sie Ria über den Arm. „Du bist nicht alleine, Ria, hörst du? Wir sind da. Wir sind alle da. Wenn Prinz Eleasar sich nicht so quer stellen würde, würde ich dich auf der Stelle mitnehmen."
„Sie kann nicht zurück." Eleasar wandte sich an Aram. Nur wer ihn wirklich gut kannte, konnte die Anzeichen in seinem Gesicht lesen. Er machte sich fürchterliche Vorwürfe. „Pass du auf sie auf."
Seine Reaktion überraschte Aleix. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie einer Meinung sein würden. Ria gehörte in diese Welt.
Wieder mischte sich Adele ein. Mahnend sah sie ihren Mann an. „Das tust du nicht. Du gehst zurück. Ich bleibe hier und habe ein Auge auf sie. Euch Männern kann man das anscheinend nicht überlassen."
Aram zögerte. Das Missfallen stand ihm nur allzu deutlich ins Gesicht geschrieben. „Du willst zu deinem Vater?"
Seine Frau zeigte ihm einen Vogel. „Ria hat eine Wohnung. Da gehe ich hin. Den Schlüssel wird sie ja wohl bei ihren Sachen haben." Bei genauerer Betrachtung fiel ihr auf, dass ihre Freundin bereits ihre eigene Kleidung trug. „Wie kommen denn ihre Sachen her? Das wird sie wohl kaum bei ihrer Einlieferung getragen haben."
„Frag den Jäger." Eleasars teilnahmsloser Ton war erschreckend kalt.
„Warum gehen wir nicht ein wenig spazieren und lassen Eleasar sehen, ob er ihr helfen kann?", schlug Aram betont entspannt vor. Sein Freund und dessen Frau benötigten dringend ein paar Augenblicke für sich selbst. „Du brauchst neue Kleider, wenn du hier bleiben willst, Liebling." So sehr es ihm auch widerstrebte, Adele in Rias Obhut zu lassen, erschien es ihm in dieser Situation als das Vernünftigste. Sobald sie wieder auf den Beinen war, war seine Frau bestens geschützt. Für sie war es allemal besser, als alleine in seiner Schlosswohnung zu sitzen und darauf zu warten, dass etwas geschah.
Widerstrebend ließ Adele Rias schlaffe Hand los. „Okay." Sie nahm die Hand, die er ihr hinhielt. „Sie auch", forderte sie Aleix entschieden auf.
Dem ging es entschieden gegen den Strich, Ria mit dieser Person alleine zu lassen. Mit einem letzten Blick auf seinen Schützling verließ er den Raum. „Sie müssen eine Aussage tätigen, jetzt, wo auch Sie wieder da sind."
Adele verdrehte genervt ihre Augen. „Vergessen Sie's. Ich bin nur hier, um meiner Freundin beizustehen."
Seufzend zog Aram sie zur Seite. Mit seiner Frau war gerade nicht zu reden. Für sie hatte es jetzt Priorität, für ihre Freundin da zu sein. „Aleix Conran. Es ist lange her. Sie sind also Rias Pate?"
Der Jäger nickte. „Und ihr Freund."
In Arams Lächeln versteckte sich das Wissen um Geheimnisse. „Sie wird nicht lange in dieser Welt verweilen."
Das hatte er bereits befürchtet. „Sie gehört nicht nach drüben. Ihr ganzes Leben hat sie hier verbracht."
„Sie wissen genauso gut wie ich, dass das nicht stimmt", mahnte Aram ihn im freundlichen Plauderton.
Unterdessen ließ Eleasar sich Krankenzimmer langsam aufs Bett sinken. „Seit ich weg bin?" Liebevoll strich er über ihre Stirn. Sie war schweißbedeckt. „Warum hast du mir denn nicht zugehört?" Beunruhigt betrachtete er ihre Seele. Es war unverkennbar, dass sie litt. „Ich bin bei dir. Für immer. Das habe ich dir doch versprochen." Immer wieder strich er ihr über den Arm, malte die Zeichen des Bandes nach, das sie nunmehr für den Rest ihrer Existenz aneinander band.
Stundenlang saß er einfach nur da und war bei ihr. An ihrem Seelenschmerz konnte er nichts ändern. Es war ein notwendiges Übel.
Als Adele und Aram zurückkehrten, saß er unverändert auf der Bettkante und hielt ihre Hand. „Habe ich's mir doch gedacht." Aram legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Seit wann?"
„Nach dem Kampf mit Kilian."
„Na, immerhin konntest du dank deiner Schwester nicht mehr davor weglaufen."
Vorsichtig setzte Adele sich auf die andere Bettkante. „Geht es ihr besser?"
Eleasar schenkte ihr ein geknicktes Lächeln. „Erzähl ihr bitte nicht, dass ich hier war. Es ist besser, wenn sie hier ohne mich lebt."
„Ihr spinnt." Stur reckte das blonde Mädchen ihr Kinn nach oben. „Sie ist meine Freundin."
Jedwede Sympathie für sie verschwand aus seinem Gesicht. „Und meine Frau. Damit entscheide ich was das Beste für sie ist."
Fassungslos starrte sie ihn an. „Ria hätte Euch dafür eine geknallt."
„Adele." Beschwichtigend zog Aram seine Frau vom Bett. „Lass ihn. Selbst wenn du es ihr nicht sagst, kann Rias Geist es tun. Ihr solltet euch nicht, wegen solch belangloser Dinge streiten."
Bevor er aufstand, drückte Eleasar ein letztes Mal Rias Hand. „Wir müssen zurück", verkündete er steif und sehnte ungeduldig das Ende der sich nun abspielenden herzzerreißenden Abschiedsszene zwischen den beiden Turteltauben herbei. Als Aram schließlich zu ihm trat, war er über die Maßen angespannt. „Du folterst nicht nur dich, sondern euch beide", teilte er ihm kopfschüttelnd mit.
Kommentarlos wandte er sich zum gehen.
.
Im Laufe der darauffolgenden Nacht wachte Ria auf. Es dauerte, bis ihre Augen sich an die Umgebung gewöhnt hatten. Nachdem sie alle Schatten zuordnen konnte, setzte sie sich langsam auf. Das hier war nicht ihre Wohnung. Konzentriert nahm sie ihre Umgebung in Augenschein. Adele lag schlafend auf ihrer Bettdecke, die blonden Haare über den Stoff verteilt. Wie war sie denn hergekommen? Ihr Blick glitt weiter und blieb an der Nadel in ihrem Arm hängen. Mit gerunzelter Stirn riss sie sich die Nadel aus dem Arm. Was sollte das? Und wo war sie?
„Adele." Vorsichtig stupste sie ihre Freundin an. „Hey, wach auf."
Ihre Freundin murmelte etwas im Schlaf, wachte aber nicht auf.
„Adele!"
Schockiert schreckte die junge Blondine hoch. „Ria? Oh mein Gott, du bist wach. Endlich!" Erleichtert fiel sie ihr um den Hals. „Wie geht es dir?"
Ein wenig röchelnd fischte sie Adele von ihrer Luftröhre. Dass sie sie immer gleich würgen musste. „Was machst du hier? Und wo bin ich? Das sieht nach der Menschenwelt aus." Ausladend deutete sie auf ihre Umgebung.
„Ist es auch. Aber bevor du mir irgendwelche weiteren Fragen stellst, musst du mir sagen, wie es dir geht. Und auch, warum du zusammengebrochen bist." Sie griff nach Rias Hand und starrte sie flehend an.
Es wunderte sie zwar, doch war sie viel zu neugierig auf Adeles Antworten. „Ich... mir geht es gut." Ihr ging es tatsächlich gut. So langsam kehrten ihre Erinnerungen zurück. Elea hatte sie nach dem Kampf mit Kilian hergebracht. Sie hatten geheiratet und dann... Seine Abwesenheit fühlte sich zum Glück nicht mehr ganz so schmerzhaft an. Es riss ihr immer noch fast das Herz heraus, aber eben nur fast. „Und was deine andere Frage angeht, ich bin wohl nicht damit fertig geworden, von Knall auf Fall hier alleine zu sein."
Adeles Augen wurden schmal. „Wo ist es?"
Überrascht hob sie ihre Augenbrauen. „Was?"
„Jetzt tu nicht so ahnungslos. Eleasar hat es auch nicht abgestritten. Also, wo ist dein Zeichen?"
Ria erstarrte. Adele war ihre Freundin, doch war das eine Sache, die sie eine Weile für sich hatte behalten wollen. Da konnte sie wohl nichts machen. Resignierend deutete sie auf ihren Arm. „Oberarm. Wann hat er es euch erzählt?" Ihre Stimme klang unbeabsichtigt scharf und sie rechnete es Adele hoch an, dass sie es ihr nicht übel nahm.
„Gar nicht. Hör mal, du warst vier Tage so fertig, dass die dich immer wieder in den Schlaf versetzt haben. Dein Drache ist zu uns gekommen und hat Eleasar gesucht. Kaum hat der Wind von der Sache bekommen, ist er hergekommen. Aram hat ihn nur an deinem Bett sitzen gesehen und es gewusst."
Augenblicklich sprang Ria aus dem Bett. Er war hier? Na, der konnte sich auf etwas gefasst machen! Auf wackeligen Beinen stakste sie zur Tür. „Wo ist er? Der verdient eine Abreibung, die sich gewaschen hat."
„Nein, Ria. Bleib hier." Hektisch rannte Adele zu ihr. „Leg dich wieder hin. Er ist nicht mehr hier. Er ist zurück gegangen. Aram hat ein Auge auf ihn. Ich bin hier geblieben, damit du mit der ganzen Situation nicht alleine bist."
Wortlos ließ Ria sich zurück zum Bett drängen. Wie benommen starrte sie auf die Decke, bevor sie anfing, wie wild darauf einzuschlagen. „Elea, du Blödmann. Komm zurück. Komm... zurück. Komm.... zu...rück." Weinend sank sie an Adeles Schulter zusammen. „Warum lässt er mich hier zurück?"
Ihre sonst so starke Freundin dermaßen am Boden zu sehen, war grausam und kaum zu ertragen. Adele zog sie eng an sich und strich ihr liebevoll übers Haar. Sie würde sie nicht alleine lassen und für sie da sein. „Aram hat mir versprochen, in einer Woche wieder zu kommen. Dann erfahren wir Neues. Bis dahin müssen wir uns alleine durchschlagen."
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