Ria

Seufzend ließ Adele sich breitschlagen. Sie wollte Rias Vertrauen nicht missbrauchen, aber sie machte sich solche Sorgen um sie. Kurz entschlossen löste sie sich von ihrem Mann und ging ins Schlafzimmer. Dort räumte sie eine Seite des Kleiderschranks komplett aus und drückte anschließend an zwei bestimmten Stellen gegen die Holzverkleidung. Mit einem kaum hörbaren Klacken schwang die Verkleidung auf und gab den Blick auf eine große Stahltür frei. Finger-, Stimmen- und Retinascan ließ Adele über sich ergehen, bevor sich das Feld für die Zahlenkombination öffnete. Mit zitternden Fingern drückte sie die einzelnen Ziffern. Nachdem sie die letzte Taste gedrückt hatte, ertönten kurz hintereinander zwei tiefe, dann ein hoher Ton. Das Schloss war entriegelt.

Den beiden Männern vorweg trat sie in den Tresorraum, der in etwa drei Meter in jede Richtung maß. An den Wänden waren viele Regalreihen angebracht. Ohne die ganzen wertvollen Sachen zu bewundern, ging sie zielstrebig auf die mit elektronischem Schloss gesicherten Aktenfächer zu.

Eleasar staunte nicht schlecht. Die Regalreihen waren voll mit Kisten, die unterschiedlich beschriftet waren. Sicherheitsmaßnahme über Sicherheitsmaßnahme, dachte er verwundert. Das passte zu dem Mädchen, das er im Wald kennengelernt hatte. Damals hatte sie anderen gegenüber ein so tiefes Misstrauen empfunden, dass es fast schon schmerzhaft gewesen war. Kein Wunder also, dass alle Kisten noch mal mit einem Schloss versiegelt waren. Etwas in der Ecke erregte seine Aufmerksamkeit. Es waren zwei große Pappkartons - die einzigen nicht noch einmal gesicherten Sachen in diesem Raum.

„Ich wusste gar nicht, dass sie eine Schatzkammer in ihrem Kleiderschrank hat", fasste Aram sein Erstaunen in Worte.

„Genau genommen dahinter", murmelte Adele und machte sich an einer der Kisten zu schaffen.

Unterdessen ging er zu den Kisten und zog sie unter dem Regal, unter dem sie standen, hervor.

„Ich denke nicht, dass sie möchte, dass irgendjemand das sieht", warf Adele besorgt von hinten ein.

„Ich bin ihr Mann", erklärte er und trug die Kiste aus dem Raum. Im Schlafzimmer angekommen befreite er den Karton vom Staub. Er staunte nicht schlecht, als er das Datum auf der Kiste sah.

„Das war vor dreizehn Jahren." Aram hatte seinem Cousin über die Schulter geguckt und staunte ebenfalls nicht schlecht.

Vor dreizehn Jahren? Da musste Ria in etwa sieben gewesen sein. Vielleicht auch acht. Wenn die Dinge so alt waren, mussten es Erinnerungen sein. Vorsichtig öffnete er die Kiste. Er fand ein paar Kleider. Drei an der Zahl. Sie wirkten alt und verströmten bereits den leicht muffigen Geruch von Kleidungsstücken, die zu lange eingepackt waren. Die Person, der die Kleider gehört hatten, musste in etwa Rias Figur gehabt haben. Andächtig legte er die Kleider beiseite. Darunter befanden sich ein paar Puppen und Kinderbilder. Alle von Ria gemalt, wie eine fein säuberliche Handschrift auf der Rückseite verkündete. Einige zeigten Drachen, andere einen Strand, ein Haus oder gar ein Schiff. Er wollte die Blätter gerade zur Seite legen, da flatterte ein Bild zu Boden. Eine Fotografie. Neugierig nahm er das Bild hoch. Es zeigte eine kleine Familie. Ein stattlicher, rothaariger Mann mit Rias Augen hielt eine zierliche, schwarzhaarige Frau in den Armen, die Ria erschreckend ähnlich war. Nur die dunkelbraunen Augen waren anders. Auf den Armen der Frau thronte ein kleines ebenfalls schwarzhaariges Mädchen und lachte in die Kamera. Es war eines dieser bezaubernden Zahnlückenlachen, die nur Kinder zustande bringen konnten.

Eleasar wurde das Herz schwer. Das hier waren Erinnerungen an ihre Eltern. Dass sie auf dem Bild schon ihre ersten Zähnchen verloren hatte musste bedeuten, dass diese Aufnahme kurz vor dem Tod ihrer Eltern gemacht worden war. Kein Wunder, dass sie sie wegsperrte.

Achtsam packte er die Gegenstände wieder zurück. Das waren Erinnerungen, die Ria zwar aufbewahrte, aber offenkundig seit Jahren nicht mehr angerührt hatte. Er wollte keine unliebsamen Erinnerungen heraufbeschwören, indem er sie auf die soeben gefundenen Dinge ansprach. Es war schon überraschend, dass sie in dem Haus so gelöst gewesen war und ihre schönen Erinnerungen mit ihm geteilt hatte.

Nachdem die Kiste wieder ordentlich verstaut war, beobachtete er Adele dabei, wie sie mit Arams Hilfe die Liste der Häuser sichtete. Zwei Minuten später gab sie es auf. „Ich habe keine Ahnung. Die einzigen Häuser hier in der Umgebung waren gestern nicht verlassen." Niedergeschlagen lehnte sie sich an ihren Mann. „Wir werden Ria nicht finden, oder?" Sorge trübte ihr Gesicht und ließ sie älter aussehen als sie eigentlich war.

Nicht minder besorgt tastete er nach dem Band, das ihn mit seiner Frau verband. Noch immer blockte sie ihn ab. Frustriert ließ er sich in einen der Wohnzimmersessel sinken. Jetzt hieß es abwarten. Die beiden anderen versetzten das Schlafzimmer wieder in seinen ursprünglichen Zustand, bevor sie ihm Gesellschaft leisteten. Die Sekunden flossen zäh dahin, wurden zu Minuten, die recht schnell Stunden glichen.

Plötzlich sah Aram auf. Eleasar nahm das als Zeichen, dass Ria endlich wieder zurück kam und stürmte zur Tür. Unten auf der Straße kam ihm seine Frau entgegen. In den Armen hielt sie eine kläglich maunzende Katze. Er wusste nicht recht, wie er reagieren sollte. Sollte er sie in den Arm schließen, weil er sich freute, sie wohlbehalten wieder zu sehen oder ihr einen Vortrag halten, weil sie einfach so abgehauen war und sich unnötig in Gefahr gebracht hatte?

Sie nahm ihm die Entscheidung ab. Kaum hatte sie ihn erblickt, fiel die Barriere, die sie errichtet hatte, um ihn auszuschließen. In ihren Augen und Emotionen spiegelte sich die Reue, die sie empfand, weil sie ihm solche Sorgen bereitet hatte. Wortlos begleitete er sie nach oben, sie keine Sekunde aus den Augen lassend. Dort wartete er, bis sie das Tier und eine Tasche, die sie sich über die Schulter geworfen hatte, abgesetzt hatte, ehe er sie in seine Arme zog.

„Tu das nie wieder", beschwor er sie, das Gesicht in ihren Haaren vergraben. Tief sog er ihren unvergleichlichen Duft ein. Ihr ging es gut. Sie war wohlbehalten wieder in seinen Armen.

Zuerst spannte sie sich an, weil sie mit einer Standpauke rechnete. Als sie bemerkte, dass diese nicht kam, entspannte sie sich langsam und ließ zu, dass er sie an sich drückte. „Ich musste Cora retten." Bei der Erinnerung an die Täter verflog ihre Entspannung. Wütend ballte sie ihre Hände zu Fäusten. „Niemand vergreift sich an meiner Katze."

Eleasar konnte nur knapp ein Kopfschütteln unterdrücken. Sie würde es so schnell wohl nicht einsehen. „Wir hätten dir helfen können."

„Du hast mich ausgeknockt." Tadelnd funkelte sie ihn an. „Das war alles andere als nett."

Sanft strich er ihr Haar beiseite, sodass er ihr zu flüstern konnte: „Ich wollte nicht, dass du dich in Gefahr begibst. Du bist nicht mehr alleine mit deinen Problemen, versteh das doch bitte."

Seine ängstlich-besorgte Verzweiflung berührte sie zutiefst. Wie sollte sie damit umgehen? Niemand hatte sie bislang so geliebt. Was sollte sie tun? Hoffnungslos überfordert wollte sie sich zu Boden sinken lassen, wurde jedoch von ihm aufgefangen.

Vorsichtig hob Eleasar sie hoch. Die nächsten Jahre würden turbulent werden. Sie war noch so jung und musste sich an so viele neue Umstände gewöhnen. Es war nicht schwer zu erraten, dass sie nicht daran gedacht hatte, er könne sich um sie sorgen. Für sie war klar gewesen, dass sie ihre Katze retten musste und er war im Weg gewesen. Dieses Denken musste ein Ende finden. Unbedingt.

Aram erschien in der Wohnzimmertür und erfasste die Situation augenblicklich. „Wir kommen später wieder", schlug er vor und schickte sich an, Adele zu erklären, dass es Ria gut ging und sie nun Ruhe brauchte.

Adele beharrte jedoch darauf, gleich mit ihrer Freundin zu sprechen. Wenig begeistert setzte Eleasar seine Frau ab und geleitete sie, sie noch immer eng an sich drückend, in den Wohnraum.

„Wo warst du?", begann die Blonde sofort im vorwurfsvollen Ton.

Ria zuckte mit den Schultern. „Janine und ihre Freunde meinten, es sei lustig, bei mir einzubrechen und ein paar Dinge mitzunehmen." Sie sagte das so ruhig und sachlich, dass Adele erschrocken zusammenzuckte.

„Du hast sie doch nicht umgebracht?", fragte sie atemlos.

Ria schnaubte abfällig. „Nein." Dann hätte sie zu viel Ärger am Hals. Immerhin war bekannt, dass sie sich nicht ausstehen konnten. „Ich habe ihnen nur klar gemacht, dass sie sich von uns fern zu halten haben. Und sie dafür zahlen lassen, dass sie Cora eingesperrt haben", fügte sie finster hinzu. Ihre geliebte Katze in eine Schüssel gesperrt zu sehen, kaum mit Luft versorgt, hatte sie beinahe durchdrehen lassen. Ragna hatte sie im letzten Augenblick zurückgehalten, ihnen doch den Hals umzudrehen. Anschließend hatte sie die wenigen Spuren von Coras Aufenthalt dort beseitigt und war zurückgekehrt.

Eleasar und Aram tauschten lange Blicke. Dann sagte der Vampir ruhig: „Ich denke, das ist angemessen."

Fragend sah Adele zu ihm auf. „Dass Ria sie anderen zusammengeschlagen hat?" Verständnislos schüttelte sie ihren Kopf. „So klärt man Dinge nicht."

„Sie haben es darauf angelegt", verteidigte Ria sich. Wenn sie schon nicht im Guten auf sie hören wollten, mussten sie eben Fühlen.

Beruhigend strich Eleasar ihr durchs Haar. Ria sollte nicht dicht machen. Sie sollte sich jetzt auch nicht den Vorwürfen ihrer Freundin ausgesetzt sehen.

„Übertreib es nicht", mahnte Aram, der den sich verdüsternden Blick seines Freundes bemerkt hatte. Wenn es um Ria ging, tendierte der zu Überreaktionen. „Wir machen das wie abgesprochen."

„Abgesprochen?", fragte seine Frau irritiert. „Wann habt ihr denn bitte was abgesprochen?"

Aram legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Wir reden später, Liebes. Für heute sollten wir die beiden alleine lassen. Morgen früh kommen wir her." Wenn sie alleine waren, würde er sie über ihr geplantes Vorgehen informieren. Nach dieser Geschichte wollte Eleasar Ria nicht unwesentlich länger hier halten als unbedingt nötig. Ihm war es nur recht, wenn er Adele endlich wieder mit zu sich nach Hause nehmen konnte. Aber seine Frau würde nicht ohne Ria gehen wollen.

Widerstrebend ließ Adele sich davon überzeugen, die beiden zu verlassen.

Kaum waren Aram und Adele zur Haustür raus, schnappte Eleasar sich seine Frau und warf sie aufs Bett. Dort nahm er sie in seine Arme und hielt sie einfach nur fest.

Irritiert harrte Ria neben ihm aus. Noch nie zuvor - abgesehen von ihren Eltern - hatte jemand sie im Arm gehalten, ohne mehr von ihr zu wollen. Tränen brannten in ihren Augen und ein großer Kloß bildete sich in ihrem Hals. „Du überforderst mich", flüsterte sie erstickt.

Behutsam strich er ihr übers Haar. Sie musste lernen damit zurecht zu kommen, wie er mit ihr umging. Sie musste akzeptieren, dass er sie liebte und sie nicht gehen lassen würde. Niemals. Und vor allem musste sie lernen, dass ihre Abwehrmechanismen bei ihm nicht funktionierten. Dafür ging das, was sie miteinander verband viel zu tief. Sie gehörte ihm, mit Leib und Seele. Ebenso, wie er ihr gehörte. Und er hatte nicht vor, auf einen Teil ihres Wesens zu verzichten.

Etwas Nasses berührte seine Hand. Es waren Tränen. Wie schon in der Nacht zuvor weinte sie stumm vor sich hin. Behutsam zog er sie noch ein Stück enger an sich und ließ sie weinen. Unterdessen dachte er darüber nach, wie sehr sie sich verändert hatte. Schenkte er den Berichten der anderen über sie Glauben, war sie vorher eher kompromisslos und kalt gewesen. Doch wie passte dann ihre Freundschaft zu Adele ins Bild? Ria hatte das Mädchen beschützt. Hatte sie sie an sie selbst erinnert? Das erklärte, warum sie die andere in ihrer Nähe geduldet hatte. Der blonden Frau seines Cousins musste es irgendwie gelungen sein, ihre Abwehrschilde zu umgehen. Denn als nichts anderes erschien ihm dieses kalte und grausame Verhalten, das sie zeitweilig an den Tag legte. Und war da die Gefangenschaft bei seinem Vater, inklusive der Nahtoderfahrung. Während ihrer Reise durch den Wald war sie größtenteils noch zu geschwächt gewesen, um ihre Abwehr aufrecht zu erhalten. Deshalb war sie ihm zugänglicher erschienen. Oder war das generell ein Wendepunkt? Nein, entschied er, sie würde immer noch ohne Gewissensbisse morden. Das hatte der Zwischenfall in Wasserstadt gezeigt. Und die Zeit danach... Verwirrt unterbrach er seinen Gedankengang. Hatte sie sich wirklich verändert? Oder war es nur sein Blickwinkel auf sie, der sich geändert hatte? Aber Aram war der gleichen Meinung. Sie musste sich also verändert haben, irgendwie weicher geworden sein. Er dachte an die wenigen ungestörten Momente, die sie bislang miteinander verbracht hatten. Sie hatte sich ihm definitiv geöffnet und anvertraut. Damals hatte er ihre Einsamkeit und Angst vor erneuten Verletzungen deutlich gespürt. Sie hasste es alleine zu sein und sich niemandem anvertrauen zu können, dessen war er sich sicher. Und genau das würde jetzt ein Ende haben.

„Mich wirst du bis an dein Lebensende nicht mehr los." Morgen würde sie Gelegenheit haben, sich von allen zu verabschieden. Danach würde ihr neues Leben beginnen. Bei ihm, an seiner Seite.

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