Ratespaß

Ria musste schwer schlucken. Es war eine Backpfeife gewesen, aber eine, die sie vermutlich gebraucht hatte. Sie benahm sich wie ein verwöhntes Kind. „Was muss ich lernen?"

Angesichts ihrer Einwilligung fiel ihm ein Stein vom Herzen. Erleichtert verwickelte er sie in einen gefühlvollen Kuss. „Das ist wirklich nicht einfach. Normalerweise solltest du noch nicht einmal in der Lage sein, gedanklich mit mir in Kontakt zu treten. Ich bin stolz auf dich." Mit dem Zeigefinger zeichnete er sacht die Konturen ihrer Lippen nach. „Ich werde versuchen, dich nicht rauszuwerfen, aber garantieren kann ich es leider nicht. Ich bin seit so vielen Jahren alleine in meinem Kopf." Entschuldigend lächelte er sie an. „Du musst versuchen, auf mein Wissen zurückzugreifen. Damit wärst du in der Lage, die hiesige Sprache zu verstehen, ohne sie selbst zu beherrschen."

Sie bemühte sich wirklich, ihm nicht den Vogel zu zeigen. „Das mit der Kommunikation ist gebongt. Aber wie in Dreiteufelsnamen soll ich auf dein Wissen zugreifen können?"

„Versuchen wir's." Aufmunternd strich er ihr über die Wange. „Schließ die Augen."

Ria tat, wie ihr geheißen. Unruhig rutschte sie auf ihren Beinen hin und her. Sie wollte die Augen gerade wieder öffnen, da spürte sie seine Gegenwart. Er war bei ihr, gab ihr Halt. Es fühlte sich an, als reiche er ihr die Hand, um sie dann auf unbekanntes Terrain zu führen. Plötzlich schien sie auf einem endlosen See zu stehen. Das Komische an dem Wasser unter ihren Füßen war, dass sie sich nicht darin spiegelte. Es kräuselte sich auch nicht, als sie sich bückte und mit der Hand hindurch strich. Stattdessen öffnete sich eine Flut von Bildern.

„Nein." Auf einmal erschien Eleasar neben ihr. Er hielt ihre Hand fest, mit der sie nach einem dieser Bilder gegriffen hatte. „Du bist nicht hier, um meine Erinnerungen zu sehen."

Seine Erscheinung jagte ihr eine Heidenangst ein. Hier spürte sie seine Macht, spürte, dass er sich in ihrer Gegenwart immer zurücknahm, um sie nicht versehentlich zu verletzen. Sie spürte so vieles...

„Ria. Ria, komm zu dir." Sie spürte seine Hand an ihrer Wange und den Arm, mit dem er ihren Nacken stütze. Sie wollte ihm Antworten, war jedoch zu gefangen.

„Ria." Dieses Mal sprach er in Gedanken zu ihr. Langsam ebbten die auf sie einstürzenden Wellen ab. Zurück blieb das tröstende Gefühl seiner Anwesenheit.

Blinzelnd setzte sie sich auf. „Was war das?"

„Das wollte ich dich gerade fragen." Besorgt berührte er ihre Schläfe. Er musste einfach sichergehen, dass es ihr gut ging. Erleichtert lehnte er seine Stirn an ihre. „Es ist nichts passiert."

Zerstreut drückte sie seine Hand. „Ich glaube, es war mein Fehler."

Beruhigt drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie klang noch immer irgendwie überwältigt. „Wie meinst du das?"

Tief durchatmend schloss sie ihre Augen. Als sie sie wieder öffnete, leuchteten sie in einem intensiven Orange. „Ich weiß, dass die Emotionen, die ich wahrnehme, wenn ich Wesen oder Menschen begegne, quasi gefiltert sind. Ich spüre immer nur einen Teil. Du warst neben mir. Ich wollte dich ansehen, aber stattdessen habe ich... ich habe alle meine Sinne benutzt und ... Ich kann einfach nicht für zwei Personen fühlen. Schon gar nicht, wenn du alles unterdrückst."

Entschuldigend zog er sie an sich. „Damit habe ich nicht gerechnet. Vielleicht zeigst du mir bei Gelegenheit einmal, wie du die Welt siehst. Dann kann ich mir ein Bild machen und versuchen, es dir leichter zu gestalten."

Überraschung malte sich auf ihren Zügen ab. „Weißt du denn nicht, wie Jäger die Welt sehen?"

„Du bist keine Jägerin", eröffnete er ihr seufzend. Er hasste es, ihre Welt auf den Kopf stellen zu müssen. Am liebsten hätte er es ihr gar nicht gesagt. „Sondern eine Schattenseele."

Es war offensichtlich, dass sie ihm nicht glaubte. „Ach, und was soll das bitte sein?" Purer Unglaube sprach ihn aus ihren hellen Augen an.

Er entließ sie aus seinen Armen. „Schattenseelen sind eng mit den Jägern verwandt", begann er ein wenig ausschweifend. „Vor vielen Jahren wurde ihre Anzahl so stark dezimiert, dass sie in die Menschenwelt flüchteten. Anders als beispielsweise bei den Vampiren konnte deine Art sich dadurch nicht helfen, sich mit Menschen zu vermischen. Die hier bekannte Version ist, dass sie angefangen haben, Menschen zu wandeln. In der Hoffnung, eines Tages eine Möglichkeit zu finden, das Überleben ihrer Art zu sichern. Doch die Menschen konnten keine Geisterverträge schließen. Deine Jäger sind Geschaffene, die dir zwar ähneln, aber niemals das Ausmaß deiner Fähigkeiten und deines Alters erreichen werden. Ich nehme an, im Laufe der Zeit ist die korrekte Bezeichnung wohl in Vergessenheit geraten oder sie wurde absichtlich verschwiegen."

Auch wenn sie an seinen Worten zweifelte, spürte sie tief in ihrem Inneren, dass er die Wahrheit sprach. „Der Unterschied ist schon noch bekannt", begann sie zögerlich. „Zumindest haben Blake und Aleix immer peinlich genau darauf geachtet, zwischen geborenen und geschaffenen Jägern zu unterscheiden. Beide haben mir immer wieder eingeredet, niemals zuzugeben, dass ich Ragna habe und mich nicht zusätzlich von Blut ernähren muss." Ihr schauderte bei der Erinnerung daran, wie Kemal gemeinsam mit Gian und Andreas versucht hatte, sie zum Bluttrinken zu bewegen. „Aber warum Schattenseele?"

„Liebes?"

Fragend sah sie Eleasar an, der sie seinerseits besorgt musterte. „Ja?"

Mit gerunzelter Stirn legte er eine Hand in ihren Nacken. Sie wirkte auf einmal so niedergeschlagen und verzagt, dass er glaubte, eine vollkommen andere Person vor sich sitzen zu haben. „Alles in Ordnung mit dir?"

„Ich hätte in Brasilien bleiben und Amazone werden sollen", flüsterte sie mutlos und lehnte sich bedrückt an ihn. „Dann wäre mir das alles erspart geblieben."

Beruhigt zog er sie mit sich vom Bett. Es war einfach nur ein wenig viel für sie. Nichts, was nicht wieder geklärt werden konnte. „Gehen wir duschen. Das bringt dich hoffentlich auf andere Gedanken."

Vor der Dusche setzte er sie wieder ab. Da sie keinerlei Anstalten machte, sich zu bewegen, zog er sie einfach unter die Dusche. Sofort ergoss sich das Wasser aus den verschiedenen Brausen und hüllte sie in einen feinen Regen. Sein Vorhaben funktionierte - schnell erwachten ihre Lebensgeister aus ihrer Starre. „Hey, was soll das? Da denkt man einmal ein wenig nach und dann sowas!" Ungehalten trommelte sie auf seine Brust. „Stell doch endlich das verfluchte Wasser ab""

Das Wasser stoppte. Grinsend zog er sie aus dem Duschbereich. „Sag bloß, du hast vorhin nicht herausgefunden, wie du das Wasser anstellst."

Eingeschnappt starrte sie ihn an. „Also, was sollte das?"

„Hier", er hielt eine Hand vor eine leicht schimmernde Stelle. Augenblicklich begann das Wasser zu fließen. „Das ist eine Art Kontrollfeld. Die Temperatur steuerst du durch deine Gedanken. Und was deine Frage angeht, du warst so unbeteiligt, dass ich mich um dich gesorgt habe."

Nachdenklich sah sie ihn an. „Weißt du, ich habe in den letzten zwei Jahren einiges zu hören bekommen. Bei Blake konnte ich mir nie sicher sein, ob seine Informationen gestimmt haben oder er mir nur das erzählt hat, was ihm gerade in den Kram passte. Aleix war der einzige, der mir wirklich erklären wollte, was ich wissen musste, um nicht vollkommen durchzudrehen. Ich weiß noch immer nicht alles, was ich wissen sollte. Klar, dass dein Vater mich entführt hat, war ein richtiger Kulturschock, aber eigentlich ist mir dadurch erst klar geworden, dass ich vermutlich nie alles wissen werde." Kopfschüttelnd raufte sie sich die Haare. „Okay, Kulturschock trifft es vermutlich nicht ganz. Worauf ich hinaus will, ist eigentlich Folgendes: ob das jetzt Schattenseele oder geborene Jägerin heißt, was ist da der Unterschied? Das ändert nichts an meinen Fähigkeiten oder? Letztendlich ist es doch auch nur ein Etikett."

Eleasar nickte schwach. „Das ist eine durchaus sinnvolle Sicht der Dinge. Soll ich dir aus deinem Kleid helfen?" Verhalten grinsend deutete auf die Bänder in ihrem Rücken.

„Fall mich ja nicht von hinten an", mahnte sie ihn belustigt. Innerlich kribbelte alles in ihr. Ihm so nahe zu sein, war wirklich nicht gut für sie.

Er bemerkte ihre Unruhe und deutete sie richtig. Deshalb ließ er sich jede Menge Zeit und neckte sie immer wieder, während er den nassen Stoff langsam von ihrem Körper schob. „Schattenseelen", beantwortete er unterdessen die Frage, die ihr im Kopf herum spukte, „werden so genannt, weil der an die Seele gebundene Geist sie wie ein Schatten oder dichter Nebel umgibt. Wann immer ich mir deine Seele ansehe, sehe ich Ragnaröks Schatten, der sie wie ein schützendes Schild umgibt."

Als sie das Kleid endlich losgeworden war, sprang sie ungeduldig unter die Dusche. Diese Nähe war eigenartig. Sie musste erst lernen, damit umzugehen. „Jetzt komm, ich hab Hunger."

Der Themenwechsel verwunderte ihn mehr als ihre vorherigen Reaktionen. Schulterzuckend entledigte er sich seiner nassen Kleider und trat zu ihr unter den lauwarmen Duschregen. „Keine weiteren Fragen zu dem Thema?"

Sie hatte ihre Augen vor dem Wasser geschlossen und genoss das Gefühl der über ihre Haut perlenden Tropfen. „Nicht nötig. Ich erinnere mich seit diesem Totenheini-Vorfall an den Vertragsabschluss mit Ragna. Ich bin vielleicht nicht steinalt, aber auch ich kann eins und eins zusammenzählen." Abrupt hielt sie inne. „Wie alt bist du eigentlich?"

Ria war ihm ein Rätsel. Zuerst war sie ziemlich durcheinander, dann auf einmal gefasst und vernünftig, nur um sich jetzt wie ein aufgedrehtes Mädchen zu benehmen. Ihre fröhliche, quirlige Stimmung zog er den anderen bei weitem vor. In seinen Augen passte diese ausgezeichnet zu ihr.

Lächelnd fasste er sie an den Hüften. „Rate", raunte er ihr gut gelaunt ins Ohr. Dabei registrierte er zufrieden das Schaudern, das sie überkam.

Nachdenklich legte sie ihre Hände auf seine Schulter. „Zweihundertsiebenunddreißig."

„Falsch." Fasziniert jagte er mit seinem Finger einem Wassertropfen hinterher, der ihr übers Schlüsselbein rann. „Versuchs nochmal."

„Dreihundertvierundzwanzig?"

Er küsste sie auf die empfindliche Stelle in ihrem Nacken. „Nein."

„Elea", rügte sie ihn heiser. „Wie soll ich mir denn da Zahlen ausdenken?"

„Einen Versuch hast du noch", murmelte er, während er leicht an ihrem Hals knabberte.

Es fiel ihr schwer, alle Sinne beieinander zu halten. „Vierhundertachtundneunzig."

Endlich ließ er von ihr ab. „Du machst mich ja immer älter", beschwerte er sich. Sie konnte schwer sagen, ob er darüber beleidigt oder eher belustigt war. Sein Ton gab nicht sonderlich viel her.

„Dann sag mir doch einfach wie alt du bist." Kopfschüttelnd griff sie nach dem Shampoo. Sie musste sich dringend auf andere Gedanken bringen, da kam ihr die Routine des Duschens gerade recht.

„Hundertsechsundachtzig." Mit hochgezogenen Augenbrauen nahm er ihr die Flasche aus der Hand. „Sehe ich wirklich so alt aus?"

„Du hast da schon ein graues Haar." Zwinkernd massierte sie sich das Shampoo ins Haar. Er war wesentlich jünger als sie gedacht hatte. Ihr war klar, dass sie ihre Überraschung dank ihrer Verbindung nicht wirklich vor ihm geheim halten konnte, doch sie vertraute darauf, dass er nicht jede Sekunde in ihr las wie in einem offenen Buch. Davon abgesehen würde es auf Dauer ziemlich langweilig werden, wenn er immer wüsste, wann sie versuchte, ihn aufzuziehen.

Eleasar wartete, bis sie sich das Shampoo aus den Haaren gewaschen hatte, bevor er sie erneut an sich zog und ihr munter verkündete: „Das ist alles deine Schuld."

Ria gab sich nicht einmal die Mühe, die Bereuende zu spielen. „Überaus tragisch."

„Was mache ich da bloß mit dir?"

Selbst wenn sie es gewollt hätte, der magischen Anziehungskraft seiner unglaublich tiefen blauen Augen konnte sie sich einfach nicht entziehen.


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