Menschlichkeit in einer fremden Welt

Wasserstadt war eine Stadt, die am Ufer eines Sees gebaut worden war und doch gänzlich auf dem Wasser schwamm. „Schwere Ketten vertäuen die Stadt am Seegrund", erklärte Eleasar, während sie über einen schwankenden Steg in die Stadt gingen. „Je nach Jahreszeit ankert die Stadt an einem anderen Ufer des Sees."

Mit großen Augen betrachtete Ria die ruhig daliegenden Häuser. Der Baustil erinnerte grob an Fachwerk. Aber war es nicht unsinnig, Holzhäuser auf Wasser zu bauen? Vielleicht war es ja irgendein andersweltsches Material, das nicht vom Wasser angegriffen wurde. Momentan drängte sich jedoch eine andere Frage in den Vordergrund. „Ist es hier bei Sturm nicht gefährlich?"

Seine klaren blauen Augen musterten sie abschätzend, bevor er auf den Waldrand am Ufer des Sees verwies. Ein Sommerwald. „Wir sind hier immer noch in der zeitlosen Zone. Dies ist der einzige Ort, an dem Menschen geduldet sind. Allerdings auch nur, um Handel zu treiben."

Diese Tatsache stimmte Ria traurig. „Dann wird Adele diesen Ort niemals zu Gesicht bekommen?" Niedergeschlagen ruhte ihr Blick auf dem verletzten Fuchs. Was war das bloß für eine Welt? Wobei... Die Menschen waren auch nicht besser. Nur war man dort stellenweise zumindest halbherzig darum bemüht, derartige Barrieren abzubauen.

Seine feingliedrige Hand tauchte in ihrem Blickfeld auf. „Gib mir den Fuchsgeist. Es ist besser, du ziehst nicht allzu viel Aufmerksamkeit auf dich."

Widerstrebend legte sie das Tier in seine Arme. „Mach's gut, kleiner Fuchs."

„Pass auf sie auf."

Rias Kopf ruckte nach oben. Wie aus dem Nichts war Aram neben ihr aufgetaucht. Freundlich lächelte der Vampir sie an. „Na, die Reise überstanden?"

Sie biss sich auf die Lippe. Die Trennung von dem verletzten Tier, das ihr doch irgendwie am Herzen lag, machte ihr zu schaffen. Ragna, der sich sofort wieder auf ihre Schulter gesetzt hatte, kaum dass der Fuchs in Eleasars Armen gelegen hatte, stupste sie aufmunternd mit der kleinen Schnauze an.

Aram deutete Richtung Stadtinneres. „Hast du Lust, den Ort zu erkunden? Hier gibt es wirklich sehenswerte Sachen."

Stumm schüttelte sie ihren Kopf. Sie war jetzt nicht in richtigen der Stimmung dazu. „Danke, aber mir ist nicht danach."

Stirnrunzelnd musterte er sie. Sie wirkte wesentlich kräftiger und gesünder als zum Zeitpunkt ihrer Trennung, aber auch irgendwie niedergeschlagener. „Ist etwas zwischen dir und Eleasar vorgefallen?"

Erneutes Kopfschütteln.

Seufzend stemmte er die Hände in die Hüften. So, wie die beiden angekommen waren, musste etwas vorgefallen sein. Er kannte seinen Cousin und dessen zeitweilig fragwürdigen Umgang mit weiblichen Wesen. „Rück schon raus, was bedrückt dich?"

Sie warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu, schnaubte kurz und lief dann zum Steg. Ihr Blick wanderte den vorderen Marktplatz entlang. Er erinnerte an eine kleine Marktstraße mit Blick auf See und Ufer. Bestürzt nahm sie die sich ihr bietende Szene in sich auf. Es dämmerte bereits und viele Händler räumten ihre Sachen zusammen, um sie auf Karren zu verstauten, die dann von Pferden über den Holzsteg zum Ufer gezogen wurden. Menschen, die die Stadt verließen, weil sie hier nicht erwünscht waren. Was musste das bloß für ein Leben sein?

„Du bist doch nicht etwa wasserscheu?"

Verärgert blickte sie neben sich, wo Aram stand und noch immer zu überlegen schien, was so schwer auf ihrer Seele lastete. Lautes Quengeln lenkte ihre Aufmerksamkeit auf eine rundliche Frau, die versuchte ihrem Kind zu erklären, dass es auf dem Steg nicht rennen sollte. Es weinte bitterliche Krokodilstränen. Einer der Männer, die den Rückzug beobachteten, löste sich aus dem Hausschatten, in dem er stand und ging auf die Frau zu. Ria verstand nicht genau, was gesagt wurde, die Mimik der Frau konnte sie dafür umso besser verstehen. Ängstlich setzte sie ihr Kind auf den Karren und ergriff die Zügel ihres Pferdes. Noch bevor sie es weiter führen konnte, schlug die Wache dem Pferd auf den Schenkel. Es wieherte, stieg und trabte nervös davon. Die Frau fiel nach vorne, schien aber zum Glück nicht ernsthaft verletzt. Das Kind hingegen hatte sich nicht am Karrenrand festgehalten und purzelte bei der Aktion ins Wasser. Mit Entsetzen musste Ria mit ansehen, wie die Wache die Frau unbarmherzig lachend in Richtung Ufer schubste. Sie schrie, als würde ihr Herz zerrissen. Ihr Kind war am Ertrinken und sie konnte nichts tun.

Noch bevor Aram sie festhalten konnte, war Ria ins Wasser gesprungen und unter dem Steg durch getaucht. Vorsichtig angelte sie nach dem inzwischen bewusstlosen Menschenkind und schwamm mit ihm ans Ufer. Sie fühlte das Leben aus dem Kind weichen und bettete es so, dass es das geschluckte Wasser wieder ausspucken musste. Es musste leben. Es hatte nicht verdient zu sterben. Nicht als Opfer dieses Hasses. Sobald es wieder bei Sinnen war - zwar schwach und nach Atem ringend, aber bei Sinnen -, brachte sie das Kind zu seiner Mutter. Unter Freudentränen zog die Händlerin ihr Kind die Arme und sah dankbar zu Ria. Diese nickte stumm und starrte die Wache auf dem Steg zornig an. Wie konnte er nur?!

Aram stand noch immer dort, von wo aus sie ins Wasser gesprungen war, sein Gesicht verriet nicht die Spur einer Gemütsregung. Regungslos beobachtete er, wie die kleine Jägerin an der Wache vorbei stolzierte. Diese pöbelte sie von der Seite an, wurde jedoch großzügig ignoriert. Mit wutverzerrtem Gesicht versuchte der Mann Ria am Arm zu packen. Augenscheinlich hatte sie darauf gewartet. Geschickt wich sie dem Angriff aus und griff nach seinem Handgelenk. Es knackte fürchterlich.

Ria hielt kurz inne. Sollte sie ihn wirklich umbringen? Vermutlich würde das dann doch zu viel Aufmerksamkeit auf sie ziehen. Das arrogante Prinzlein hatte sie ja mehrfach beschworen, unauffällig zu sein. Mit spöttisch gehobener Augenbraue stieß sie den Mann von sich und ging weiter, als wäre nichts gewesen.

„War nicht angesagt, dass du dich unauffällig verhältst? Wie willst du das Eleasar erklären?", fragte Aram angespannt, als just in diesem Moment besagte Person wieder zu ihnen trat. Ausgerechnet jetzt. Das konnte ja lustig werden. Ria hatte eindeutig gegen Eleasars Anweisung verstoßen. Eines der wenigen Dinge, die sein Cousin bis aufs Blut nicht ausstehen konnte.

„Was will sie mir erklären?" Abwartend ruhte Eleasars finsterer Blick auf Ria. Der Tumult war ihm nicht entgangen. Allerdings hatte er gehofft, dass die Wachen ihren Frust wieder einmal an den Menschen ausließen. Die angeschlagene Wache auf der Brücke sprach jedoch Bände. Kein Mensch konnte einem Sylphen das Handgelenk brechen.

„Nichts", brummte Ria und wrang sich das nasse Haar aus, bevor sie es grob zu einem seitlichen Zopf flocht.

Aram hielt es für ratsam, den Mund zu halten. Eleasar kochte vor Zorn, das war nicht zu übersehen. Das letzte Mal, als der Prinz so draufgewesen war, hatte selbst Marjan sich von seinem Sohn fern gehalten.

Eine der anderen Wachen trat an die Gruppe heran. „Mädchen, du kannst nicht einfach einem von uns die Hand brechen."

Ria beachtete ihn nicht.

Aram seufzte innerlich und erklärte der Wache, dass sie ihn nicht verstand. Woher sollte sie auch die hiesige Sprache sprechen? „Ein Menschenkind vor dem Ertrinken zu retten, verstößt gegen kein geltendes Gesetz. Ihr Mann hat sie angegriffen. Es war ihr Recht, sich selbst zu verteidigen."

Der Wachmann schien nicht kleinbeigeben zu wollen. „Sie hat sich sittenwidrig verhalten."

Nun mischte sich Eleasar ein. „Erledigen Sie ihre Aufgabe, Wachmann. Sie haben keinen Grund, sie anzuklagen. Wollen Sie sich duellieren, müssen Sie sie herausfordern."

Er wollte widersprechen, entdeckte dann aber das Königswappen auf Eleasars Umhang. „Prinz." Ehrfürchtig sank er vor ihm auf die Knie. „Wir hatten keine Ahnung, dass Sie hier sind. Sie hätten diese schändliche Szene niemals sehen dürfen."

„Geh."

Mit einer tiefen Verbeugung verschwand die Wache zwischen den Häusern.

Verstimmt wandte der Prinz sich an Ria. „Verschwinden wir von hier."

Aram folgte den beiden im gewissen Abstand. Er spürte, dass die Sache noch nicht vorbei war. Eleasar zeigte sich nur äußerst selten mit dem Wappen der königlichen Familie. Wenn sie nicht bald die Stadt verließen, würde er keine Ruhe mehr haben. Vor einem unbedeutend aussehenden Haus hielt er an und sperrte die Tür auf, damit die beiden Reisenden eintreten konnten. Eine angespannte Stille trat ein, kaum dass die Tür ins Schloss gefallen war. Aram beeilte sich in die Küche zu kommen, um ihnen etwas zu trinken zu bringen. Als er zurück in die Stube trat, war die Spannung zum Greifen nahe. Ria saß mit angezogenen Knien angespannt auf einem Stuhl und starrte auf eine Unregelmäßigkeit in der Bodenmaserung. Eleasar lehnte mit verschränkten Armen an der Wand. So sauer hatte er ihn selten erlebt, und dabei kannten sie sich schon eine halbe Ewigkeit. Wortlos stellte er die Wassergläser auf einer Kommode ab und verschwand nach oben. Den aufziehenden Streit wollte er keinesfalls miterleben.

„Was sollte das vorhin?" Eleasars Stimme klang eisig. Wie eine blanke Klinge durchschnitt sie die Stille.

Ria zuckte zusammen, sah ihn jedoch unschuldig an. „Was soll ich denn verbrochen haben?" Sie war sich keines Verbrechens bewusst. Wenn sie Aram richtig verstanden hatte, hatte sie gegen kein geltendes Gesetz verstoßen.

„Ich hatte gesagt, du solltest dich unauffällig verhalten!"

Hatte sie ihn richtig verstanden? Hätte sie das unschuldige Kind etwa sterben lassen sollen? Entrüstet sprang sie auf. Was für ein eiskalter Mistkerl er doch war! „Weißt du was? Ich gehe. Du kannst mir nicht vorschreiben, was ich zu tun und zu lassen habe!"

Vor der Tür fing er sie ab. Seine Hand schloss sich um ihre Schulter und drückte sie gegen die Wand. „Du gehst nirgendwo hin."

Wütend begegnete sie seinem brodelnden Blick. Sie war nicht minder schlecht gelaunt, wie er. „Und warum bitte nicht? Ich gehöre nicht in diese Welt."

Das konnte er nicht einmal abstreiten. „Du kannst aber nicht zurück in deine." Nicht, solange sein Vater sie nicht freigeben wollte. Dann wäre sie morgen wieder hier. Und das war etwas, was er ganz und gar nicht wollte. Kompromisslos drückte er sie zurück in ihren Stuhl. „Bleib hier."

„Und wozu?" Ihre Stimme klang zutiefst verbittert. „Damit dein Vater mich an einen deiner Brüder oder dich bindet?"

Als hätte er sich an ihr verbrannt, ließ er sie los und wich vor ihr zurück. Sein Vater wollte was? Verstimmt lehnte er sich vor und fasste sie an der Schulter. Seine Finger mahnend in ihrem Nacken ruhend. „Das wird nicht geschehen. Bleib hier und verhalte dich ruhig, dann passiert nichts. Und du bist bald wieder in deiner eigenen Welt. Notfalls bringe ich dich nach Hause."

Bei seinen letzten Worten verschwand ein Teil ihrer Wut aus ihrem Blick. Unglaube trat an seine Stelle. „Du kannst mich nach Hause bringen?" Plötzlich verschwand die Verwunderung aus ihrem Blick und machte wieder einem bösen Funkeln Platz. „Und warum bin ich dann noch hier? Wir hätten uns das ganze Theater sparen können."

Oh, wie gerne er das getan hätte. „Weil die Dinge nicht immer einfach sind", entgegnete er hart. Wahrscheinlich hätte er sie direkt bei ihrem ersten Aufeinandertreffen zurückschicken sollen. Seinem Vater hätte er es schon irgendwie beigebracht. Zumal er in diesem Punkt jemanden auf seiner Seite hatte, den selbst sein alter Herr nicht verärgern wollte. Nur warum hatte er es nicht getan? Warum hatte er sie hier gelassen und war damit dem Wunsch seines Vaters gefolgt? Warum... Er wusste warum. Und es gefiel ihm absolut nicht.

Ria bemerkte seinen missfallenden Blick und zog ihre eigenen Schlüsse. Ihn entschieden beiseite schiebend hielt sie auf die Tür zu. Sie wollte keinen Moment länger hier bleiben. Wütend rauschte sie nach draußen und schlug die Tür hinter sich zu.

Eleasar starrte noch immer finster auf die Tür, als Aram beschwichtigend die Hand auf seine Schulter legte. „Lass ihr einen Moment. Weit kann sie nicht kommen." So angespannt hatte er seinen Freund selten erlebt. Was um Himmelswillen war bloß zwischen den beiden vorgefallen?

„Sie hat keine Ahnung was los ist und hört trotzdem kein einziges Mal auf mich." Schwang da so etwas wie Resignation in seiner Stimme mit?

Aram konnte sich sein Lächeln nicht ganz verkneifen. „Es gab eine Zeit, da hast du deinen Vater mit dem gleichen Verhalten in den Wahnsinn getrieben. Ich bin mir sicher, dass er in den vergangenen Tagen das eine oder andere Déjà-vu hatte."

„Sie hat einen Menschen gerettet und eine Wache verletzt."

„Ja, aber damit hat sie gegen kein Gesetz verstoßen. Der Wachmann hat sie angegriffen. Sei froh, dass sie ihm nur das Handgelenk gebrochen hat." Nach Gesetz wäre es ihr gutes Recht gewesen, den Sylphen umzubringen.

Endlich gab Eleasar seine missmutige Haltung auf. „Warum müssen Frauen immer so schwierig sein?"

Lachend klopfte ihm sein Freund auf die Schulter. „Würden wir sie verstehen, wären sie wohl weitaus weniger interessant."

„Sobald wir wieder im Schloss sind, ist sie Vaters Problem."

Aram lachte hohl. Marjan machte sich nicht viel aus Ria. Für ihn war sie lediglich ein Werkzeug. Doch das war nicht das einzige, was ihn an Eleasars Aussage zweifeln ließ. „Sei dir da mal nicht so sicher." Gelassen setzte er sich auf einen nahe stehenden Stuhl. „Also, was läuft da zwischen euch?"

„Apropos laufen. Sie hat mich für schwul gehalten."

Vor Lachen fiel Aram fast vom Stuhl. Sein Cousin und schwul? Wie um alles in der Welt war sie denn auf die Idee gekommen? „Das hätte ich zu gern miterlebt."

„Das verkürzt dein Leben um ein paar Jahre", brummte Eleasar mürrisch.

„Ach komm, wenn sie dir egal wäre, sollte es dich nicht so beschäftigen", zog Aram ihn vergnügt auf.

Sein Freund antwortete mit einem belanglosen Schulterzucken. „Das spielt keine Rolle." Es trat eine Pause ein, die er nach einer Weile mit einem bodenlosen Seufzer beendete. „Wer geht sie jetzt suchen? Ich traue ihr nicht über den Weg."

Lächelnd ging Aram zur Tür. „Wir gehen beide. Zuerst die Stadt und dann das Umfeld vom See?"

Eleasar nickte kaum merklich. „Und danach wird sie geknebelt. Dann kann sie hoffentlich keinen Unsinn mehr anstellen."

Ungläubig schüttelte der Vampir den Kopf. Na das konnte ja heiter werden. „Lass uns gehen, solange die Nachricht über deine Anwesenheit noch nicht allzu weit die Runde gemacht hat. Sonst kommst du nicht so schnell hier raus."

Ungehalten fischte sein Cousin sich das Siegel vom Umhang. „Dann los."

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