Lästige Personen

Das Geräusch herannahender Schritte riss ihn aus seinem Trancezustand. Verstimmt zog er sich in den Schatten eines großen Busches zurück, damit die Ankommenden ihn nicht sahen.

Eher erstaunt als erschrocken stellte er fest, dass er sich hier nicht vor Menschen verbarg. Dafür lief diese Person viel zu leise. Die geschmeidigen Bewegungen konnten einfach nicht zu einem menschlichen Wesen gehören. Mit gewecktem Interesse folgte er der mysteriösen Person. Dabei war er sehr darauf bedacht, sich nicht durch irgendeinen ungelegenen Laut zu verraten. Freude überkam ihn, Adrenalin begann durch seine Adern zu rauschen. Schon lange war er keinem Wesen mehr unauffällig gefolgt. In seiner Heimat wussten schließlich alle wer er war. Da war es ihm schier unmöglich, sich aus dem Haus zu schleichen, geschweige denn einem Mädchen hinterher, ohne erkannt zu werden. Denn dass es sich hier um eine weibliche Person handelte, war unverkennbar. Eine derartig zierliche Silhouette konnte kein männliches Wesen haben.

Seine euphorische Jagd fand ein jähes Ende, als das Mädchen vor einem Stadthaus anhielt, klingelte und kurz darauf eingelassen wurde. Jedoch wollte er sich nicht gleich geschlagen geben und folgte ihrem Geruch die Treppe hoch, bis in den ersten Stock. Eine Männerstimme begrüßte das Mädchen. Was genau gesprochen wurde, konnte er nicht verstehen. Er musste näher heran. War er ihr Liebhaber? So etwas wie Besitzansprüche auf dieses schöne Mädchen keimten in ihm auf. Er konnte nicht zulassen, dass da etwas zwischen ihnen lief. Schließlich wollte er sie.

Verhältnismäßig ungeschickt versuchte er am Gebäude empor zu klettern. Es wäre ihm auch gelungen, hätte er nicht auf der Hälfte der Strecke die Anwesenheit eines Wesens gespürt, dessen Aufmerksamkeit er sicherlich nicht erregen wollte. Gebundene Geister waren keine leichten Gegner. Hinzu kam, dass er sich wegen eines ihm an sich unbekannten Mädchens nicht in die Gefahr bringen wollte. Flog seine Identität auf, konnte er sofort wieder nach Hause reisen.

Langsam zog er sich in die nächtlichen Schatten zurück und machte sich auf den Heimweg. Die Lust am Umherstreifen war ihm gründlich vergangen.

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Verstimmt schlug Ria die Tür hinter sich zu. Warum hatte ihr gedankenloser Streifzug sie auch unbedingt in Aleixs Nähe führen müssen? Dieser Blödmann! Frustriert boxte sie gegen die Wand, in deren Putz sich daraufhin feine Risse bildeten. Sehr zu ihrem Missfallen war sie auf dem Rückweg niemandem über den Weg gelaufen, an dem sie ihre schlechte Laune hätte auslassen können. Unruhig tigerte sie im Wohnzimmer umher. Sie musste mit diesem Thema abschließen, sonst brachte es sie noch um den Verstand. Warum konnte es nicht einfach schon morgen Abend sein? Liebend gern hätte sie Adele jetzt zu ihrem tollen Obervampir gebracht, festgestellt, dass er ein Idiot war, der diese Mädchen nur ausnutzte und den so ordentlich zusammengeschlagen, dass der Tod eine Gnade für ihn wäre. Aber nein, sie saß hier in ihrer Wohnung fest und traute sich nicht, sich abzureagieren. Aus Angst, die Wohnung in Stücke zu zerlegen oder wieder bei Aleix vor der Haustür zu landen. Stattdessen schnappte sie sich ihr Telefon und schnauzte ihm auf die Mailbox, dass er der größte Blödmann im Universum sei und sie gefälligst nicht noch einmal in so ein Gefühlschaos stürzen solle. Keinen Deut ruhiger knallte sie das Telefon auf den Tisch, stellte sich mitsamt ihren Klamotten unter die Dusche und drehte das kalte Wasser auf. Irgendwie musste sie sich doch eine Abkühlung verschaffen können.

Kurz darauf stieg sie bibbernd und um die Erkenntnis reicher, dass es eine dumme Idee gewesen war, aus der Duschkabine. Nun war sie nicht nur sauer auf Aleix, sondern auch auf sich selbst. Äußerst frustriert krabbelte sie schlussendlich unter ihre Bettdecke und versuchte wenigstens etwas Schlaf zu bekommen.

Müde schleppte sie sich am nächsten Morgen zur Schule. Was für eine schreckliche Nacht. Natürlich hatte sie kein Auge zugetan und sich stundenlang unruhig im Bett hin und her gewälzt. Auf dem Schulhof traf sie auf eine äußerst aufgeregte Adele. Geradezu aufgelöst griff diese nach Rias Hand und sah sie flehend an. „Bitte, hast du ein Paar Anziehsachen, die ich mir leihen kann? Irgendetwas, das sexy ist?"

Ria hätte fast laut losgelacht. „Ist das dein Ernst? Du siehst doch, wie ich rumlaufe." Dabei deutete sie auf ihre kurze schwarze Hose und das weite dunkelblaue Shirt. Sexy. Von wegen. Sie hatte schon genug um die Ohren, da musste sie sich nicht noch mit zahlreichen Verehrern herumschlagen.

In Adeles Augen trat kurze Zeit ein eigenartiges Funkeln. „Ich bin mir sicher, du hast irgendwo Leder-Sachen rumfliegen. Oder so richtig coole Mäntel."

„Im Dracula-Style natürlich", kommentierte Ria sarkastisch. Ein wenig weicher fügte sie hinzu: „Ich habe keine Ledersachen. Aber komm doch nachher mit zu mir. Vielleicht passen dir ein paar meiner aussortierten Sachen." Dabei musste sie finsteren Blickes an die Kleidungsstücke denken, die Blake ihr vor einigen Monaten hatte aufdrängen wollen. Wie gut, dass sie das eine oder andere Mal Shoppen war und nun wieder richtige Klamotten im Schrank hatte.

Ihrer blonden Freundin schien ein Stein vom Herzen zu fallen. Erleichtert schlug sie die Hände über besagtem Organ zusammen. „Danke, du bist die Beste. Und du bringst mich heute Abend ganz sicher zu ihm?"

Ria bemühte sich um ein teilnahmsvolles Lächeln. Wenn es nach ihr ging, würde Adele nicht bei dieser zwielichtigen Gestalt übernachten. Aber das war nun mal nicht ihre Baustelle. Erst einmal hieß es, den Schultag heil zu überstehen, denn seit dem Vorfall im Sportunterricht schien Janine sich verpflichtet zu fühlen, ihr das Leben schwer machen zu wollen. Andauernd musste Ria aufpassen, dass weder sie noch Adele sich auf mit Sekundenkleber beschmierte Stühle setzten oder ihnen ihre Hefte vom Tisch geklaut wurden, sodass sie ohne Unterlagen im Unterricht saßen. Es war nicht sonderlich schwer sowas zu bemerken, aber lästig. Wann merkten die beiden endlich, dass ihre albernen Streiche nach hinten losgingen? Da waren die Beschwerden, wegen derer sie heute nach der ersten Stunde zum Stufenleiter gebeten wurden auch nicht schlimmer.

Mit ernster Miene musterte der Lehrer die beiden Mädchen, die soeben durch die Tür ins Stufenleiterbüro traten. „Ihr scheint Probleme damit zu haben, euch in die Stufengemeinschaft einzugliedern. Das ist nicht das erste Mal, dass eure Mitschülerinnen sich über euch beschweren."

Auf Rias ungläubiges Schnauben reagierte der recht junge Lehrer entsetzt. „Robin, warum eine so unangemessene Reaktion?"

Es kostete sie alle Mühe, ihn nicht gleich zur Sau zu machen. „Wenn Sie wirklich einen so guten Blick für ihre Schüler hätten, wie sie von sich behaupten, wäre Ihnen schon längst aufgefallen, dass wir uns sicher nicht darum bemühen, dass uns diese Schulzeit hier in schlechter Erinnerung bleibt. Sie wundern sich, dass bei Janine und Verona auf den Stühlen Sekundenkleber war? Warum fragen Sie die beiden nicht, wie er dahin gekommen ist? Wir sind sicher nicht so dämlich und tappen in eine offen ausgelegte Falle."

Brüskiert starrte der Mann sie an. „Sie unterstellen mir mangelndes Urteilsvermögen und ihren Mitschülerinnen Sie beide zu mobben?"

Ria beschränkte sich auf die Andeutung eines bestätigenden Lächelns. Sie war genervt von diesen albernen Versuchen der anderen, sie bloßzustellen. In ihrer Welt hatten die Aktionen ihrer Mitschülerinnen den Stellenwert, den eine Fliege bei einem Pferd hatte. Lästig und schwer zu vertreiben. Würden die Mädels zur weniger erkenntnisresistenten Sorte gehören, sähe die Sache sicherlich anders aus.

„So ist es aber", warf Adele verzweifelt ein, als sie bemerkte, dass es schlecht für sie stand. „Die haben mich schon vor Jahren zur Zielscheibe ihrer Sticheleien auserkoren. Jedes Jahr wird es schlimmer und noch nie hat ein Lehrer etwas dagegen unternommen. Nur weil Ria mit beisteht, ergeht es ihr jetzt genauso!"

„Hey", beruhigend legte Ria eine Hand auf Adeles Schulter. Sie konnte sich das keine Sekunde länger mit anhören. „Schon gut. Das ist Kinderkram. Wenn die Schule nichts dagegen unternimmt, werde ich mir die Mädels wohl einmal persönlich vorknöpfen müssen. Heute ist Sport oder? Ich habe etwas von Karate gehört."

Rias siegessichere Ausstrahlung machte den Lehrer ziemlich nervös. Dieses Mädchen war so anders als ihre gleichaltrigen Mitschülerinnen. Er konnte nicht genau benennen warum, doch rieten seine Instinkte ihm, in ihrer Gegenwart vorsichtig zu sein. Das verwirrte ihn, denn sie war ein hübsches Mädchen, das sich sonst kaum von den anderen unterschied - sofern man nicht in den Fokus ihrer Aufmerksamkeit geriet. Adele gegenüber schien sie wohlgesonnen zu sein. Sobald der Blick ihrer klaren hellbraunen Augen auf das blonde Mädchen fiel, wurde er weich. Bei allen anderen hatte er eine stechende Note. Jedes Mal, wenn er sie beobachtete, fragte er sich, was sie durchgemacht haben musste. Warum behandelte sie jeden, der sie ansprach von oben herab? Er kannte dieses Verhalten von einigen anderen Schülerinnen. Damit versuchten viele ihre Unsicherheit und Probleme zu überspielen. Bei Robin aber steckte mehr dahinter, dessen war er sich sicher. Leider wusste der Direktor nicht viel über ihren Hintergrund und da sie volljährig war, gab es keinen Erziehungsberechtigten, den er fragen konnte. Hatte sie überhaupt eine Bezugsperson? Er wusste es nicht. Entschlossen, sich von ihr nicht einschüchtern zu lassen, reckte er sein Kinn. „Ich verlange von euch, dass ihr euch benehmt und den anderen keine Streiche mehr spielt. Ansonsten endet das in einem Gespräch vorm Rektor."

Ria würgte Adele, die schon anfangen wollte zu flehen, kurzerhand ab, indem sie ihr die Hand vor den Mund hielt. „Schon gut. Du musst dich nicht erniedrigen und vor unreifen Leuten auf dem Boden herumrutschen. Das ist unter deiner Würde. Die werden uns bald in Ruhe lassen, glaub mir." Sie gab Adele einen leichten Schubs in Richtung Tür. „Gehen wir."

Als sie selbst das Klassenzimmer verlassen wollte, rief der Lehrer sie zurück. „Robin."

Langsam drehte sie sich im Türrahmen um. „Was?"

Bei ihrem ungehaltenen Ton zuckte der Herr Lehrer unweigerlich und kaum merklich zusammen. „Ich möchte mit dir reden. Allein."

Genervt schmiss sie ihre Tasche auf den Boden und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen den Türrahmen. Langsam fiel die Tür hinter Adele ins Schloss. „Wir sind allein", bemerkte sie daraufhin leicht spöttisch. Schon vor einer ganzen Weile hatte sie den Respekt vor diesem Mann verloren.

Ihr Gegenüber räusperte sich leicht unbehaglich. „Mir wurde gesagt, du bist im Zuge eines Zeugenschutzprogrammes hier aufgenommen worden. Das bedeutet allerdings noch lange nicht, dass du hier deine Ränke schmieden und alle anderen wie Dreck behandeln kannst."

Skeptisch hoben sich ihre Augenbrauen. „Lassen Sie sich eines sagen: Ich habe keinerlei Interesse an Intrigen oder einen erinnerungswürdigen Schulabschluss. Ich will das hier einfach nur hinter mich bringen und dann Sense. Warum also, frage ich Sie, sollte mein Desinteresse an der Schule auf einmal verflogen sein?"

Nun verschränkte auch der Lehrer die Arme vor der Brust. Da war sie wieder, diese offenkundige Feindseligkeit jedem gegenüber, der ihr nahe trat. „Ich weiß nicht, was du vorher für ein Leben geführt hast, doch solltest du wenigstens versuchen, dich hier einzugliedern."

Einen Augenblick lang war Ria versucht, ihm von ihrer Zeit als Auftragskillerin zu berichten, ließ sich dann jedoch von einem alarmiert in ihrem Blickfeld auftauchenden Ragnarök umstimmen. Stattdessen hielt sie dem Blick des Pädagogen so lange stand, bis dieser einknickte. Dann griff sie wortlos nach ihrer Tasche und marschierte hinaus auf den Flur, wo Adele sie mit neugierigem Blick erwartete. „Was wollte er noch von dir?"

Desinteressiert zuckte sie mit den Schultern. Im Laufen stieß sie die Verbindungstür vor sich so weit auf, dass sie gegen den Stopper knallte und das Geräusch mehrfach im Treppenhaus wiederhallte. „Mir sagen, ich solle mich eingliedern. So ein Schwachkopf."

Da konnte Adele ihr nur beipflichten. „Danke übrigens, dass du mich davor bewahrt hast, mich zu blamieren", stammelte sie leise.

Ria warf ihr einen kurzen Blick über die Schulter zu und blieb stehen. Halb zu ihr gewandt murmelte sie: „Es gibt immer wieder Leute, die meinen auf dich herabblicken zu müssen. Die sind deiner Aufmerksamkeit einfach nicht würdig. Du hast etwas Besseres verdient." Mit einem Kopfrucken deutete sie auf die nächste Tür. „Komm, wir haben den Rest der zweiten Stunde frei. Da sollten wir uns nicht hier oben aufhalten."

Glücklich folgte Adele ihrer Freundin. Sie bewunderte Ria über die Maßen. Sie konnte selbst nicht sagen warum, aber ihre Ausstrahlung zog sie in ihren Bann. Gäbe es da nicht ihren Zirkelführer, wäre sie der Schwarzhaarigen schon lange verfallen.

Auf dem Schulhof waren sie leider nicht die einzigen. Offenbar hatten auch ihre Lieblingskontrahentinnen frei. Adele wurde augenblicklich kleiner, als die Clique in Sichtweite kam. Allein dieser Umstand verärgerte Ria maßlos. „Wenn du es in deinen Zirkel geschafft hast zeige ich dir, wie du denen gegenübertreten musst."

Deprimiert schüttelte die andere ihren blonden Schopf. „Ich bezweifle, dass das etwas bringen wird. Die hacken schon ewig auf mir herum. Warum sollte sich das ändern? Und meinetwegen bist du nun auch in ihr Visier geraten."

Mit Bestimmtheit versuchte Ria die Selbstzweifel ihrer Freundin zu zerschmettern. „Ich such mir meine Freunde und Feinde so, wie es mir gefällt, also sei still." Notfalls konnte sie den dummen Hühnern immer noch einen Besuch im Schlafzimmer abstatten. Die Ruhe wäre den Ärger mit Aleix jedenfalls wert. Sie konnte ihn jetzt schon hören, wie er ihr einen Vortrag darüber hielt, dass sich Probleme nicht einfach Luft auslösten, nur weil man die andere Partei umbrachte. Dabei war es manchmal wirklich so einfach.

Adele schien gerade etwas Zuversicht zu fassen, da bemerkte auch die Ansammlung der Möchtegern ihre Anwesenheit. Sofort begannen sie, über sie herzuziehen. Die höhnenden Zurufe ließen Adele wieder schrumpfen und das Bisschen Zutrauen in sich wie Rauch verpuffen.

Ria war kurz davor zu denen zu gehen und jedem mindestens einmal eine schallende Ohrfeige zu verpassen. Da das aber bekanntermaßen keine Probleme löste, verzichtete sie darauf. Vorerst. „Weißt du was? Pfeif auf Schule, wir gehen shoppen." Manchmal konnte auch weglaufen eine gute Lösung sein.

„Shoppen?" Ihre Freundin machte große Augen. „Du meinst, wir sollen die Schule schwänzen?"

Ohne auf Adeles Bedenken einzugehen, fasste Ria nach ihrem Handgelenk und zog sie gnadenlos hinter sich her. „Wir suchen dir etwas Schickes zum Anziehen und du bekommst ordentliche Maniküre und so. Du weißt schon, dieser typische Mädchenkram. Du willst doch gut aussehen oder?"

Daraufhin verstummten die Einwände. Zufrieden schleppte Ria ihr optisches Gegenstück vom Schulhof und hinein in die Bahn. Sie plante, zuerst in ihrer Wohnung vorbeizufahren, um ihre Schulsachen loszuwerden, Cora zu füttern und dann mit dem Auto in die Stadt zu fahren.

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