Kopfschmerzen
Am nächsten Morgen fühlte Ria sich hundeelend. Ihre Glieder schmerzten und ihr Kopf fühlte sich an, als wäre er mit Watte gefüllt. Ihr Blick fiel auf ihr Nachthemd und sie fragte sich, wann sie sich umgezogen hatte. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nicht mehr daran erinnern konnte. Vermutlich war sie im Halbschlaf gewesen. Als ihr Magen auch noch zu Grummeln begann, rappelte sie sich auf. Zeit für ein Frühstück.
Langsam schlurfte sie die wenigen Treppenstufen nach unten. Ihr Verstand war noch leicht vernebelt. Aram saß in der Stube, die gleichzeitig den Eingangsbereich darstellte und blätterte in irgendwelchen Aufzeichnungen oder Schreiben. Als sie unten angekommen war, hob er seinen Blick und lächelte sie freundlich an. „Guten Morgen."
Ria nickte stumm und sah sich im fast leeren Raum um. War denn überhaupt noch Morgen?
„Wenn du Eleasar suchst, der ist unterwegs und erzählt den Leuten irgendeine Geschichte."
Lethargisch blickte sie ihn aus leeren Augen an. „Ist mir egal."
Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. „Alles in Ordnung?" Besorgt musterte er sie. Wirklich erholt sah anders aus.
„Gestern habe ich noch gedacht, dass ich gerne mit Adele hier wäre. Aber die Menschenfeindlichkeit hier verhindert, dass sie jemals diese schöne Gegend sieht", erklärte sie im betont beiläufigen Plauderton. „Jetzt denke ich, sie ist im Schloss besser aufgehoben."
„Warum isst du nicht etwas und legst dich dann noch ein wenig hin?", schlug er mit zusammengekniffenen Augen vor. Ihre Stimmung gefiel ihm gar nicht. Sollte sie Eleasar so unter die Augen treten, würde das nicht gut ausgehen.
„Ich habe keinen Hunger." Mit einem desinteressierten Schulterzucken wandte sie sich der Treppe zu. Der Appetit war ihr vergangen.
Sie war schon halb die Treppe hinauf gestiegen, da fiel ihm etwas ein. „Warte. Du hast Post."
„Guter Witz", brummte sie und stieg weiter nach oben. Wer sollte ihr schon Post schicken? Sie kannte doch niemanden.
„Das ist kein Scherz", widersprach Aram, am Fuße der Treppe stehend. „Der Ortsvorsteher möchte dich sehen."
„Im Nachthemd gehe ich nirgendwo hin", kam es automatisch von ihr. Es lag nicht annähernd in ihrem Interesse, jetzt irgendjemanden zu treffen. Sie wollte zurück ins Bett.
„Ich fürchte, da kommst du nicht drum herum. Eleasar kann dir vielleicht einen Tag Aufschub gewähren, mehr aber auch nicht." Er verschwieg ihr geflissentlich, dass es eine fatale Auswirkung auf die Laune seines besten Freundes haben würde, länger als unbedingt nötig hier zu verweilen. Ganz zu schweigen davon, was geschah, wenn dem Prinzen wirklich der Kragen platzte.
Mit einem resignierenden Schulterzucken stimmte sie schließlich zu. Damit war die Sache jedoch noch lange nicht gegessen. Es kostete Aram einiges an Nerven, sie dazu zu überreden, ein Kleid anzuziehen. „Du sollst so harmlos und unbescholten wie möglich wirken", versuchte er ihr nun schon zum zehnten Mal begreiflich zu machen. Dabei fragte er sich, was Eleasar sich nur dabei gedacht hatte. Ria und harmlos? Was für ein schlechter Scherz.
Ausdruckslos musterte sie ihn. „Ich versteh nicht, was das soll. Interessiert mich eh nicht, wovon dieser Kauz der redet."
Sein Mund verzog sich zu einem schiefen Grinsen. Ihre Worte kamen einer umfangreichen Zustimmung gleich. „Überlass Eleasar das Denken und Reden." Vorsichtig löste er den Zopf aus ihren Haaren. Jetzt, wo sie trocken waren, fielen sie ihr in großen Locken auf die Schulter. Würde sie sich nicht so abweisend verhalten, würde viel mehr Leuten auffallen, wie hübsch sie eigentlich war. Wobei... es war wohl ganz gut so, dass das nicht der Fall war. „Du siehst top aus. Niemand würde eine kaltblütige Killerin hinter diesem hübschen Gesicht erwarten."
Vernichtend starrte sie ihn an. „War's das?"
Froh, dass wenigstens ein paar ihrer Lebensgeister in sie zurückgekehrt waren, nickte Aram. „Lass uns gehen."
Absichtlich nahm er mit ihr den Umweg über die Marktplätze. Es war wichtig, dass man sie sah und für ungefährlich befand. In Wasserstadt war es an der Tagesordnung Wesen hinzurichten, nur weil sie sich ein wenig anders verhielten. Es galt also eine Hexenjagd zu vermeiden, auch wenn das bestimmt interessant geworden wäre. Schließlich war es Ria, die darauf spezialisiert war zu jagen und nicht der aufgebrachte Pöbel dieser Stadt.
Auf dem größten der Plätze hatte sich bereits eine kleine Menge gebildet - der erste Teil des Pöbels. Oder Schaulustigen. Immerhin war der jüngste Prinz zu Gast. Bewusst schirmte er Ria vor ihnen ab, wenngleich ihm klar war, dass sie ihre Augen nicht brauchte, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Dennoch fühlte er sich dabei wohler. Er führte sie geradewegs zum prunkvollsten Haus am oberen Ende des Platzes. Kaum waren sie vor der Tür angekommen, schwang diese vor ihrer Nase auf und ein kleines Menschenmädchen bat sie einzutreten. Mitleidig lag Rias noch immer ausdrucksschwacher Blick auf der zierlichen Gestalt des Kindes, das sie nun wortlos durch die Gänge führte.
Vor einer protzigen Tür hielt das Mädchen an und klopfte zaghaft an die Tür. Auf einen Ruf von innen hin öffnete sie diese für die Gäste. In dem dahinterliegenden Raum standen zwei Männer an einem Fenster, das auf den Marktplatz blickte. Beide drehten sich bei ihrem Eintreten um. Einer von ihnen war Eleasar und der andere musste der Ortsvorsteher sein. Überrascht nahm Ria seinen Anblick in sich auf. Noch nie hatte sie ein derartiges Wesen gesehen. Zwar schien es auf dem ersten Blick eine annähernd menschliche Gestalt zu haben, doch wirkte seine Haut seltsam durchscheinend. Wie in Öl getauchtes Papier. Das wirklich Gruselige an dem Kerl war jedoch, dass er sich nach Tod anfühlte. Nach Tod und Verbotenem. Unter normalen Umständen hätte sie sich geängstigt oder geekelt. Vielleicht wäre sie auch fasziniert gewesen, aber die Watte in ihrem Kopf schien jegliche Emotion in sich aufzunehmen. Sie schaffte es nicht einmal, sich aufrichtig überrascht zu fühlen.
„So", diese krankhaft klapprige Gestalt trat auf sie zu und beugte sich interessiert zu ihr hinunter. Er musste gut und gerne zwei Meter groß sein. „Du siehst nicht aus, als würdest du meine Leute verschwinden lassen." Seine Stimme erinnerte sie an Schmirgelpapier.
Unsicher wanderte ihr Blick zu Eleasar. Der sah sie nicht direkt an, sondern einen Punkt über ihrer Schulter und verwickelte den Ortsvorsteher in ein Gespräch, dem die junge Frau nicht folgen konnte. Auf einmal und ohne jeden erkennbaren Grund, fixierten sie die tiefliegenden schwarzen Käferaugen des Wesens und ein unnatürlich starker Kopfschmerz durchzuckte sie. Sie spürte, wie Ragnarök angestrengt versuchte, etwas von ihr abzuwehren, konnte aber nur hilflos zusehen. Plötzlich war ihr, als würde sie heftig zurückgestoßen werden.
„Bring sie hier weg", wies Eleasar Aram an, der Ria im Arm hielt. Anschließend wandte er sich dem Ortsvorsteher zu. „Sie haben offiziell gegen den König rebelliert, indem Sie seinen persönlichen Gast verletzt haben."
Aram hörte die leise gefauchten Worte und sah zu, dass er mit seiner benommenen Last Land gewann. Er war sich ziemlich sicher, was nun folgen würde.
„Was... ist passiert?" Rias Stimme klang äußerst schwach und brüchig.
„Er hat dich angegriffen", erklärte Aram ruhig, während er sie aus dem Haus und über Schleichwege zurück zu ihrer Unterkunft trug. „Er schien nicht wirklich auf eine Klärung bedacht."
Mit zittrigen Fingern massierte sie sich die schmerzenden Schläfen. Ihr war hundeelend zumute. „Was war das für ein Wesen? Es war unheimlich."
Vor der Haustür setzte er sie ab. „Ein Lich. Sie können vor kurzem Verstorbene wieder zum Leben erwecken."
Benommen trat sie ein und ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Und was hat er dann mit mir gemacht?"
„Hier wird auch mit dem Geist gekämpft. Nur wenige beherrschen das. Du solltest Eleasar fragen, der kennt sich damit besser aus als ich." Er verschwand in der Küche, um kurz darauf Essen auf den Tisch zu stellen. „Iss wenigstens Obst, sonst baust du wieder ab."
„Hier sind genug brauchbare Emotionen. Ich werd's überleben." Sie rollte sich auf dem Stuhl zusammen und bettete ihren Kopf auf ihren Armen. Alles in ihr schrie nach Ruhe, doch die Schmerzen verweigerten sie ihr.
Skeptisch dreinblickend zog Aram einen Bogen Papier aus der Kommode und machte sich daran, ein Schreiben zu verfassen. Unterdessen fixierte Ria den unnatürlich blau schimmernden Apfel, der neben ihr auf dem Tisch stand.
Die Unruhe auf den Straßen nahm sie nicht einmal richtig wahr. In ihrem Kopf brannte es und sie wusste nicht, wie sie diese schrecklichen Kopfschmerzen wieder loswerden sollte.
Am späten Nachmittag kehrte Eleasar zurück. „Wo ist sie?", fragte er scharf, noch bevor Aram ihn begrüßen konnte. Stumm deutete er nach oben. Den Bruchteil einer Sekunde später stand er vor ihrer Schlafzimmertür. Ohne Anzuklopfen trat er ein. Rias Kleid lag achtlos auf den Boden geworfen vor seinen Füßen. Sie selbst hatte sich unter Decke und Kopfkissen vergraben.
„Ria." Vorsichtig zog er die Decke zurück und setzte sich neben sie aufs Bett. „Hey, kannst du mich hören?" Vorsichtig strich er ihr die Haare zurück.
Ein leises Wimmern kam von ihr, sonst jedoch nichts.
Seine Kiefermuskeln spannten sich an. Hatte er sich zu spät eingeschaltet? „Ich möchte dir helfen. Dazu muss ich mir deine Verletzung ansehen." Beruhigend redete er auf sie ein, dabei tastete er vorsichtig nach ihrem Geist. Tiefe Wunden durchzogen ihn. So tief, dass sie unmöglich keine dauerhaften Schäden auf ihrer Seele davontragen würde. In den Regionen, die am stärksten betroffen sein sollten fand er seltsamerweise keine Verletzungen. Nur der Rauch, der ihre Seele sonst in dunkle Schatten hüllte, war seltsam klar. Ihr Geist musste den Angriff abgefangen haben. Was wohl aus ihm geworden war?
He, kümmer dich um meine Süße, ich bin unsterblich. Mir kann das nichts anhaben, fauchte es in seinem Kopf. Unwillkürlich zuckten seine Mundwinkel nach oben. Offenbar ging es dem Schattendrachen gar nicht so schlecht, wie er befürchtet hatte. Erleichtert ließ er sich vor dem Bett auf die Knie sinken und legte seine Hände behutsam an ihre Schläfen. Vorsichtig schloss er eine Wunde nach der anderen, so gut es eben ging.
Als er sein Möglichstes getan hatte, rief er nach Aram. „Wie geht es ihr?", lautete die erste Frage, die der beim Eintreten an ihn richtete.
Eleasar saß mittlerweile auf dem Bett und hielt das schlafende Mädchen schützend in seinen Armen. „Besser als erwartet. Hast du meinen Vater verständigt?"
Aram nickte knapp. „Direkt nachdem wir hier angekommen sind. Was war das? So etwas habe ich noch nie gesehen."
Skeptisch zog sein Freund zog eine Augenbraue hoch. „Noch nie gesehen, dass jemand einfach so tot umfällt? Und ich dachte, wir hätten schon einige Schlachten zusammen geschlagen."
Der Vampir schüttelte energisch den Kopf. „Das meine ich nicht. Das war kein körperlicher Angriff, das hätte ich gespürt."
„Er hat versucht, ihre Seele in Stücke zu reißen."
Aram schauderte. „Hat er...?"
Eleasar verneinte entschieden. Sein Blick wurde weicher, als er wieder auf das schlafende Mädchen in seinen Armen fiel. „Mir wird jetzt erst wirklich klar, was Schattenseelen alles aushalten können."
Aram verstand kein Wort. „Kannst du das auch für Leute erklären, die nicht so veranlagt sind wie du?"
Nachdenklich strich er Ria durchs Haar. „Ihr Geist hat sie vor seelischem Schaden bewahrt."
„Was willst du jetzt tun? Sie so in Marjans Obhut geben?"
Eleasar schwieg eine Weile, bevor er fragte: „Wie ist die Lage? Hat Sem Krieg erklärt?"
Aram holte tief Luft und schilderte ihm sämtliche Informationen, die er heute per Post erhalten hatte. „Du kannst deinen Einfluss geltend machen, aber ich bezweifle, dass das etwas nützt. Die Fronten sind zu verhärtet."
In diesem Punkt musste er seinem Freund zustimmen. „Morgen Mittag reiten wir los. Bis dahin wird ein Ersatz für die Leitung dieses Ortes gefunden sein." Und Ria hatte sich hoffentlich soweit erholt, dass er sie mit auf Reisen nehmen konnte.
„Du bleibst hier bis sie aufwacht?"
Zögernd nickte Eleasar. „Ich muss den Heilungsprozess beobachten. Der Geist heilt anders als eine physische Verletzung."
„Dann hoffen wir, dass sie sich bis morgen bestmöglich erholt."
„Ja." Der Blick des Prinzen ruhte besorgt auf dem bewusstlosen Mädchen in seinen Armen.
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