Komm, wir Knutschen
„Ist das neben Saya einer der Gründe, weshalb du sie immer wieder von dir stößt? Ria hat in diesem Krieg nicht mitgekämpft. Sie will nicht einmal in dieser Welt sein."
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„Das ist Unsinn." Eleasars Ton hatte einen endgültigen Zug angenommen. Er wollte nicht weiter darüber reden.
Unterdessen hatte Adele es geschafft, Rias Kleidung zu wechseln. Auf leisen Sohlen ging sie zu Aram und kletterte auf seinen Schoß. „Ihr seht aus, als würde die Welt gleich untergehen."
„Wir haben gerade über ein unerfreuliches Ereignis aus der Vergangenheit gesprochen", klärte ihr Mann sie auf.
Forschend huschte ihr Blick zu Eleasar. „Hat es etwas mit Ria zu tun?"
„Nein", zärtlich strich Aram ihr eine Haarsträhne hinters Ohr. „Damals hat sie noch nicht gelebt."
„Eines verstehe ich nicht. Ria hat nie verborgen, dass sie die Menschen nicht besonders leiden kann. Warum will sie dann unbedingt zurück?"
„Im Gegensatz zu dir hat sie dort Familie. Würdest du Ria nicht auch vermissen, wenn sie noch immer dort wäre?"
„Aber Ria ist ein Wesen! Sie gehört in eure Welt!" Vor lauter Entrüstung war sie aufgesprungen.
Unter Eleasars finsterem Blick zuckte sie eingeschüchtert zusammen. „Da wäre ich mir an deiner Stelle nicht so sicher."
„Lass gut sein, Liebste", mischte Aram sich ein, bevor die beiden miteinander in Streit gerieten. „Gehen wir dir etwas zu Essen besorgen. Sollte es ihr besser gehen, lasse ich es dich wissen." Eleasar würde ihn schon darüber in Kenntnis setzen. Er stand auf und schob Adele bestimmt in Richtung Tür.
Nachdem die beiden gegangen waren, trat Eleasar ans Fenster und starrte nachdenklich hinaus in den anbrechenden Tag. Er war so tief in Gedanken versunken, dass er zusammenzuckte, als plötzlich ein herzzerreißender Schrei die Stille durchbrach.
Erschrocken fuhr er herum. Ria saß mit weit aufgerissenen Augen aufrecht im Bett, eine Hand ausgestreckt, als wolle sie jemanden festhalten. Langsam schien sie zu sich zu kommen. Große Schmerzen spiegelten sich auf ihrem Gesicht, während sie in sich zusammensank.
Er ließ ihr Zeit, sich zu sortieren. Eine halbe Stunde später hatte sie sich noch immer keinen Millimeter bewegt. Vorsichtig ging er neben ihr in die Hocke. „Ria?"
Helle, orangene Augen starrten ihn orientierungslos an.
„Weißt du, wer ich bin?"
Sie schien nachzudenken. „Elea", krächzte sie schließlich.
Erleichtert nickte er. Wenigstens konnte sie sich an ihn erinnern. „Ja. Weißt du auch, wo du bist?"
Wieder brauchte sie einen kleinen Moment. „Wo..." nach dem ersten Wort brach ihr die Stimme weg. Panisch griff sie nach seiner Hand und klammerte sich krampfhaft an ihn.
„Es ist alles in Ordnung." Beruhigend tätschelte er ihre verkrampften Hände. „Lass mich dir ein Glas Wasser holen."
Nur zögerlich ließ sie von ihm ab. Während er sich mit dem Wasserholen beeilte, hockte sie verloren auf dem Bett und stierte ins Leere. Zum Glück befanden sich alle benötigten Dinge im Raum.
„Hier." Vorsichtig half er ihr, ein paar Schlucke zu trinken. Anschließend stellte er das leere Glas zur Seite und setzte sich neben sie auf die Matratze. „Wie geht es dir? Abgesehen von den Halsschmerzen?"
Mit überraschend klarer Stimme antwortete sie: „Ich fühle mich, als wäre eine Herde Elefanten über mich hinweg getrampelt." Als wäre das auf einmal Licht zu viel, schloss sie ihre Augen und knete sich die Schläfen.
Er musste vor Verwunderung blinzeln. „Deine Stimme hast du ja schnell wiedergefunden." Wie ungewöhnlich.
Sie sah ihn an, als wäre er nicht ganz bei Sinnen. „Ich bin kein Mensch." Dabei klang es so, als würde sie eher mit sich selbst reden und sich diesen Umstand klar vor Augen führen wollen. „Was ist passiert? Wo sind wir? Warum bist du bei mir?"
Entschieden schnappte er sich ihren Kopf, bevor sie sich hektisch umsehen konnte. „Warte, ich ziehe die Vorhänge zu. Du musst dich vermutlich erst an die Helligkeit gewöhnen."
Widerstrebend willigte sie ein.
„Wir sind im Schloss meines Vaters. Ich bin bei dir, weil du mein Zimmer besetzt hältst und das schon seit Tagen. Und was passiert ist", ruckartig zog er am schweren Brokatstoff. Sofort wurde es um einiges dunkler. Als das Feuer die einzige Lichtquelle war, kehrte er zu ihr aufs Bett zurück. „Nun, du bist angegriffen worden."
Ihre hellen Augen weiteten sich, ihr Blick war erfüllt von unzähligen Schrecken. „Der Kerl, der mit Leichen wie mit Puppen spielt."
Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Woher hast du diese Beschreibung?"
Im Schein des Feuers leuchteten ihre Augen auf katzenhafte Weise. Aufgeregt hüpfte sie auf dem Bett herum, hockte sich plötzlich vor ihn und fragte aufgekratzt: „Trinken die Nächtlichen Blut? Leben Schattendrachen in Höhlen, die man nur durch Tauchen erreicht?"
Mit ihren Fragen überrumpelte sie ihn. „Ria." Ihr urplötzlich so kindliches Verhalten und ihr leicht abwesender Blick gefielen ihm gar nicht. „Wie alt bist du?"
„Wie alt bist du denn? Hör auf so ernst zu sein, lass uns spielen!" Übermütig schubste sie ihn in die Kissen. „Na los, fang mich."
Schneller als erwartet riss sie die Tür auf und rannte davon. Innerlich fluchend setzte er ihr nach. Das konnte ja noch lustig werden. Vermutlich war sie nicht einmal richtig wach. Er jagte ihr durchs halbe Schloss hinterher. Jedes Mal, wenn er dachte, er hätte sie endlich, entwischte sie ihm im letzten Augenblick. Diese Version ihres Selbst war ihm unheimlich. Und viel zu geschickt. Erst als sie beinahe in Aram und Adele gerannt wäre, die Händchenhaltend im Hof spazieren gingen, bekam er sie zu fassen.
„Ria." Erfreut wollte Adele zu ihrer Freundin gehen, doch die sah sie erschrocken an und wich einen Schritt zurück - direkt in Eleasars Arme.
„Wer ist das?"
Eleasar sah zu Aram, der zu verstehen schien und es übernahm, seine Frau aufzuklären. „Adele, Liebling? Ria erinnert sich nicht an dich."
Gerade wollte er den beiden versichern, dass sie das wieder werden würde, da kletterte das aufgedrehte Mädchen auf seinen Rücken. „Lass uns ..." Sie verstummte, den Blick auf die ineinander verschlungenen Hände des Pärchens vor ihnen gerichtet. Schnell kletterte sie wieder auf den Boden, wo sie sich ohne Vorwarnung an ihn lehnte. „Komm, wir Knutschen."
Aram brach in Gelächter aus, während Eleasar sie nur verdattert anstarrte. Wie kam sie denn jetzt auf die Idee?
„Ria!" Adele versuchte zu ihr zu kommen, wurde aber von ihrem Liebsten zurückgehalten. „Lass die beiden. Das ist ganz allein Eleasars Problem. Er hat es verbockt, jetzt kann er die Suppe auch auslöffeln."
„Sollte ich diesen Plagegeist hier losgeworden sein, kündige ich dir die Freundschaft", brummte der ungehalten. Dabei versuchte er Ria auf Abstand zu halten, die ihrerseits versuchte, an ihn heran zu kommen und ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen.
„Was hat sie eigentlich?"
„Ich würde ja gerne behaupten, ihre Persönlichkeit hat sich ein wenig geändert, aber bis sie euch gesehen hat, hat sie sich wie in Kleinkind benommen." Er schaffte es zwar, ihr die Arme auf den Rücken zu drehen, doch wollte sie sich nicht so recht festhalten lassen.
In diesem Moment materialisierte sich Ragnarök neben ihnen. „Kann jemand von euch sie bitte zur Vernunft bringen? Ist ja kaum auszuhalten, was in ihrem Kopf vor sich geht."
„Du weißt, was los ist?", fragte Eleasar angestrengt. Ria war kurz davor, sich aus seinem Griff zu befreien. So langsam wurde diese Situation zu einer Zerreißprobe für seine Nerven.
Der Drache schnaubte. „Sie ist vollkommen durchgedreht. Es scheint, als würde sie das nachholen wollen, was sie nie hatte."
Nur knapp konnte er einer Kopfnuss entgehen. Ria hatte angefangen, ununterbrochen auf und ab zu hüpfen. Was sie damit bezwecken wollte, war ihm schleierhaft. Die Erkenntnisse des Schattendrachens waren ihm wenig hilfreich. All das hatte er schon selbst erkannt. „Sag mir lieber, wie ich sie ruhig bekomme."
„Ich gehe nicht mehr in ihren Geist. Nach dem Sturm brauche ich erst einmal ein Jahr Urlaub."
Eleasar seufzte resignierend. Er hatte von Anfang an gewusst, dass dieses Mädchen nur Stress bedeutete. „Aram, komm her."
Neugierig trat der Vampir heran. Sein Freund drückte ihm das tobende Mädchen in die Arme. „Du musst sie kurz für mich festhalten, sonst tue ich ihr weh."
Auf einmal sackte Ria in sich zusammen.
„Das ging aber schnell." Überrascht legte Aram Ria auf dem Boden ab.
„Das war ich nicht." Nachdenklich beugte Eleasar sich über sie.
Plötzlich kam wieder Leben in ihren Körper. Sie packte den Prinzen am Kragen und stahl sich einen kurzen Kuss. Triumphierend grinste sie ihn an. „Gewonnen."
Tief durchatmend schloss Eleasar die Augen und drückte sie zurück auf den Boden. Kaum lag ihr Kopf auf dem Boden, verabschiedete Ria sich mit seiner Hilfe ins Land der Träume. An Aram gewandt sprach er: „Tu mir einen Gefallen und bring sie nach oben."
Misstrauisch beäugte er Vampir die Schwarzhaarige. „Fällt sie nicht auch noch über mich her? Ich möchte meiner Frau nachher nicht Rede und Antwort stehen müssen, weil ich mit ihrer besten Freundin knutsche, wie sie es so nett ausgedrückt hat."
„Klar, auf dich hat sie es auch abgesehen." Eleasars Blick wanderte fragend zu Ragnarök. „Was meintest du vorhin?"
Der schwarze Drache legte sich schützend um seine schlafende Gefährtin. „Sie hatte keine Kindheit. Sie hat ziemlich wild geträumt und als sie aufgewacht ist, hat sie versucht, ihre Sehnsucht nach einem normalen Leben zu unterdrücken."
„Und das ist tatsächlich möglich?"Adele kniete sich besorgt neben ihre bewusstlose Freundin. „Das klingt irgendwie an den Haaren herbeigezogen."
„Das ist eine sehr menschliche Sicht der Dinge." Aram sah zu Eleasar. „Ich hoffe, du hast noch viel Spaß mit ihr."
„Trag sie nach oben."
Der Vampir winkte dankend ab.
„Ich stehe in der Nahrungskette über dir", knurrte Eleasar drohend.
Aram schlang seine Arme um seine Frau und schob sie sanft aber bestimmt vom Geschehen fort. „Ich vertraue auf deine Gnade." Auf dem Weg ins Schloss, bohrten sich ihm die finsteren Blicke seines Freundes in den Rücken. „Vergiss es", sagte er gut gelaunt, bevor Adele protestieren und mit dem Prinzen solidieren konnte. Ria war eindeutig Eleasars Problem. So langsam war es an der Zeit, dass der sein Leben umkrempelte.
Draußen brauchte Eleasar einen Augenblick, um sich zu sammeln. Er begann, sein ereignisloses Leben zu vermissen. Wie hatte es nur so aus den Fugen geraten können? Die Antwort lag hinter ihm bewusstlos auf dem Boden. Andächtig drehte er sich wieder zu dem Drachen und seiner Gefährtin um. Wenn das Mädchen wieder in ihrer Welt war, würde er sich eindeutig eine Auszeit nehmen. Etwa für die nächsten zehn Jahre. Die war er nämlich in den letzten Stunden gefühlt gealtert.
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