Heimreise
Mit tränenden Augen hockte Ria am Flussufer. Sie machte sich selbst Vorwürfe, weil sie auf seinen Beistand vertraut hatte. Warum hatte sie gehofft, dass er immer bei ihr sein würde, solange sie hier war? Was war sie doch für ein Einfaltspinsel! Hätte sie sich doch bloß an ihr Vorhaben gehalten und sich nicht auf ihn eingelassen. Wie hatte es nur soweit kommen können? Männer konnten nichts Gutes bringen. Sie bedeuteten Stress und Verletzung. Ihr Blick fiel auf ihre blutbeschmierte Bluse. Wütend riss sie sich den Stoff vom Leib. Männer. Von wegen Pandora hat das Verderben über die Menschheit gebracht. Das musste ein Mann gewesen sein. Pandorus oder so. Wäre nicht das erste Mal, dass die Personen im Laufe der Geschichte ausgetauscht worden wären.
Schritte näherten sich und verschiedene Emotionen streckten die Fühler nach ihr aus. Sie rührte sich nicht und sah auch nicht auf, als sie im Schatten der Person saß.
Kritisch musterte Eleasar ihre zerrissene Bluse. „Möchtest du nicht ins Schloss zurückkehren und dich umziehen?"
Er erhielt keine Antwort.
„Ria, sei doch vernünftig."
„Vernünftig?" Mit blitzenden Augen sprang sie auf. „Vernünftig?!", fauchte sie fassungslos. „Verschwinde."
Er hielt ihrem zornigen Blick stand. „Nein."
„Gut, dann eben nicht." Trotzig wandte sie sich ab und lief am Ufer entlang.
„Ria, bitte." Mühelos folgte er ihr auf den Fersen.
„Hau ab!", schrie sie ihn an. „Ich will dich nicht sehen! Nie wieder!" Eine verräterische Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Hastig drehte sie sich um und rannte davon. Er durfte nicht sehen, wie es ihr ging. Nicht er.
Wie versteinert starrte er ihr hinterher. Warum wollte sie einfach nicht verstehen, was er ihr zu sagen versuchte? Warum verstand sie nicht, dass er sie nicht in Gefahr wissen wollte? Einen Moment lang war er versucht, zurück zum Schloss zu gehen. Es war besser, wenn sie ihn vergaß. Allerdings würde seine Schwester ihn, kompromisslos wie sie war, aus dem Schloss jagen und ihn nicht eher wieder hinein lassen, ehe er Ria mitbrachte. Schweren Herzens setzte er ihr nach.
Am Waldrand hielt Ria inne. Sollte sie wirklich hinein gehen? Was, wenn sie sich erneut verlief? Sie spürte, dass Eleasar immer näher kam. Zögern stellte nun keine Option mehr dar. Sie machte erst Halt, als sie auf einen Weg stieß. Ob er in eines der umliegenden Dörfer führte? Welche Richtung sollte sie nehmen?
„Gar keine Richtung."
Ria schrie vor Schreck laut auf, als Eleasar von hinten einen Arm um sie schlang. „Was soll das? Ich habe doch gar kein Wort gesagt! Wie konntest du dich überhaupt unbemerkt anschleichen?"
Er lachte freudlos. „Auch ich habe meine Fähigkeiten."
„Du brauchst sie ja nicht an mir zu verschwenden", fauchte sie mit vor unterdrückten Gefühlen bebender Stimme.
Am liebsten hätte er ihr zugestimmt, doch es wollte ihm kein Wort über die Lippen kommen. Er brachte es nicht übers Herz, sie so sehr zu verletzen. „Hör zu", setzte er müde an. „Es tut mir leid. Meinetwegen hat Kilian es auf dich abgesehen. Wir können uns nicht besonders gut ausstehen."
Überrascht gab Ria ihre halbherzige Gegenwehr auf. „Er ist dein Bruder."
„Das ändert nichts daran."
Er klang so schrecklich traurig, dass sie es nicht ignorieren konnte. Dummes Herz. War sie nicht schon genug verletzt worden? Langsam drehte sie sich zu ihm um. „Ich hatte gehofft, du würdest auftauchen und mir helfen ihn loszuwerden, aber jetzt bin ich froh, dass du nicht dabei warst."
Aufrichtige Verwunderung stand in seinem Blick. „Warum?"
Sie lächelte schwach. „Na, dann stünde noch eine Sache mehr zwischen euch." Ihr entfuhr ein Seufzer aus tiefster Seele. „Wir sollten reden." Es hatte keinen Sinn, ihrem Gefühlschaos aus dem Weg zu gehen. Früher oder später würde es sie einholen.
„Ja, ich denke, es ist an der Zeit." Nicht sonderlich begeistert ließ er sie los und begann, Zeichen auf den Boden zu malen. „Aber nicht hier."
Mit ratloser Miene beobachtete sie seine Zeichenstunde. „Was ist das?"
Mit einem vagen Lächeln auf den Lippen erhob er sich. Mit einladend ausgestrecktem Arm fragte er: „Wie sieht dein Zuhause aus?"
Zögerlich legte sie ihre Hand in seine. „Nun ja, es ist eine kleine Wohnung." Sie schilderte ihm jedes Detail ihrer Wohnung. Als sie zur Beschreibung ihres Wohnzimmers überging, verschwammen die Konturen und sie wurde von einem eigenartigen Sog erfasst. Kurz darauf war alles wieder vorbei. Verwirrt sah sie sich um. „Das ist ja meine Wohnung." Verblüfft stieß sie den Atem aus. „Wie hast du das gemacht? Kannst du Illusionen heraufbeschwören?"
„Nein." Er griff nach ihrer Hand. „Wir sind bei dir. In deiner Welt."
Verständnislos sah sie ihn an. „Die Menschenwelt? Aber warum?"
„Weil mein Vater hier keinen Einfluss hat."
Wortlos musterte sie ihn. Plötzlich und ohne erkennbaren Anlass zuckte ihr Kopf herum. „Cora!"
Verwirrt sah er ihr dabei zu, wie sie strahlend etwas Kleines auf den Arm hob. Eine schwarze Katze. Glücklich kraulte sie das schnurrende Tier. „Du lebst noch. Hat Aleix dich versorgt? Es tut mir so leid, dass ich dich so lange allein gelassen habe." Sie setzte sie ab und rannte aus dem Raum. Mit zufriedenem Lächeln kehrte sie zurück. „Entschuldige, ich musste sicher gehen, dass noch genug Futter da ist." Verlegen deutete sie auf ihr Sofa. „Setz dich. Möchtest du etwas trinken?"
Er lehnte dankend ab. Ria verschwand noch einmal aus dem Raum und kam mit einer Tasse dampfenden Kaffees zurück. Sie folgte Eleasars Blick, der an ihrem Tisch zu kleben schien. „Aram meinte, das sei ein Portal. Ich bin mir da nicht so sicher. Schließlich ist noch nie etwas verschwunden, das darauf lag."
„Es ist versiegelt. Damit ist es praktisch nutzlos." Sein Blick wanderte zu ihr. Beziehungsweise zu ihren blutbesudelten Kleidern. „Willst du die Sachen nicht langsam ausziehen?"
Erneut verschwand sie für kurze Zeit aus dem Raum. „So, jetzt aber."
Kritisch betrachtete er ihre Kleidung. „Meinst du nicht, dass das ein wenig zu gewagt ist?"
Mit gerunzelter Stirn besah sie sich ihr Top und die Sporthose. Was sollte daran denn verkehrt sein? Es konnten ja nicht alle Leute als Nonne verkleidet durch die Gegend laufen. Obwohl... Grinsend schüttelte sie diesen Gedanken ab. „Nein, gar nicht. Also?"
Im Nu war es mit der zuvor entspannten Stimmung vorbei. Sie nicht aus den Augen lassend, begann er mit diesem heiklen Thema. „Erinnerst du dich an unsere kleine Reise durch den Wald?"
Sie nickte wortlos und nippte an ihrem heißen Getränk.
Mit einem leichten, melancholischen Lächeln fuhr er fort: „Du hattest mir gerade gesagt, dass du mich für schwul hältst. Erinnerst du dich an diesen komischen Moment? Es ist schwer zu beschreiben. Für mich war es, als setze sich meine Welt neu zusammen. Du hast mich gefragt, was vorgefallen sei. Ich bin dir immer noch eine Antwort schuldig."
Da lief also der Hase lang. Na, wenn er ihr jetzt alle versäumten Antworten geben wollte, sollte sie sich wohl auf ein längeres Gespräch einstellen. „Ja, das bist du. Für mich war es übrigens ähnlich."
Er musterte eine Weile die Runenzeichnung des Tisches. „Lass mich weiter ausholen. Wir Wesen kennen verschiedene Arten von Liebe. Die eine Version ist die Liebe, die die Menschen auch empfinden. Aus ihr resultieren unterschiedlich lange Beziehungen. Dann gibt es da die Art von Beziehung, die aus Bindungen hervorgeht. Das ist das, was die Vampire meines Vaters praktizieren. Ob das wirklich Liebe ist, kann ich dir nicht sagen. Dann gibt es da noch eine andere Form. Eine, die tiefer geht und verglichen mit der die Liebe, die die Menschen empfinden können wie ein flüchtiger Moment wirkt. Eine solche Liebe widerfährt uns nur ein einziges Mal in unserer Existenz. Hat man diese Person gefunden, sehnt man sich aus tiefster Seele nach ihr. Gehen diese beiden Personen eine Beziehung ein, verbinden sich ihre Seelen. Eine solche Beziehung ist bindend und hält ewig." Sein Blick wanderte zu ihr und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie etwas Schmerzhaftes darin lesen zu können. „Als wir uns das erste Mal in die Augen gesehen haben, haben sich unsere Seelen gefunden."
Ria klappte der Mund auf. „Du hast dich in mich verliebt?"
Ein trauriges Lächeln huschte über seine ernsten Züge. „Ja. Aber ich fände es besser, du würdest es dir aus dem Kopf schlagen."
Mit großen Augen starrte sie ihn verständnislos an. Das war der schlechteste Scherz des Jahrtausends. „Hast du dir überlegt, wie es mir dabei geht? Ich bin auch nicht besonders glücklich darüber, mich verliebt zu haben, aber so ist es nun einmal."
„Du verstehst es nicht." Verzweifelt fuhr er sich durch die Haare.
„Nein, da hast du recht. Ich verstehe deine Bedenken nicht. Sind sie der Grund, weshalb du dich so widersprüchlich verhältst?" Jetzt, wo sie wusste, dass es ihm ähnlich ging, konnte sie ihn doch nicht mehr gehen lassen. Auf gar keinen Fall!
Er stand auf und lief unruhig auf und ab. „Ich habe versucht, mich von dir fern zu halten. Bei mir ist es nicht sicher. Es gibt viele, die mir schaden wollen. Du wärst in ständiger Gefahr."
Entrüstet knallte sie ihre leere Tasse auf den Tisch. „Da kämpfe ich tagelang gegen meine inneren Bedenken an und jetzt kommst du daher und meinst, deine seien ein Grund, unseren Gefühlen nicht nachzugeben? Du hast keinen blassen Schimmer, wie es in meiner Welt aussieht. Denkst du, hier ist alles eitel Sonnenschein? Auch ich habe meine Feinde! Spätestens nach dem Kampf mit deinem Bruder sollte dir klar sein, dass ich mich durchaus zu wehren weiß."
Abrupt hielt er inne. „Dass du kämpfen kannst, bestreite ich gar nicht. Du kämpfst nur zu fair. Du kannst nicht erwarten, dass alle, die dir gegenüber stehen sich an die gleichen Regeln halten."
„Ja, diese Lektion habe ich vorhin gelernt. Sonst hätte ich den Kürzeren gezogen." Entrüstet baute sie sich vor ihm auf. „Warum bleibst du nicht ein paar Tage hier und lernst meine Welt kennen?"
Bedrückt zog er sie an sich heran und legte seine Stirn an ihre, damit sie sich in die Augen sehen konnten. Es war schwer ihr fern zu bleiben, wenn sie so aufgewühlt war. „Ria. Du müsstest deine Welt verlassen. Kannst du das? Das alles hinter dir lassen? Deine Familie und Freunde?"
Erst jetzt schienen ihr alle Konsequenzen klar zu werden. „Ich möchte Cora mitnehmen. Mehr nicht."
Eleasar blinzelte überrascht. Damit hatte er nicht gerechnet. Hatte sie nicht bis eben noch behauptet, nie wieder nach Anderswelt zurückkehren zu wollen? „Das wäre kein Problem."
Vorsichtig legte sie ihre Hand auf seine Brust. Es war das erste Mal, dass sie sich so nahe waren. Ihr Herz klopfte so unregelmäßig und wild, dass er es einfach bemerken musste. „Ich wollte immerzu nach Hause. Aber seit diesem Tag im Wald habe ich immer weniger daran gedacht. Dass ich vor dir weggerannt bin, war der letzte klägliche Versuch, sich gegen diese Anziehung zu wehren." Betreten senkte sie ihren Blick auf seine Brust.
„Wäre meine Schwester nicht im Schloss, wäre ich ohne dich zurückgekehrt und hätte es Aram überlassen, dich her zu bringen." Erschöpft vergrub er seine Hand in ihrem Haar. „Es ist anstrengend, gegen diese Gefühle anzukämpfen."
Ria gab ihre Zurückhaltung auf und schmiegte sich an ihn. „Bedeutet das, du schlägst deine Bedenken in den Wind?"
Sie spürte, wie er leise lachte. „Ich versuche es", murmelte er schwach und schloss sie liebevoll in seine Arme. „Du machst es mir schwer."
Ihre Blicke trafen sich und Ria konnte das überwältigende Gefühl nicht länger zurückhalten. Mit Tränen in den Augen legte sie ihre Hand an seine Wange. Auch Eleasar hatte Mühe, seine Gefühle im Zaum zu halten. Unter ihrem Blick brach sein Widerstand lächerlich schnell in sich zusammen. Vorsichtig streifte er ihre leicht geöffneten Lippen mit den seinen. „Was machst du nur mit mir?"
Sie küssten sich, als stünde das Ende der Welt bevor. Wie Ertrinkende, die nach Luft schnappten. Die zarten Fäden, die ihre Seelen bereits miteinander verknüpften, verstärkten sich, formten ein festes Band. Machtlos spürte Eleasar, wie sie immer stärker zueinander fanden. Er wollte es noch immer nicht. Doch genauso wenig, wie er sie vorhin im Wald verletzen konnte, konnte er jetzt von ihr lassen.
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