Gians Mörder

Florians Miene verdunkelte sich augenblicklich. Überdeutlich spürte sie seine Angst und Abneigung. „Du bist ihm also auch verfallen? Ich glaube er mag Adele wirklich. Er ist vielleicht ein Arsch, aber bei ihm ist sie sicherer als bei ihrem Vater, der sie nach Lust und Laune grün und blau schlägt. Sie übernachtet nicht das erste Mal hier."

Das war neu für Ria. Allerdings würde Adele mit dem Dämon ihres Vaters alleine fertig werden müssen. Sie hatte nicht das Recht, sich da einzumischen. Sie hatte sowieso etwas anderes zu erledigen. „Kann ich dich im Auto mitnehmen oder wie kommst du von hier weg?"

Florian zögerte. „Ich muss noch etwas erledigen."

Mittlerweile waren sie an der Straße angekommen. Rias Wagen stand nur wenige Meter entfernt am Straßenrand. Sie verabschiedete sich von Florian und suchte betont langsam eine CD aus dem Handschuhfach heraus, bevor sie den Wagen startete. Auf einem kleinen Parkplatz an einem nahegelegenen Waldstück stellte sie ihn wieder ab. Die Jagd hatte begonnen.

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Es dauerte nicht lange, da hatte Ria Ragnarök gefunden, der sich an Florians Fährte geheftet hatte. Die beiden befanden sich auf einer Lichtung im Wald, wo Florian auf jemanden zu warten schien. Wen er wohl erwartete? Freunde? Die anderen Täter? Hatte er gemeinsam mit anderen in Arams Auftrag gehandelt? Verärgert schüttelte sie ihren Kopf. Das war zweitrangig. Jetzt musste sie sich auf den Burschen konzentrieren. Eine Weile tat sich gar nichts. Geduldig wartete sie in ihrem Versteck auf einer Astgabel und lauschte in die Umgebung. Nach einer schier endlosen Weile hörte sie Schritte, die auf die Lichtung zuhielten. Kurz darauf gesellten sich drei Mädchen zu Florian.

„Und?" Ein brünettes Mädchen, mit auf einer Seite kurzgeschorenen Haaren und jeder Menge Piercings baute sich vor dem jungen Mann auf.

Alarmiert meldete Ragna sich zu Wort. Süße, die drei waren auch an dem Übergriff auf Gian beteiligt. Während er sprach fauchte er immer wieder böse.

Ihre Spuren kommen mir auch bekannt vor. Ich bin gespannt, was die zu bereden haben.

Neugierig beobachtete sie von ihrem Versteck aus, wie die anderen beiden Mädchen mit verschränkten Armen neben ihm Position bezogen. Die Linke von denen schien geschätzte hundertzwanzig Kilo zu wiegen. Sie trug einen zerfetzten schwarzen Nicki-Anzug und hatte sich so stark überschminkt, dass Ria den Eindruck hatte, es wäre Fasching. Die Rechte war normal gebaut, quetschte durch ihre Kleidung allerdings jedes Gramm Fett, das sie von einer Magersüchtigen unterschied, durch ihre viel zu enge Kleidung nach außen. Mit solch engen Sachen hätte sie wohl besser auf das hautenge, halbe Shirt verzichten sollen, das bis kurz über ihren Sport-BH reichte. Und dazu diese Stiefel. Es hingen so viele Metallösen, Ringe und Halbkreise daran, dass es ein Wunder war, dass sie nicht sämtliche Bodenpflanzen auf ihrem Weg mitgenommen hatte.

Florian stemmte die Hände in die Hüften. Mit ängstlich-wütender Stimme polterte er: „Aram ist stinksauer. Ich dachte ihr hättet keine Spuren hinterlassen." Mit frustriertem Gesicht verschränkte er die Arme vor der Brust. „Ich hätte mich niemals bereit erklären sollen, für euch die Botengänge zu erledigen."

„Wie hätten wir ihm denn sonst das Blut besorgen können, hm?", blaffte ihn die Mittlere unfreundlich an. „Lässt er uns denn jetzt rein?"

„Der reißt euch den Kopf ab und mir gleich mit, wenn ihr noch einmal auf diesem Wege versucht, aufgenommen zu werden", fauchte Florian panisch.

„Warum das denn? Er ist doch ein Blutsauger."

„Ja, aber der Tote war auch einer", schrie der Junge nahezu verzweifelt. Augenscheinlich kannte er den Unterschied zwischen bluttrinkenden Jägern und diesen Möchtegern-Vampiren nicht. Woher auch.

Schlagartig wurden die Mädchen still. Nach einer schier endlosen Weile flüsterte eine von ihnen kaum hörbar: „Er hatte keine langen Eckzähne."

„Denkt ihr, ich denke mir das nur aus?" Florian schien kurz davor, durchzudrehen. „Ich bin nur noch am Leben, weil er mich bis morgen Abend braucht!" Eines war klar: der Junge bangte um sein Leben.

Die Mädchen fauchten ihn noch ein wenig an, doch Ria hatte genug gehört. Diese Gören hatten sich mithilfe von Gians Blut Zugang zu diesem Zirkel erhofft. Sie rückte ihre Messer in ihren Arm- und Beinschienen zurecht, bevor sie elegant auf die Lichtung sprang. Florian war der Erste, der sie bemerkte. Seine Augen weiteten sich überrascht.

„Robin."

„Hallo Florian. Lange nicht gesehen." Betont gelassen schlenderte sie auf die kleine Gruppe zu, mit jedem Schritt die Reaktionen der anderen beobachtend. Niemand schien sie als Gefahr zu erkennen. Dumm. „Brauchst du Hilfe? Sieht so aus, als hättest du Probleme."

Gequält lächelte er sie an. In seinen Augen stand ein leicht gehetzter Ausdruck. Sie konnte sich nur allzu gut vorstellen, in was für einer Zwickmühle er steckte. Und dabei hatte er das ganze Ausmaß seines Schlamassels noch gar nicht erfassen können. Armer Tropf. „Du bist Adeles Freundin, deshalb sollte dir nichts geschehen. Also verschwinde lieber von hier." Ein wenig panisch wedelte er mit den Händen. Wohl um zu verdeutlichen, dass sie verschwinden sollte.

„Das kann ich aber nicht", entgegnete sie trocken. Er tat ihr schon irgendwie leid. Aber auch Mitleid hatte seine Grenzen. Er war am Tatort gewesen. Wenngleich er derjenige war, der sich nicht sonderlich wohl dabei gefühlt hatte, änderte es nichts an der Tatsache, dass er dabei gewesen war.

Florian setzte gerade an, ihr zu widersprechen, da ließ Ria ihre freundliche Maske fallen. Anstelle einer höflich-reservierten Miene trug sie ihre Abneigung nun offen zur Schau. Sie war nicht in der Stimmung, lange Katz und Maus zu spielen. Seit sie Aram begegnet war, wollte sie Blut sehen. Und hier bot sich nun die ideale Gelegenheit. Diese nervtötenden, unwissenden Jugendlichen gehörten ihr. Als mehr als nur Unverständnis auf den Gesichtern der anderen abzulesen war, rang sie sich eine knappe Erklärung ab. „Ich brauche keinen Schutz. Der Tote war einer meine Leute." Eines der Mädchen - die Schnallen-Lady - schrieb mit ihrem Zeigefinger neben ihrer Schläfe Kreise in die Luft. Ein eindeutiges Zeichen, dass sie Ria für verrückt hielt. Ein Fehler. Egal wie verrückt sein Gegenüber wirkte, man sollte ihn oder sie nicht unterschätzen. „Bluttrinker müssen keine Reißzähne haben", fügte sie abschätzig in Richtung der Mädchen hinzu. Dann, ein wenig freundlicher, wandte sie sich wieder an Florian. „Auf jeden Fall habt ihr alle eine mehr als eindeutige Spur hinterlassen."

„Du bist ein Mensch." Herablassend spukte ihr das beleibte Mädchen vor die Füße. „Was willst du uns schon können? Wenn wir mit dir fertig sind, kannst du nicht einmal mehr um dein Leben betteln."

Mäßig amüsiert hob Ria eine Augenbraue an. „Willst du es versuchen, Specki?" In Erwartung eines in Kürze stattfindenden Kampfes schüttete ihr Körper zusätzliches Adrenalin aus. Wie sehr sie doch hoffte, dass Pummelchen sich nicht im Griff hatte.

Sehr zu ihrer Genugtuung sprang das Mädchen sofort drauf an. Sie stürmte auf Ria los, hielt aber kurz vor ihr inne. Enttäuschend. Zu gerne hätte sie sie aus vollem Lauf auf den Boden befördert. Eine der für sie so faszinierenden Vorteile ihres Lieblingskampfsportes war, dass man als schwächere, kleinere und leichtere Person problemlos mit größeren, stärkeren und schwereren Gegnern fertig werden konnte. Und das sogar ohne großen Aufwand. „Was ist mit deinen Augen, du Freak?"

Empört stemmte Ria die Hände in die Seiten. Was sollte das denn bitte? Freak. Von wegen. „Was erwartest du?", spuckte sie der Anderen verächtlich entgegen. „Ich bin kein Mensch." Ihre hellbraunen Augen glühten im dämmrigen Licht so stark, dass sie geradezu orange wirkten.

„Du bist aber auch kein Vampir!" Sie zückte ein eher kümmerlich wirkendes Taschenmesser, das sie zitternd zwischen sich und Ria hielt.

„Nein", antwortete diese abfällig. „Ich muss kein Blut saugen. Wäre auch ziemlich krank, findet ihr nicht auch? Darf ich dir einen Tipp geben?", fuhr sie fort, als sie keine Antwort erhielt. „Du solltest das Messer wegstecken. Damit habe ich dich schneller umgebracht, als du die Finger davon lösen kannst."

Anstatt ihren Rat zu befolgen, stürzte das voluminöse Mädchen sich auf sie. Ria machte sich einen Spaß daraus, immer im letzten Moment auszuweichen. Sie brauchte nicht einmal anzugreifen. Viel zu schnell war ihre Gegnerin außer Atem. Erbärmlich. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, wie die beiden anderen sich nun ebenfalls auf sie stürzten. Kurzerhand brach sie der fast Hyperventilierenden vor sich das Genick und wandte sich den anderen beiden zu. Zwar wäre sie auch mit allen dreien fertig geworden, doch hatte Specki schon angefangen, sie zu langweilen. Das hier waren keine schönen Kämpfe. Warum konnte nicht einmal jemand auftauchen, der ihr ebenbürtig war? Manchmal war es regelrecht ermüdend, immer nur gegen Schwächere zu kämpfen. Einzig und allein Aleix war ihr noch eine Herausforderung. Entweder kannte sie die Kampfstile der anderen bereits zu gut oder sie konnten ihr ohnehin nicht das Wasser reichen. Vielleicht sollte sie in den Ferien wieder einmal nach Japan reisen, um dort bei einem der Meister zu trainieren. In der Hoffnung, dort jemanden zu finden, der ihr das Wasser reichen konnte. Ihr war durchaus bewusst, dass sie nicht die Beste in dieser Kampfsportart war. Doch war es nicht gerade leicht noch jemanden zu finden, der sie übertreffen konnte. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem melancholischen Lächeln, als sie an die Anfangszeit ihrer Aikido-Ausbildung dachte. Damals war es schwer gewesen, sie aus der Sporthalle zu entfernen. Wie besessen hatte sie trainiert, um es schnellstmöglich mit stärkeren Gegnern aufnehmen zu können. Ein Ehrgeiz, für den Kemal zu keinem Zeitpunkt Verständnis hatte aufbringen können.

Anscheinend hatte das hässliche Knacken des brechenden Genicks ihrer Kollegin die beiden anderen demoralisiert. Seufzend schlug sie die anderen bewusstlos. Was für eine klägliche Truppe. Und denen sollte Gian zum Opfer gefallen sein? Damit wurde er in ihren Augen zum Paradebeispiel eines Schande über seine Art bringenden Jägers.

„Welche Rolle hast du bei dem Mord und dem Blutraub gespielt?" Beiläufig deutete sie mit einem ihrer Messer auf Florian.

„Ich sollte nur das Blut abholen und es Aram bringen." Seine Stimme war vor Angst um einige Intervalle nach oben geklettert.

Prüfend musterte sie den verängstigten Jungen. Er schien die Wahrheit zu sagen. Nichts an ihm verströmte das Gefühl einer Lüge. Er war ein Bekannter von Adele. Sie konnte sich schon den Kummer im Gesicht ihrer Freundin vorstellen, wenn diese von Florians Tod erfuhr. Sich innerlich für ihr Mitgefühl verfluchend fuhr sie ihn an: „Wenn du Adele auch nur ein Wort über meine Identität verrätst, finde ich dich und schlitze dich auf. Verschwinde."

Sie beachtete ihn nicht weiter, als er panisch in den Wald floh. Seelenruhig setzte sie sich im Schneidersitz neben die beiden Bewusstlosen. Es würde dauern, bis sie aufwachten.

Es war bereits stockduster, als eine von ihnen das Bewusstsein wiedererlangte. Es war das Mädchen mit der nicht gerade kunstvollen Halbglatze. Mit ihrem bösesten und frostigsten Lächeln wandte sie sich an die soeben Erwachende. Irgendwo in der Ferne rief ein Uhu in die Nacht. „Oh, Dornröschen. Ich habe ein paar Fragen."

Das Mädchen wimmerte verängstigt.

Ria verdrehte die Augen. „Sei nicht albern, okay? Du warst vorhin doch auch so hart drauf." Geradezu beiläufig ließ sie eine Klinge aufblitzen. Ja, Mondlicht war für manche Spezialeffekte wirklich Gold wert.

Anstandslos wurde ihr jede Frage beantwortet. Ria war froh, dass das Mädchen kooperierte. So gerne sie auch Blut gesehen hätte, während des Wartens hatte sich ihre Blutlust verflüchtigt.

Wie es aussah steckte keine höhere Gewalt hinter der Aktion, die Gian das Leben gekostet hatte.

Am liebsten hätte Ria Gian nachträglich noch einmal in den Hintern getreten, als sie erfuhr, dass die mit den Metallstiefeln ihm schöne Augen und damit unaufmerksam gemacht hatte. Wer so einen dummen Fehler beging, war selbst schuld. Ihre sadistische Ader meldete sich schon wieder. Krampfhaft kämpfte sie den Drang zurück. Sie musste niemanden einschüchtern oder gar foltern. Dann würde sie zu dem grausamen Monster werden, das sie nicht sein wollte. Nie wieder. Sie ersparte den beiden noch lebenden Mädchen einen schmerzhaften Tod und beschränkte sich darauf, den beiden das Genick zu brechen. Kurz und schmerzlos. Anschließend machte sie sich auf den Rückweg. Noch während des Laufens zog sie ihre Handschuhe aus. Es war eine alte Angewohnheit, nie ohne Handschuhe zu morden. Aus provisorischen Gründen trug sie immer welche mit sich herum. Sie konnte ja nie wissen, wann jemand versuchte, sie zu überfallen. Obwohl sie in diesem Falle auch auf ihre geliebten Handschuhe verzichten würde. Irritiert schüttelte sie ihren Kopf und wandte ihre Gedanken wieder den drei toten Mädchen zu. Sie brauchte sich nicht die Mühe zu machen, die Leichen zu verstecken. Sie konnten sie eh nicht zu ihr zurückverfolgen.

Es kommt mir komisch vor, dass das alles gewesen sein soll, raunte sie ihrem Geistgefährten skeptisch zu.

Vielleicht ist es zur Abwechslung mal so einfach.

Ria wollte es gerne glauben, hielt es jedoch für unwahrscheinlich, dass es das gewesen sein sollte. Vielleicht reagierte sie auch einfach über. Schließlich hatte sie auch nichts Tiefergreifendes hinter der Ninja-Aktion erwartet. Und letztendlich hatte dieses Vorkommnis zum Zusammenbruch ihrer bisherigen Welt geführt. Machte sie das jetzt zu einer paranoiden Persönlichkeit? Oder konnte man es irgendeiner posttraumatischen Belastungsstörung zuschreiben? Wahrscheinlich war sie einfach nur paranoid.

Kaum hatte sie die Lichtung verlassen, kehrte ihre Sorge um Adele zurück. Wenn sie Florian Glauben schenkte, lag sie dieser unheimlichen Kreatur am Herzen. Es fiel ihr verdammt schwer, darauf zu vertrauen. Der Kerl hatte ihre Freundin mit den Augen ausgezogen, noch bevor er sie gerufen hatte. Es war offensichtlich, was er für Ziele verfolgte. Und das bei Adele, der Unschuld in Person.

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