Fremdes Terrain

Eine Stunde später hatte sie noch immer kein geeignetes Fenster gefunden. Mittlerweile brannte ihre Kehle vor Durst, doch weder Bad noch Küche waren ihr bislang untergekommen.

„Ich bin enttäuscht."

Ria hatte nicht mehr die Kraft, herumzufahren. Dieses Schloss kostete sie unendlich viel Kraft.

„Ich dachte, du würdest alles dran setzen zu fliehen." Marjans weiße Hand kam in ihr Blickfeld - er hielt ihr ein Glas Wasser hin. „Eleasar Cainneach. Merk dir diesen Namen."

Ausgehungert und durstig wie sie war, nahm sie ohne Widerspruch alles an, was er ihr hinhielt.

Scharf musterte Marjan die junge Jägerin. Sie war viel zu jung. Dennoch änderte das nichts an den Tatsachen. „Du musst auftanken. Salome begleitet dich zu den Menschen." Nachdem er sich sicher war, dass Ria genug Nahrung zu sich genommen hatte, verschwand er und schickte Salome, eine geschaffene Jägerin, zu ihr. „Sie müssen die Verlobte meines jungen Herrn sein", grüßte diese freundlich.

Ria schenkte ihr einen verächtlichen Blick. „Gefangene dieses Verrückten trifft es wohl eher."

Salome zuckte empört zusammen. „Seine Majestät ist ein guter Herrscher. Kommen Sie."

Seufzend folgte Ria der anderen Jägerin. „Wann wurden Sie geschaffen?"

Verwundert drehte Salome sich zu ihr um. „Wie kommen Sie darauf?"

Hatte Ria vorhin noch nach einem Kanal für ihre Wut gesucht, so hatte sie in Salome ihr Opfer gefunden. Abschätzig deutete sie auf die Figur der anderen. „Sie stinken. Nach Blut."

Salome explodierte geradezu. Nicht nur, dass es Ria befriedigte, sie zu reizen, es brachte ihr auch einen Teil ihrer Energie zurück. Die Geschaffene war noch immer außer sich, als sie Ria nach draußen führte. Eine Kutsche sollte sie in ein Menschendorf fahren. Ria hatte keine Zeit, sich über die mittelalterlich anmutende Umgebung zu sorgen, die durchaus mehrere Blicke wert war. Sie hatte nämlich einen kleinen Fluss ausfindig gemacht, dessen Brücke ihre Kutsche überqueren musste. Das war ihre Chance. Mit einer gezielten Bemerkung lenkte sie Salome ab. Während diese dabei war, sich über Rias Unhöflichkeit zu entrüsten, kletterte Ria so schnell sie konnte aus dem Kutscheninneren und sprang ans Ufer des kleinen Flusses.

Mit klopfendem Herzen versteckte sie sich unter der Brücke, bis die Kutsche außer Sicht war. Dann rannte sie so schnell sie konnte auf den Wald zu. Im Schloss musste jemand ihre Flucht bemerkt haben, denn sie konnte Stimmengewirr hören, sowie das Geräusch eines hektisch aufgestoßenen Tores.

Kopflos rannte sie immer weiter in den Wald hinein. Hoffentlich gab es hier mehrere Wege, die man einschlagen konnte. Das würde ihre Chance zu entkommen erheblich erhöhen. Über ihr fauchte es plötzlich. Ein Schatten stürzte sich von oben auf sie.

Es gelang ihr gerade noch rechtzeitig auszuweichen. Das Tier, dem sie sich gegenüber sah, erinnerte an einen durchgedrehten Rottweiler mit viel zu langen Zähnen und T-Rex-Krallen. Mit gefährlich scharfen Klauen hieb es nach Ria, die noch versuchte, ihren Gegner einzuschätzen. Mit diesen Klauen konnte er auf jeden Fall klettern. Sonst hätte er sie auch nicht aus den Bäumen angreifen können. Ein Kontakt mit Maul und Krallen war definitiv zu vermeiden. Der Speichel, der dem offensichtlich tollwütigen Tier aus dem Mund troff wirkte keinesfalls gesund.

Ria. Ragnas alarmierter Ton lenkte sie kurz ab. Das nutzte das Biest aus, um erneut nach ihr zu schlagen. Diesmal erwischte es sie am Oberarm. Mit schmerzverzerrter Miene sprang Ria außer Reichweite dieser tödlichen Waffen.

Ria, wir sind in Anderswelt. Ruf mich. Verwundert, aber zugleich noch auf der Hut vor den Angriffen dieses Dings ließ sie zu, dass ihr Drache sich materialisierte. Welche Waffe hast du am liebsten?

Vor Rias Augen tauchte ihr geliebtes Katana auf. Kurz darauf hielt sie eine rauchige Version davon in der Hand. Sie zögerte nicht, es einzusetzen, als das Biest sich wiederholt auf sie stürzte.

Wie hast du das gemacht? Verwundert starrte Ria auf ihr Rauchschwert, das sich nun langsam auflöste.

Das kann ich nur, weil wir hier in Anderswelt sind. Wann immer du eine Waffe brauchst und mich rufst, nehme ich die von dir gewünschte Form an.

Kopfschüttelnd trat sie gegen den reglosen Leib des Ungetüms. Anscheinend ist es tot. Kannst du hier noch andere Dinge, von denen ich wissen sollte?

Ich informiere dich, sobald ich es merke. Ich erinnere mich kaum noch an diese Welt.

Hinter ihr kündigten die Geräusche vereinzelt knackender Ästen ihre Verfolger an. Hektisch floh sie tiefer in den Wald. An einem alten, dicken Stamm kletterte sie blitzschnell empor, um sich im üppigen Grün des Baumes zu verstecken. Mit angehaltenem Atem harrte sie dort aus, bis sie eine Weile niemanden mehr kommen hörte und auch keine kältere Zone spürte. Angespannt atmete sie aus. Du Ragna, ich habe nachgedacht. Die Vampire in dem Saal waren alle unterschiedlich leblos. Wenn das an dem Energiegehalt des Blutes, das sie in ihren Adern haben liegt, habe ich eine Idee. Ich kann doch bei allem, was Blut in den Adern fließen hat, die Energie der Emotionen spüren und sie in mich aufnehmen. Wenn die Vampire Blut trinken, um dadurch an Energie zu kommen, sollte ich die für mich zugängliche Energie doch auch in mich aufnehmen können oder was meinst du?

Vor ihrem geistigen Auge schüttelte ihr Schattendrache ratlos seinen Kopf. Und was willst du dann? Du hast doch gemerkt, wie sie dich auszehren.

Was passiert mit Vampiren, wenn sie die Energie in dem Blut nicht mehr nutzen können und keinen sofortigen Nachschub kriegen?

Abermals schüttelte er seinen schweren Kopf. Finde es heraus. Ich glaube, da kommt ein Teil des Trupps zurück. Sei aber darauf vorbereitet, dass es nicht klappt. Du hast doch noch nie gezielt nach dieser Energie gefischt.

Tatsächlich kam ein Teil der Leute, die gerade an ihrem Versteck vorbeigelaufen waren, wieder zurück und schlug einen anderen Weg ein.

Kannst du mich verschleiern? Ich muss hier weg, ohne dass die gleich auf mich aufmerksam werden. Ich werde meine Theorie einfach ein anderes Mal überprüfen.

Mit Ragnaröks Hilfe gelang es ihr unbemerkt vom Baum herunter zu klettern und in eine dritte Richtung davon zu eilen. Atemlos lehnte sie sich an einen breiten Baumstamm. Ihre lädierte Rippe hatte sich wieder gemeldet. Oh man, wie groß ist dieser verfluchte Wald hier denn noch?

Ich könnte gucken gehen, aber dann besteht die Gefahr, dass wir entdeckt werden.

Da musste sie ihm zustimmen. Hilfesuchend sah sie nach oben. Ob sie wohl in die Baumkronen klettern und von dort aus etwas sehen konnte? Einen Versuch war es wenigstens wert.

Abschätzend musterte sie den Stamm und nahm schließlich Anlauf. Es waren keine Äste in greifbarer Nähe. Fest entschlossen rannte sie auf den Stamm zu. Sie schaffte genau zwei Schritte auf dem Holz, bevor die Schwerkraft sich zurückmeldete. Ihre Finger verpassten den Ast um Haaresbreite. Fluchend zerriss sie das Kleid soweit, dass sie quasi ein Top mit sehr kurzem Rock trug. Sie wusste schon, warum sie mit Mode auf dem Kriegsfuß stand. Vor allem mit Damenmode. Diese schweren Stoffe waren über die Maße hinderlich.

Finster pustete sie ihr Haar aus dem Gesicht. Das musste auch weg. Ohne lange zu fackeln riss sie eine dünne Bahn vom Kleiderrock ab und band sich damit die Haare zusammen. Ein Zopfgummi wäre ihr zwar wesentlich lieber, aber fürs Erste musste sie wohl mit diesem Kompromiss vorlieb nehmen.

Du bist verwöhnt, zog Ragnarök sie belustigt auf.

Nicht verwöhnt, nur um mein Image besorgt, gab sie fauchend zurück. Ich sehe noch aus wie so ein Prinzesschen.

Momentan siehst du aus wie Aschenputtel mit einer halbwegs niedlichen Schleife im Haar.

Genervt schüttelte sie ihren Kopf. Du kannst mich mal.

Ich schau mich nach Feinden um, schwing deinen Hintern schon hoch.

Düster starrte sie den dicken und ungewöhnlich glatten Stamm an, nahm zwei Schritte Anlauf ... und schaffte es wieder nicht. Wenn es direkt neben dem großen Baum nur andere stabile Äste gäbe... Frustriert stieß sie ihren angehaltenen Atem aus. Okay, sagte sie sich, du schaffst das. Du kannst das.

Beim vierten Versuch bekam sie endlich den untersten Ast zu fassen. Mit rutschigen Händen hievte sie sich hoch. Diese Rinde war wirklich ungewöhnlich glatt. Noch nie zuvor war ihr ein solcher Baum unter die Augen gekommen. Aber was wusste sie schon von Bäumen? Viel gereist war sie schließlich nie.

In die Baumwipfel zu gelangen, stellte sich als echte Herausforderung dar. Mehrfach war sie kurz davor abzurutschen und zu Boden zu stürzen. Ihre Rippe hätte das wohl nicht überlebt. Schwer atmend strich sie sich den Schweiß aus dem Gesicht. Nicht nur, dass die Rinde so glatt war, nein, der Baum musste ja auch noch gefühlte fünfzig Meter hoch sein. Zu ihrer Erleichterung konnte sie von hier aus tatsächlich den Rand des Waldes erkennen. Und auch die Burg, die auf einer kleinen Anhöhe lag. Ideal, um sie zu verteidigen. Auf der anderen Seite des Waldes konnte sie einen Fluss ausmachen. Damit war ihr Ziel geritzt. Sie musste nur dem Lauf folgen, dann würde sie früher oder später auf ein Dorf oder eine Stadt stoßen, wo man ihr weiterhelfen konnte.

Der Abstieg war nicht einfacher als der Weg nach oben. Mehrmals wäre sie beinahe ausgerutscht. Eine dermaßen harte Landung hätte den einen oder anderen Bruch mit sich gebracht. Eine Behinderung, die sie in ihrer aktuellen Lage nicht gebrauchen konnte. Sie heilte zwar schneller als Menschen, dennoch brauchte ein Bruch mindestens zwei Monate. So viel besser heilte ihr Körper also gar nicht. Für ihren Geschmack zumindest.

Wieder unten auf dem Boden angekommen schlängelte sich eine kleine, geflügelte Echse an ihr hoch. Leicht angeekelt zog sie das Tier mit zwei Fingern von ihrer Wange. Sie wollte es gerade auf den Baumstamm setzen, da fauchte es leise. Ria folgte dessen Blickrichtung und vergessen war das merkwürdige Tier. Jetzt zählte nur noch die Flucht vor den nahenden Soldaten.

Während sie im halsbrecherischen Tempo durch den Wald jagte - ihre Verfolger dicht auf den Fersen - spürte sie, wie diese suspekte Echse sich in ihrem Nacken festsetzte. Ein Schauder lief ihren Rücken hinab. Dennoch blieb ihr keine Zeit, das dunkelgrüne, fast schwarze Tier loszuwerden. Wo nur blieb Ragna? Sie hatten ihn doch wohl nicht geschnappt? Blödsinn, rief sie sich in Erinnerung, er konnte sich unsichtbar machen. Dematerialisieren und Materialisieren waren Fähigkeiten, die die Gefährten von Jägern nach der Bindung erlangten. So jedenfalls hatte man es ihr gesagt. Aber wirkte das auch auf Distanz?

Ria war so sehr mit ihrer Sorge um Ragnarök beschäftigt, dass sie den Feind, der sich ihr von vorne näherte erst bemerkte, als die kleine Echse einen erstickten Laut von sich gab und mit großen Glubschaugen nach vorne starrte.

Instinktiv schmiss sie sich auf den Boden, nutze eine Rolle, um geschickt wieder auf die Beine zu kommen und hetzte weiter. Sollten ihre Verfolger sich mit diesem übergroßen Raben mit Reißzähnen auseinandersetzen. Die anderswelt'sche Fauna hinterließ keinen besonders guten Eindruck bei ihr. Entweder wurde man von monströsen Hunden und Vögeln angegriffen oder so komische Glubsch-Echsen klammerten sich besonders hartnäckig an einem fest.

In der Absicht, ihren Schwung zu nutzen, griff sie nach einem Ast und riss sich herum. Was sie nicht bedacht hatte, war die glatte Rinde des Astes. Mit ihren Fingern fand sie keinen Halt, rutschte ab und wurde in kratziges Gestrüpp geschleudert. Die feinen Schnitte in ihrer Haut begannen sogleich zu brennen und sogar eine Art Eiter abzusondern. Panisch versuchte sie das Sekret zu entfernen. Immer, wenn sie eine Stelle frei hatte, bildete sich sofort eine neue schmerzempfindlichere Schicht. Ihre Haut war von ihrem manischen Kratzen gerötet, als man sie aus dem Gestrüpp befreite.

Unfreundliche Männerhände schlossen sich um ihre wunden Oberarme und zerrten sie unbarmherzig hervor. „Du hast uns ganz schön auf Trapp gehalten, Kleine."

Angewidert ließ der Soldat sie los, wobei er sie in die Arme eines anderen stieß. „Nimm sie und bring sie zum Boss."

Trotz der schmerzenden Schnitte, die mit jeder Berührung empfindlicher zu werden schienen, versuchte Ria krampfhaft, sich zu befreien. Bei ihrem erfolgreichsten Versuch schaffte sie es, drei von fünf Leuten auszuknocken, bevor sie mit gefesselten Armen und Beinen auf der Schulter des Anführers landete, der keinen Hehl daraus machte, wie sehr er sich über ihre Wunden ekelte.

Als das Schloss in Sichtweite kam, wurde ihr schmerzhaft bewusst, dass sie keine Chance hatte, zu entkommen. Ein letztes Mal versuchte sie aufzubegehren, trat mit ihren zusammengebundenen Füßen nach dem Grobian, der sie trug. Der Mann lachte rau und verband ihr mit barbarischem Grinsen die Augen.

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